Leitsatz (amtlich)

›Die Erfüllung des Tatbestandes der Geiselnahme scheitert nicht daran, daß die vom Täter hauptsächlich erstrebte Handlung des Tatopfers erst nach Beendigung der Entführungs- oder Bemächtigungslage erfolgen soll, wenn bereits während der Zwangssituation eine Handlung abgenötigt wird, die aus der Sicht des Täters gegenüber dem erstrebten Endzweck selbständige Bedeutung hat.‹

 

Verfahrensgang

LG Augsburg

 

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Geiselnahme in Tateinheit mit unerlaubter Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Kriegswaffe und in Tateinheit mit Führen einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf eine Verfahrensrüge und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

Die Verfahrensrüge ist unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Die Sachrüge greift im Ergebnis gleichfalls nicht durch. Der Erörterung bedarf nur die Frage, ob das Landgericht § 239 b Abs. 1 StGB zu Recht angewendet hat.

Nach den Feststellungen leidet der Angeklagte unter einer "hirnorganischen Wesensveränderung"; seine Schuldfähigkeit war daher zur Tatzeit erheblich vermindert. Er hatte Schwierigkeiten mit verschiedenen Behörden und wollte, daß das ihm aus früheren Strafverfahren bekannte Tatopfer, ein Vorsitzender Richter am Landgericht Augsburg, sich für ihn einsetzte. Er zwang das Opfer in dessen Dienstzimmer nach Überwindung anfänglichen Widerstandes durch Vorhalten einer geladenen Selbstladepistole und einer scharfen Handgranate dazu, seine an die Behörden gerichteten Forderungen aufzuschreiben und zu versichern, daß er sich für deren Durchsetzung einsetzen werde. Der Angeklagte hatte die Vorstellung, das Tatopfer werde sich in seiner Eigenschaft als Angehöriger einer alten Adelsfamilie und als Richter an sein Ehrenwort gebunden fühlen. Daher erklärte er dessen ausdrückliches Versprechen für ausreichend und verlangte von seinem Opfer während der Bemächtigungslage keine weiteren Handlungen.

Bei dieser Sachlage ist der Schuldspruch wegen Geiselnahme rechtlich nicht zu beanstanden (§ 239 b Abs. 1 StGB).

Der Angeklagte hat sich des Opfers bemächtigt. Seine nach und nach gesteigerten, gegen das Leben des Opfers gerichteten Drohungen mit zwei Waffen hatten eine "stabilisierte" Bemächtigungslage geschaffen (BGHSt 40, 350, 359; BGH StV 1996, 266; NStZ-RR 1996, 141 f.). Auch eine qualifizierte Drohung im Sinne des § 239 b Abs. 1 StGB hat vorgelegen. Der Angeklagte wollte die Bemächtigungslage und seine Drohung mit dem Tod des Opfers auch dazu nutzen, das Opfer zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind die §§ 239 a, 239 b StGB einschränkend auszulegen (BGH, Beschl. vom 28. November 1995 - 4 StR 641/95 - BGHR StGB § 239 a Abs. 1 Sichbemächtigen 5; Urt. vom 7. März 1996 - 1 StR 688/95 - BGHR StGB § 239 a Abs. 1 Erpressung 1; Beschl. vom 14. Mai 1996 - 4 StR 174/96; Beschl. vom 2. Oktober 1996 - 3 StR 378/96). Zwischen der Entführung oder dem Sich-Bemächtigen einerseits und der beabsichtigten räuberischen Erpressung oder Nötigung durch qualifizierte Drohung andererseits muß danach ein funktionaler Zusammenhang derart bestehen, daß der Täter dem Opfer noch während der Dauer der Entführung oder Bemächtigung eine Handlung, Duldung oder Unterlassung abpressen will. Dies ist in der besonderen Lage des vorliegenden Falles anzunehmen, obwohl der Angeklagte während der Bemächtigungslage durch seine qualifizierten Drohungen nur ein Zwischenziel angestrebt (und erreicht) hat.

Nötigungserfolg ist diejenige Handlung, Duldung oder Unterlassung des Opfers, die der Täter erreichen will (vgl. K. Schäfer in LK 10. Aufl. § 240 Rdn. 58). Eine vollendete Nötigung liegt bereits dann vor, wenn der Täter mehrere Verhaltensweisen des Opfers erstrebt, aber nur eine davon realisiert wird (BGH bei Dallinger MDR 1972, 386 f.). Auch das Erreichen eines Teilerfolges des Täters, der mit Blick auf ein weitergehendes Ziel jedenfalls vorbereitend wirkt, kann für eine Nötigung (§ 240 Abs. 1 StGB) ausreichend sein (Horn in SK StGB § 240 Rdn. 5). Ebenso kann eine beliebige Handlung, Duldung oder Unterlassung einen Nötigungserfolg im Sinne des § 239 b StGB darstellen (BGH, Beschl. vom 2. Oktober 1996 - 3 StR 378/96). Jedenfalls solche Handlungen des Opfers, die eine nach der Vorstellung des Täters eigenständig bedeutsame Vorstufe des gewollten Enderfolgs darstellen, führen zur Vollendung der mit der qualifizierten Drohung erstrebten Nötigung (vgl. auch zum Teilerfolg der sexuellen Nötigung BGH NStZ 1996, 31, 32). Ein solches Ziel hat der Angeklagte bereits während der Bemächtigungssituation erreichen wollen (und erreicht). Nach seiner Vorstellung war das in der Bemächtigungslage abgenötigte Ehrenwort des Tatopfers, sich für die Erfüllung der unter dem Einfluß seiner Drohungen mit den beiden Waffen auch schriftlich festgehaltenen Forderungen künftig einzusetzen, verbindlich. Er hat damit einen aus seiner Sicht selbständig bedeutsamen Teilerfolg erreicht. Darin unterscheidet sich der vorliegende Fall von demjenigen, über den der 4. Strafsenat in seinem Beschluß vom 14. Mai 1996 - 4 StR 174/96 - zu entscheiden hatte.

Es ist unter Berücksichtigung des Willens des Gesetzgebers, zur Bekämpfung schwerwiegender Gewaltandrohungen die Strafbarkeit auf Zwei-Personen-Verhältnisse auszudehnen (BTDrucks. 11/2834), nicht geboten, § 239 b StGB weiter dahin einzuschränken, daß die vollständige Erfüllung des Zieles des Täters bereits während der Bemächtigungslage verlangt wird. Auch wenn dieser die Beendigung der für das Opfer besonders bedrohlichen (Entführungs- oder Bemächtigungs-)Lage nur von der Verwirklichung eines Teils seiner Pläne abhängig macht, liegt eine Gefahrenlage für das Opfer vor, die § 239 b Abs. 1 StGB mit hoher Strafe bedroht. Die Geiselnahme unterscheidet sich vom erpresserischen Menschenraub durch ein größeres Gewicht der qualifizierten Nötigungshandlung. Daher kann der angestrebte Nötigungserfolg im Sinne des § 239 b StGB gegenüber demjenigen des § 239 a StGB von geringerem Unrechtsgehalt sein und dennoch einen gleich hohen Strafrahmen rechtfertigen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2993452

NJW 1997, 1081

NJW 1997, 1082

JR 1998, 125

JuS 1997, 757

StV 1997, 304

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge