Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirksamkeit einer Ersatzzustellung an den nichtehelichen Lebenspartner
Leitsatz (amtlich)
Eine Ersatzzustellung an den nichtehelichen Lebensgefährten des Zustellungsempfängers ist wirksam, wenn der Adressat nicht nur mit seinem Lebensgefährten, sondern mit einer Familie zusammenlebt (offengelassen in BGHSt 34, 250 und BFH NJW 1982, 2895).
Normenkette
ZPO § 181 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Offenburg |
OLG Karlsruhe |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe – 14. Zivilsenat in Freiburg – vom 26. Mai 1989 wird auf Kosten des Beklagten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit der Zustellung eines Vollstreckungsbescheides. Die Klägerin macht aus abgetretenem Recht einen Anspruch aufgrund eines Schuldanerkenntnisses geltend, durch das der Beklagte nach ihrer Darstellung Kaufpreisforderungen für Warenlieferungen der Zedentin bestätigt hat. Der Beklagte bestreitet sowohl die Warenlieferungen als auch die Echtheit seines Namenszuges unter dem Schuldanerkenntnis.
Die Klägerin erwirkte gegen den Beklagten zunächst einen Mahnbescheid und anschließend einen Vollstreckungsbescheid über 8.217,33 DM nebst Zinsen und Kosten. Der Vollstreckungsbescheid wurde am 29. November 1984 in der Wohnung des Beklagten an seine damalige Lebensgefährtin, Frau T., übergeben.
Der Beklagte hatte sich im Jahr 1982 von seiner ersten Ehefrau getrennt und lebte seitdem mit Frau T. und deren minderjährigen Kindern zusammen. Im Dezember 1983 bezog er mit Frau T. und ihren Kindern die Wohnung, in der die umstrittene Zustellung stattfand. Dort führte Frau T. – die der Beklagte zwischenzeitlich geheiratet hat – den gemeinsamen Haushalt, für dessen finanzielle Bedürfnisse der berufstätige Beklagte sorgte.
Der Beklagte hat gegen den Vollstreckungsbescheid, von dessen Existenz er erst aufgrund einer Lohnpfändung erfahren haben will, am 21. Juli 1986 Einspruch eingelegt und in dem anschließenden Verfahren beantragt,
den Vollstreckungsbescheid aufzuheben und die Klage abzuweisen. Gegen die Wirksamkeit der Zustellung hat er eingewandt, zum Zustellungszeitpunkt habe zwischen Frau T. und ihm noch keine gefestigte Lebensgemeinschaft bestanden, denn er habe „jederzeit wieder gehen können”.
Die Klägerin hat beantragt,
den Einspruch als unzulässig zu verwerfen.
Das Landgericht hat dem Antrag der Klägerin entsprochen. Die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten blieb erfolglos. Mit seiner – zugelassenen – Revision erstrebt der Beklagte weiterhin die Aufhebung des Vollstreckungsbescheides und die Abweisung der Klage.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat keinen Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Das Landgericht habe den Einspruch des Beklagten zu Recht als verspätet angesehen, denn die Ersatzzustellung des Vollstreckungsbescheides sei wirksam gewesen. Zwar könne § 181 Abs. 1 ZPO nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte nicht unmittelbar auf den nichtehelichen Lebensgefährten des Zustellungsadressaten angewandt werden. Eine erweiternde Auslegung dieser Vorschrift sei jedoch in dem Sinne gerechtfertigt, daß auf die tatsächliche Zugehörigkeit der die Zustellung in Empfang nehmenden Person zu einem Familienverband abgestellt werde. Bei einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft sei eine hinreichende Sicherheit für die zuverlässige Weiterleitung des zugestellten Schriftstücks ebenso zu vermuten wie innerhalb einer Familie im Rechtssinne oder wie bei einer in der Familie dienenden Person und bei dem im selben Hause wohnenden Vermieter. Zwar habe der Bundesgerichtshof gegen eine solche erweiternde Auslegung eingewandt, objektive und äußerlich erkennbare Kriterien dafür, ob jemand Lebensgefährte des Zustellungsadressaten sei, seien nicht vorhanden. Das treffe jedoch in den – vom Bundesgerichtshof ausdrücklich offengelassenen – Fällen nicht zu, in denen der Zustellungsadressat mit einer Familie zusammenlebe. Hier ergäben sich für die Zustellungsperson keine größeren Beurteilungsprobleme als bei der Feststellung, ob ein Verwandter, der nicht zu den engeren Familienmitgliedern zähle, als ein zur Familie gehörender Hausgenosse im Sinne des § 181 Abs. 1 ZPO anzusehen sei. Vorliegend habe der Beklagte zum Zeitpunkt der Zustellung schon seit etwa zwei Jahren mit Frau T. und deren Kindern zusammengewohnt. Das sei kein kurzfristiges Zusammenleben, sondern eine eheähnliche Lebensgemeinschaft.
Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung stand.
II.
1. Die Rechtzeitigkeit des Einspruchs und damit der Erfolg der Revision hängen allein davon ab, ob eine an den nichtehelichen Lebensgefährten des Adressaten bewirkte Zustellung den Voraussetzungen des § 181 Abs. 1 ZPO genügt. In Rechtsprechung und Literatur wird diese Frage unterschiedlich beantwortet. Während sie der überwiegende Teil des Schrifttums bejaht, vertritt die in der Rechtsprechung herrschende Meinung die gegenteilige Auffassung (vgl. die Nachweise in BGHSt 34, 250 = NJW 1987, 1562 unter 3 a; vgl. ferner – sämtlich bejahend – OVG Hamburg, NJW 1988, 1807; ZPO-AK/Göring § 181 Rdnr. 6; David DVGZ 1988, 162; Mayer/Rang, NJW 1988, 811; verneinend OLG Stuttgart NStZ 1988, 379). Der Bundesgerichtshof (BGHSt 34, 250 mit zust. Anmerkung von Wendisch in NStZ 1987; 470) und der Bundesfinanzhof (NJW 1982, 2895) haben derartige Ersatzzustellungen für unwirksam erachtet, wenn die Lebensgemeinschaft lediglich aus dem Adressaten und seinem Lebensgefährten besteht, jedoch übereinstimmend offengelassen, ob das auch dann gilt, wenn der Adressat – wie hier – mit einer Familie zusammenlebt. Für den zuletzt genannten Fall hat zwar das Bundesverwaltungsgericht die Ersatzzustellung für unzulässig gehalten (DVBl 1958, 208). Der dieser Entscheidung zugrundeliegende Sachverhalt unterschied sich jedoch von dem hier zu beurteilenden darin, daß es dort die kurz zuvor geschiedene, abernoch in der Ehewohnung lebende, frühere Ehefrau des Adressaten war, die die Zustellung entgegennahm. In Anbetracht des Spannungsverhältnisses, das eine Ehescheidung mit sich bringt, mag bei einer derartigen Fallgestaltung in der Tat nicht gewährleistet sein, daß der Zweck der Ersatzzustellung erreicht wird (vgl. unten II 2 b).
2. Der Senat entscheidet die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung bisher nicht beantwortete Frage dahin, daß die an einen nichtehelichen Lebensgefährten bewirkte Zustellung jedenfalls dann wirksam ist, wenn der Adressat mit einer Familie zusammenlebt. Dabei kommt es entgegen der Ansicht der Revision nicht entscheidend darauf an, ob es sich bei dieser Familie um Verwandte des Adressaten, seines Lebensgefährten oder um gemeinschaftliche Kinder handelt.
a) Schon der Wortlaut des § 181 Abs. 1 ZPO schließt nicht aus, auch den nichtehelichen Lebensgefährten als einen „zu der Familie gehörenden Hausgenossen” anzusehen. Diese Voraussetzung würde auf den nichtehelichen Lebensgefährten allerdings dann nicht zutreffen, wenn das Merkmal der Familienzugehörigkeit nicht im Sinn einer tatsächlichen, sondern einer familienrechtlichen Verbundenheit des Hausgenossen mit dem Zustellungsadressaten zu verstehen wäre, wie das Bundesverwaltungsgericht (a.a.O.) angenommen hat. Ein solches Verständnis wird zwar von der Entstehungsgeschichte der Vorschrift nahegelegt (dazu BGH a.a.O. unter 3 b). Der ursprüngliche Entwurf der ZPO sah die Zulässigkeit einer Ersatzzustellung an eine „in der Wohnung anwesende, zur Familie gehörige Person” vor und meinte damit, wie sich aus der Begründung ergibt, die rechtliche Familienzugehörigkeit. Gegen diese Fassung ergaben sich Bedenken, weil die Ersatzzustellung an einen Verwandten, der sich nur zufällig und vorübergehend in der Wohnung aufhielt, unsachgemäß erschien. Diese Bedenken führten zu der noch heute geltenden Fassung. Der neu eingeführte Begriff des „Hausgenossen” sollte dabei verdeutlichen, daß der – im rechtlichen Sinn – Familienangehörige zugleich Hausgenosse sein müsse.
Für den Gesetzgeber des ausgehenden 19. Jahrhunderts war indessen das Zusammenleben mehrerer Personen im selben Haushalt, die nicht durch Ehe oder Verwandtschaft miteinander verbunden sind, ein seltener und deshalb nicht regelungsbedürftiger Sachverhalt. Eine ausschließlich an der Entstehungsgeschichte orientierte Auslegung des § 181 Abs. 1 ZPO wäre daher nicht in der Lage, den seit Inkrafttreten der Zivilprozeßordnung gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen und der in neuerer Zeit starken Zunahme von nichtehelichen Lebensgemeinschaften Rechnung zu tragen (ebenso BGH a.a.O.). Sie würde auch zu dem wenig einleuchtenden Ergebnis führen, daß diese Vorschrift auf das Verhältnis von Pflegeeltern zu Pflegekindern nicht anzuwenden wäre (zutr. OLG Celle FamRZ 1983, 202, 203; OVG Hamburg a.a.O.). Auf Kriterien sittlich-moralischer Art oder die Wahrung familienrechtlicher, durch Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes besonders geschützter Belange kommt es bei der Auslegung dieser Vorschrift ohnehin nicht an (BGH a.a.O. unter 3 c).
b) Sinn und Zweck des § 181 Abs. 1 ZPO legen es nahe, dem Merkmal der familienrechtlichen Verbundenheit keine ausschlaggebende Bedeutung beizumessen. Mit dieser Vorschrift wollte der Gesetzgeber den Zugang zustellungsbedürftiger Schriftstücke durch Aushändigung an solche Personen ermöglichen, von denen nach der Lebenserfahrung zu erwarten ist, daß sie wegen ihres nach außen zum Ausdruck gebrachten Vertrauensverhältnisses zum Empfänger die Sendung diesem aushändigen werden (so z.B. Zöller/Stephan, ZPO, 15. Aufl., § 181 Rdnr. 4). Entscheidend muß deshalb in erster Linie das Bestehen eines solchen Vertrauensverhältnisses und nicht die Frage sein, ob das Verhältnis eine familienrechtliche Grundlage hat. Davon ist auch das Reichsgericht ausgegangen, als es das in der zweiten Alternative des § 181 Abs. 1 ZPO ebenfalls vorausgesetzte Merkmal der Familienzugehörigkeit restriktiv interpretiert und sowohl die Ersatzzustellung an die Haushälterin eines alleinstehenden Junggesellen trotz Fehlens einer Familie unbedenklich für zulässig erachtet als auch entschieden hat, eine „in der Familie dienende Person” könne eine stundenweise beschäftigte Zugehfrau sein, die nicht mit der Familie zusammenlebt (JW 1937, 1663). Diese Entscheidung, die eine auf Dauer angelegte Tätigkeit im Hauswesen des Zustellungsempfängers als ausschlaggebendes Kriterium für die Zulässigkeit der Ersatzzustellung wertet, ist in Rechtsprechung und Schrifttum auf einhellige Zustimmung gestoßen (z.B. Bay VerfGH RPfl 1964, 75); auch der 1. Strafsenat (a.a.O. unter 3 c) zitiert sie zustimmend. Umsoweniger vermag sich der erkennende Senat der Auffassung des 1. Strafsenates anzuschließen, der nichteheliche Lebensgefährte biete nicht die gleiche Gewähr wie ein Familienangehöriger für die zuverlässige Aushändigung des zugestellten Schriftstückes. Eine eheähnliche Gemeinschaft mit gemeinsamer Haushaltsführung begründet ein Vertrauensverhältnis unter den Partnern, das die Erwartung zuverlässiger Weitergabe des Schriftstücks nicht weniger rechtfertigt als in den zu § 181 Abs. 1 ZPO bisher anerkannten Fällen. Dazu bedarf dieses Verhältnis nicht der Verstärkung, die hier darin liegt, daß zusätzlich eine familienähnliche Verbindung des Beklagten zu den Kindern seiner Lebensgefährtin bestand.
c) Allerdings teilt der erkennende Senat die Ansicht des 1. Strafsenates, daß nur derjenige als zur Familie gehörender Hausgenosse angesehen werden kann, der aufgrund objektiver und eindeutiger Kriterien als solcher erkennbar ist. Derartiger Kriterien bedarf weniger das über die Wirksamkeit einer Zustellung später entscheidende Gericht, sondern – angesichts der großen praktischen Bedeutung dieser Art der Ersatzzustellung und der oft einschneidenden Auswirkungen einer Zustellung – in erster Linie die Person, die die Zustellung ausführt. Solche, gegebenenfalls leicht feststellbaren Kriterien sind auch in den hier interessierenden Fällen vorhanden (ebenso Mayer/Rang a.a.O.). Kennt derjenige, der die Zustellung ausführt, die Beziehung des Adressaten zu dem in der Wohnung Angetroffenen nicht und wird sie ihm auch nicht unaufgefordert genannt, muß der Zusteller die Voraussetzung einer Ersatzzustellung in jedem Fall durch Befragen des Angetroffenen ermitteln. Dabei erscheint für die Beteiligten die Frage nach ständigem Zusammenleben als einer besonderen Form der Hausgenossenschaft nicht unzumutbarer oder aufdringlicher als diejenige nach Ehe oder Verwandtschaft. Wer sittliche Bedenken gegen ein nichteheliches Zusammenleben entweder nicht teilt oder sich darüber hinwegsetzt und ein eheähnliches Verhältnis eingeht, kann die darauf gerichtete Frage eines Briefträgers oder Gerichtsvollziehers, die ersichtlich nicht persönlicher Neugier entspringt, sondern die richtige Anwendung einer Gesetzesvorschrift sicherstellen soll, nicht als unzumutbar empfinden. Dasselbe gilt für die in Fällen der vorliegenden Art weiter erforderliche Frage, ob noch Verwandte des Adressaten oder der Empfangsperson in der Wohnung leben.
3. Diesem Ergebnis hält die Revision vergebens entgegen, es berücksichtige nicht das sich aus Art. 103 Abs. 1 GG ergebende Recht jeder Partei, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt vor deren Erlaß äußern zu können (BVerfG NJW 1988, 2361). Auch die Zustellungsvorschriften dienen zwar der Verwirklichung dieses Rechts (BVerfG a.a.O.). Das mag dazu führen, daß in Fällen, in denen die Wirksamkeit der Zustellung von besonderen Umständen des Einzelfalles abhängt, im Lichte dieses Grundrechts im Zweifel eine unwirksame Zustellung anzunehmen ist. Daraus folgt aber nicht, daß bei der Anwendung einer verfassungsrechtlich unbedenklichen Zustellungsvorschrift auf einen typischen, häufig wiederkehrenden Lebenssachverhalt eine restriktive, zur Unwirksamkeit der in Frage stehenden Zustellung führende Auslegung von Verfassungs wegen geboten ist. Abgesehen hiervon verbessert gerade die Anwendung des § 181 ZPO auf eheähnliche Lebensgemeinschaften die Zugangsmöglichkeit nichtehelicher Lebenspartner zu Gericht. Denn an Stelle einer nicht durchführbaren Ersatzzustellung nach § 181 ZPO wird es in der Regel, von der nur selten gegebenen Möglichkeit der Zustellung im Geschäftslokal (§ 183 ZPO) abgesehen, zu einer Ersatzzustellung durch Niederlegung (§ 182 ZPO) kommen, die – angesichts der Gefahr, daß die Nachricht über die Niederlegung verloren geht oder ihre Bedeutung nicht erkannt wird – mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist und deshalb nur in geringerem Maß die Gewähr bietet, daß die Zustellung den Adressaten tatsächlich erreicht. Eine Ersatzzustellung nach § 181 ZPO verschafft dem Adressaten schließlich den Vorteil, daß er Nachlässigkeiten oder Versäumnisse der Empfangsperson bei der Aushändigung des zugestellten Schriftstücks leicht nachweisen und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erreichen kann, der nur eigenes Verschulden entgegenstehen würde.
4. Der Senat verkennt nicht, daß bei einer Anwendung der hier dargelegten Grundsätze auf eine nur aus zwei Personen bestehende Lebensgemeinschaft die Möglichkeit einer Ersatzzustellung nach § 181 ZPO ebenfalls bejaht werden müßte. Zu einer Anrufung der Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofes bzw. des Gemeinsamen Senates der obersten Gerichtshöfe des Bundes bestand jedoch kein Anlaß, weil sowohl der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes als auch der Bundesfinanzhof die Entscheidung des hier zu beurteilenden Falles ausdrücklich offengelassen haben und das Bundesverwaltungsgericht ebenfalls, wie oben ausgeführt, über einen anders gelagerten Sachverhalt zu befinden hatte.
Fundstellen
BGHZ, 1 |
BB 1990, 811 |
NJW 1990, 1666 |
ZIP 1990, 608 |
JZ 1990, 759 |
JuS 1990, 669 |