Verfahrensgang
BPatG (Urteil vom 12.11.2020; Aktenzeichen 5 Ni 22/18 (EP)) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des 5. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts vom 12. November 2020 abgeändert.
Das europäische Patent 2 310 179 wird dadurch teilweise für nichtig erklärt, dass die Patentansprüche die nachfolgende Fassung erhalten:
1. Spenderteil (20), das mindestens zwei Komponententeile (17, 18) aufweist, die jeweils durch eine Naht (21) verbunden sind, wobei das Spenderteil aufweist:
ein erstes spritzgegossenes Kunststoffkomponententeil (17) mit einer zugehörigen ersten Verbindungsfläche entlang einer ersten Kante und
ein zweites spritzgegossenes Kunststoffkomponententeil (18) mit einer zugehörigen zweiten Verbindungsfläche,
wobei die Naht (21) durch die erste Verbindungsfläche und die zweite Verbindungsfläche während des Spritzgießens zum Verbinden des ersten Komponententeils (17) und des zweiten Komponententeils (18) ausgebildet ist, um das Spenderteil (20) zu definieren,
ein querverlaufender Querschnitt der Naht mindestens eine Stufe und mindestens eine Kontaktfläche zwischen einer äußeren und einer inneren Fläche des Spenderteils aufweist,
der querverlaufende Querschnitt der Naht eine erste Stufe aufweist, die an die äußere Fläche des Spenderteils angrenzt,
das erste Komponententeil (17) transparent ist und das zweite Komponententeil (18) undurchsichtig ist,
das Spenderteil (20) abnehmbar mit einem hinteren Spenderabschnitt (96) verbunden ist, um ein Spendergehäuse auszubilden, und
der hintere Spenderabschnitt (96) eingerichtet ist, an einer vertikalen Wand montiert zu sein,
wobei das erste Komponententeil (17) ein MABS-Kunststoffteil ist und das zweite Komponententeil (18) ein ABS-Kunststoffteil ist,
sowohl das erste als auch das zweite Komponententeil eine vordere Fläche und eine erste und eine zweite Seitenfläche aufweisen, die jeweils eine von der vorderen Fläche abgewandte freie Seitenkante aufweisen,
und sich die Naht von der abgewandten freien Seitenkante (22), die zu der ersten Seitenfläche gehört, über zumindest einen Teil einer vorderen Fläche des Spenderteils zu der abgewandten freien Seitenkante (23) erstreckt, die zu der zweiten Seitenfläche gehört,
und im Bereich der Naht eine führende Kante des zweiten Komponententeils derart angeordnet ist, dass sie das erste Komponententeil zum Verdecken der Naht überlappt.
2. Spenderteil nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass sich jede Kontaktfläche entlang der Länge der Naht (21; 33; 43a) erstreckt.
3. Spenderteil nach Anspruch 1 oder 2, dadurch gekennzeichnet, dass die Kontaktfläche eine Querausdehnung von bis zu 5-mal der Dicke mindestens eines Komponententeils (17, 18; 31, 32; 41a, 42a) angrenzend an die Naht (21; 33; 43a) aufweist.
4. Spenderteil nach Anspruch 3, dadurch gekennzeichnet, dass die Kontaktfläche eine Querausdehnung zwischen 3- bis 5-mal die Dicke mindestens eines Komponententeils (17, 18; 31, 32; 41a, 42a) angrenzend an die Naht (21; 33; 43a) aufweist.
5. Spenderteil nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass die erste Stufe (44) eine erste Kontaktfläche in rechten Winkeln zu der äußeren Fläche des Spenderteils und eine angrenzende zweite Kontaktfläche aufweist, die sich in Richtung der ersten Kante erstreckt.
6. Spenderteil nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass der querverlaufende Querschnitt der Naht (21; 33; 43a) eine zweite Stufe (46) aufweist, die an die innere Fläche des Spenderteils angrenzt.
7. Spenderteil nach Anspruch 6, dadurch gekennzeichnet, dass die erste und die zweite Stufe (44, 46) eine Höhe aufweisen, die gleich oder weniger als die Hälfte der Dicke mindestens eines Komponententeils angrenzend an die Naht ist, wobei die Stufen durch die zweite Kontaktfläche verbunden sind.
8. Spenderteil nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass das erhöhte Kontaktsteigerungsmittel mindestens eine zusätzliche Stufe (45) aufweist.
9. Spenderteil nach Anspruch 8, dadurch gekennzeichnet, dass jede zusätzliche Stufe eine Höhe von 0,05 bis 1 mm aufweist.
10. Spenderteil nach einem der Ansprüche 8-9, dadurch gekennzeichnet, dass die mindestens eine zusätzliche Stufe (45) in einem querverlaufenden Querschnitt eine Höhe aufweist, die gleich oder geringer als die Höhe der ersten Stufe (44) ist.
11. Spenderteil nach einem der Ansprüche 8-10, dadurch gekennzeichnet, dass die zusätzlichen Stufen (45) eine Höhe zwischen 1/20 und 1/3 der Dicke des mindestens einen Komponententeils angrenzend an die Naht aufweisen.
12. Spenderteil nach einem der Ansprüche 8-11, dadurch gekennzeichnet, dass in der Querrichtung jede angrenzende Stufe durch einen Abstand getrennt ist, der gleich oder größer als die Höhe der kleineren der Stufen ist.
13. Spenderteil nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass das erhöhte Kontaktsteigerungsmittel mindestens einen Vorsprung entlang der Länge der Naht (21; 33; 43a) aufweist.
14. Spenderteil nach Anspruch 13, dadurch gekennzeichnet, dass das erhöhte Kontaktsteigerungsmittel mindestens einen flachen Vorsprung aufweist, der sich in rechten Winkeln zu der zweiten Kontaktfläche entlang der Länge der Naht erstreckt.
15.Spenderteil nach Anspruch 13, dadurch gekennzeichnet, dass das erhöhte Kontaktsteigerungsmittel mehrere, einzelne Vorsprünge entlang der Länge der Naht aufweist.
16. Spenderteil nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass das erhöhte Kontaktsteigerungsmittel mindestens einen Grat entlang der Länge der Naht aufweist.
17. Spenderteil nach Anspruch 16, dadurch gekennzeichnet, dass der mindestens eine Grat einen V-förmigen Querschnitt aufweist.
18. Spenderteil nach einem der Ansprüche 13-17, dadurch gekennzeichnet, dass mindestens der eine Vorsprung oder Grat eine Höhe bis zu der Hälfte der Dicke der zweiten Kontaktfläche aufweist.
19. Spenderteil nach einem der Ansprüche 1-18, dadurch gekennzeichnet, dass die Dicke des ersten Komponententeils (17; 31; 41a) eingerichtet ist, graduell in einer Querrichtung in Richtung der Naht (21; 33; 43a) anzusteigen.
20. Spenderteil nach einem der Ansprüche 1-19, dadurch gekennzeichnet, dass die maximale Dicke der Naht 1,5 Mal die Dicke des zweiten Komponententeils angrenzend an die Naht ist.
21. Spenderteil nach einem der Ansprüche 1-20, dadurch gekennzeichnet, dass ein vorderes Ende des ersten Komponententeils (17; 31; 41a) in der Querrichtung der Naht eingerichtet ist, sich über die Kontaktfläche zwischen einer äußeren und einer inneren Fläche (47, 48) des Spenderteils (20) hinaus zu erstrecken.
22. Spenderteil nach Anspruch 21, dadurch gekennzeichnet, dass das vordere Ende des ersten Komponententeils (17; 31; 41a) eine Lippe aufweist, die sich in Richtung einer inneren Fläche des zweiten Komponententeils (18; 32; 42a) erstreckt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den erstinstanzlichen Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zwei Drittel und die Beklagte ein Drittel.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Die Beklagte ist Inhaberin des mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 2 310 179 (Streitpatents), das am 14. Mai 2009 unter Inanspruchnahme einer schwedischen Priorität vom 16. Mai 2008 angemeldet worden ist und ein im Zwei-Komponenten-Spritzgussverfahren hergestelltes Spenderteil betrifft.
Rz. 2
Patentanspruch 1, auf den 22 weitere Ansprüche zurückbezogen sind, lautet in der Verfahrenssprache:
Dispenser part comprising at least two component parts (17, 18; 31, 32; 41 a, 42a; 91, 92; 101, 102; 111, 112a, 112b) each joined by a seam (21; 33; 43a), said dispenser part (20; 90; 100; 110) comprising a first injection moulded plastic component part (17; 31; 41a) with an associated first mating surface along a first edge; a second injection moulded plastic component part (18; 32; 42a) having an associated second mating surface; the seam formed by said first mating surface and said second mating surface during injection moulding for joining said first component part (17; 31; 41a) and said second component part (18; 32; 42a) to define the dispenser part (20), wherein a transverse cross section of the seam (21; 33; 43a) comprises at least one step (44, 45, 46) and at least one contact surface intermediate an outer and an inner surface (47, 48) of the dispenser part (20), characterised in that the transverse cross section of the seam (21; 33; 43a) comprises a first step (44) adjacent the outer surface of the dispenser part (20), wherein the first component part (17; 31; 41a; 91; 101; 111) is transparent and the second component part (18; 32; 42a; 92; 102; 112a, 112b) is opaque, wherein the dispenser part is detachably joined to a rear dispenser section (96, 106, 116), in order to form a dispenser housing (97, 107, 117) and wherein the rear dispenser section (96, 106, 116) is arranged to be mounted on a vertical surface.
Rz. 3
Die Klägerin hat geltend gemacht, der Gegenstand des Streitpatents sei nicht patentfähig. Die Beklagte hat das Streitpatent mit einem Hauptantrag und elf Hilfsanträgen in geänderten Fassungen verteidigt.
Rz. 4
Das Patentgericht hat das Streitpatent für nichtig erklärt. Dagegen wendet sich die Berufung der Beklagten, die das Streitpatent in den Fassungen ihres erstinstanzlichen Hauptantrags und ihrer erstinstanzlichen Hilfsanträge 1 bis 7 verteidigt. Die Klägerin tritt dem Rechtsmittel entgegen.
Entscheidungsgründe
Rz. 5
Die zulässige Berufung ist begründet und führt zur Abweisung der Klage, soweit die Beklagte das Streitpatent noch verteidigt.
Rz. 6
I. Das Streitpatent betrifft ein im Zwei-Komponenten-Spritzgussverfahren hergestelltes Spenderteil.
Rz. 7
1. Nach den Ausführungen in der Streitpatentschrift kann es aus unterschiedlichen Gründen wünschenswert sein, ein Spenderteil vorzusehen, bei dem zumindest die Außenfläche, die Schale oder ein vergleichbarer Teil aus zwei ähnlichen oder unterschiedlichen Kunststoffen gefertigt ist. So sei denkbar, einen Abschnitt des Spenderteils transparent zu gestalten, um die Kontrolle des Füllstands des im Spender enthaltenen Verbrauchsguts zu erleichtern. Ein zweiter Abschnitt könne opak gestaltet sein, um einen Ausgabemechanismus zu verbergen und dem Spender ein ästhetisch ansprechendes Aussehen zu geben (Abs. 2).
Rz. 8
Für die Herstellung eines solchen Spenderteils werde üblicherweise die erste Komponente durch Spritzguss in einer ersten Form angefertigt. Anschließend werde sie in eine zweite Form umgesetzt und dort mit einer sodann gespritzten weiteren Komponente verbunden. Hierbei könne es zu einem Verzug zumindest der ersten Komponente und der Naht kommen, insbesondere in oder nahe den Bereichen der Seitenkanten. Die Komponenten würden in der Regel durchgehend (end-to-end) miteinander verbunden; selbst mit lokalen Verstärkungen könne es der Verbindungsnaht an ausreichender Stabilität fehlen, um den zu erwartenden Kräften standzuhalten (Abs. 3).
Rz. 9
2. Das Streitpatent betrifft vor diesem Hintergrund das technische Problem, ein Spenderteil bereitzustellen, das geringen Verzug aufweist und an der Naht von hoher Festigkeit ist.
Rz. 10
3. Zur Lösung schlägt das Streitpatent in Patentanspruch 1 in der mit dem Hauptantrag verteidigten Fassung ein Spenderteil vor, dessen Merkmale sich wie folgt gliedern lassen (Änderungen gegenüber der erteilten Fassung sind hervorgehoben; die abweichende Gliederung im erstinstanzlichen Urteil ist in eckigen Klammern wiedergegeben):
1. Das Spenderteil (20) weist mindestens ein erstes und ein zweites spritzgegossenes Kunststoffkomponententeil (17, 18) auf [1; 1.1].
2. Die beiden Komponententeile (17, 18)
a) weisen jeweils auf:
(1) eine Verbindungsfläche entlang einer Kante [1.2, 1.3],
(2) eine vordere Fläche [1.11],
(3) eine erste und eine zweite Seitenfläche, die jeweils eine von der vorderen Fläche abgewandte freie Seitenkante aufweisen [1.11];
b) sind durch eine Naht (21) verbunden [1.1.1],
(1) die durch die erste Verbindungsfläche und die zweite Verbindungsfläche während des Spritzgießens zum Verbinden des ersten Komponententeils (17) und des zweiten Komponententeils (18) ausgebildet ist, um das Spenderteil (20) zu definieren [1.4];
(2) die sich von der abgewandten freien Seitenkante (22), die zu der ersten Seitenfläche gehört, über zumindest einen Teil einer vorderen Fläche des Spenderteils zu der abgewandten freien Seitenkante (23) erstreckt, die zu der zweiten Seitenfläche gehört [1.12];
(3) wobei ein querverlaufender Querschnitt der Naht mindestens eine Stufe und mindestens eine Kontaktfläche zwischen einer äußeren und inneren Fläche des Spenderteils aufweist und die erste Stufe an die äußere Fläche des Spenderteils angrenzt [1.5; 1.6];
(4) und im Bereich der Naht eine führende Kante des zweiten Komponententeils derart angeordnet ist, dass sie das erste Komponententeil zum Verdecken der Naht überlappt [1.13].
c) Das erste Komponententeil (17) ist transparent und das zweite Komponententeil (18) undurchsichtig [1.7].
d) Das erste Komponententeil (17) ist ein MABS-Kunststoffteil und das zweite Komponententeil (18) ein ABS-Kunststoffteil [1.10].
3. Das Spenderteil ist abnehmbar mit einem hinteren Spenderabschnitt (96) verbunden, um ein Spendergehäuse auszubilden [1.8].
4. Der hintere Spenderabschnitt (96) ist eingerichtet, an einer vertikalen Wand montiert zu sein [1.9].
Rz. 11
4. Einige Merkmale bedürfen näherer Erörterung.
Rz. 12
a) Wie der Senat bereits im Zusammenhang mit dem denselben Prioritätstag wie das Streitpatent in Anspruch nehmenden europäischen Patent 2 313 243 ausgeführt und näher begründet hat, muss ein Spenderteil im Sinne von Merkmal 1 ein Bauteil sein, das die Struktur des Spendergehäuses maßgeblich prägt; Entsprechendes gilt für ein Komponententeil im Sinne von Merkmal 2 (BGH, Urteil vom 7. Dezember 2021 - X ZR 111/19, Rn. 12 ff.).
Rz. 13
Für das Streitpatent, dessen Beschreibung in weiten Teilen mit derjenigen des genannten Patents übereinstimmt und das in Patentanspruch 1 insoweit dieselben Begriffe verwendet, gilt nichts Anderes.
Rz. 14
b) Ebenso gelten die Ausführungen des Senats zum europäischen Patent 2 313 243 hinsichtlich der Form der beiden zum Spenderteil gehörenden Komponententeile für das Streitpatent entsprechend. Danach sind die Komponententeile als dreidimensionale Form ausgebildet, deren Grundriss im Wesentlichen die Form eines U mit gegebenenfalls mehr oder weniger abgeschrägten Schenkeln aufweist (BGH, Urteil vom 7. Dezember 2021 - X ZR 111/19, Rn. 20 ff.).
Rz. 15
Das Streitpatent unterscheidet sich in der mit dem Hauptantrag verteidigten Fassung insoweit nicht von dem damals zu beurteilenden Patent. Nach Merkmalsgruppe 2 a weisen die beiden Komponententeile des Spenderteils ebenfalls eine Verbindungsfläche, eine vordere Fläche sowie eine erste und zweite Seitenfläche auf. Die in Merkmal 2 a (3) des Streitpatents normierte zusätzliche Anforderung, dass die erste und zweite Seitenfläche der Komponententeile jeweils eine von der vorderen Fläche abgewandte freie Seitenkante aufweisen müssen, verdeutlicht zusätzlich, dass der Grundriss keine geschlossene Form aufweisen darf, sondern im Wesentlichen U-förmig sein muss.
Rz. 16
c) Gewisse Abweichungen im Vergleich zu dem früher zu beurteilenden Patent gibt es hinsichtlich des Verlaufs der Naht, die die beiden Komponententeile miteinander verbindet.
Rz. 17
aa) Auch Merkmal 2 b (2) des Streitpatents ist allerdings dahin auszulegen, dass die Naht, die die beiden Komponententeile verbindet, korrespondierend mit dem U-förmigen Grundriss der Komponententeile einen Anfang- und einen Endpunkt haben muss, also nicht umlaufend sein darf (dazu BGH, Urteil vom 7. Dezember 2021 - X ZR 111/19, Rn. 36 ff.).
Rz. 18
Ein Ausführungsbeispiel, das diesen Anforderungen genügt, ist in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 13 dargestellt.
Rz. 19
bb) Anders als nach dem früher zu beurteilenden Patent genügt es jedoch nicht, wenn die Naht zwischen zwei Seitenkanten der Seitenflächen des Spenderteils verläuft. Nach Merkmal 2 b (2) des Streitpatents muss sie vielmehr zwischen den beiden abgewandten freien Seitenkanten der beiden Seitenflächen verlaufen.
Rz. 20
Diese Formulierung knüpft an das bereits erwähnte Merkmal 2 a (3) an, das für beide Komponententeile je eine erste und zweite Seitenfläche mit einer von der vorderen Fläche abgewandten freien Seitenkante vorsieht. Angesichts der übereinstimmenden Formulierungen in den Merkmalen 2 a (3) und 2 b (2) sind es diese Seitenkanten der beiden Seitenflächen der Komponententeile, die den Anfangs- und den Endpunkt der Naht bilden müssen.
Rz. 21
(1) Entgegen der Auffassung der Klägerin ergibt sich allerdings auch aus diesen Vorgaben, dass die freien Seitenkanten der beiden Komponententeile zugleich freie Seitenkanten des Spenderteils sein müssen.
Rz. 22
Dies folgt schon aus der Anforderung, dass es sich um freie, also nicht an andere Bauteile angrenzende Kanten handeln muss, und wird bestätigt durch Merkmal 2 b (1), wonach die beiden Komponententeile durch die Naht verbunden sind, um das Spenderteil zu definieren.
Rz. 23
(2) Patentanspruch 1 des Streitpatents weicht jedoch insoweit von den Vorgaben des früher zu beurteilenden Patents ab, als er die beiden Kanten, zwischen denen die Naht verlaufen muss, näher eingrenzt.
Rz. 24
Nach dem europäischen Patent 2 313 243 genügt es, wenn die Naht zwischen den Seitenkanten der ersten und zweiten Seitenfläche des Spenderteils verläuft. Nach Merkmal 2 b (2) muss sie über zumindest einen Teil der vorderen Fläche des Spenderteils und zwischen den abgewandten freien Seitenkanten verlaufen. In Anbetracht der übereinstimmenden Formulierungen in den Merkmalen 2 a (3) und 2 b (2) sind darunter die freien Seitenkanten der Komponententeile zu verstehen, die von der vorderen Fläche der Komponententeile abgewandt sind, also in Richtung des hinteren Spenderabschnitts zeigen. Dies deckt sich mit den Ausführungen in der Beschreibung, die die Eigenschaft "abgewandt" auf die vordere Fläche der Komponententeile beziehen (edge facing away from the front surface, Abs. 33) und diese so definierte Kante von freien Kanten im Allgemeinen (free edge, Abs. 34) unterscheiden.
Rz. 25
(3) Hieraus folgt, dass Merkmal 2 b (2) bei dem in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 14 dargestellten Ausführungsbeispiel nicht verwirklicht ist.
Rz. 26
Auch bei diesem Ausführungsbeispiel ist die Naht zwar nicht umlaufend. Sie verläuft aber nicht zwischen den beiden freien, von der vorderen Fläche abgewandten Seitenkanten, sondern zwischen zwei freien Seitenkanten an der Unterseite des Spendergehäuses.
Rz. 27
d) Hinsichtlich der Ausgestaltung der Naht sieht Merkmal 2 b (3) - insoweit ohne Entsprechung in dem früher zu beurteilenden Patent - vor, dass mindestens eine Stufe und mindestens eine Kontaktfläche zwischen der Oberfläche und der Innenfläche des Spenderteils vorhanden sein müssen.
Rz. 28
Unter einer Stufe in diesem Sinn ist ein Absatz in der Verbindungsfläche in Querrichtung zur Kante eines Komponententeils zu verstehen, der eine im Verhältnis zu der Oberfläche und der Innenfläche des Spenderteils senkrechte (erste) Kontaktfläche und eine sich zur ersten Kante hin erstreckende und parallel zu der Oberfläche und der Innenfläche des Spenderteils verlaufende zweite Kontaktfläche bildet (Abs. 11, 12 und 38, 39). Wie das Patentgericht zutreffend angenommen hat, stellt die zweite Kontaktfläche die Kontaktfläche im Sinne von Merkmal 2 b (3) dar.
Rz. 29
Die weiteren, in der Beschreibung erläuterten Möglichkeiten, die Naht in Querrichtung zwischen der Ober- und Innenfläche der Komponenten durch unterschiedliche Geometrien zu konfigurieren (Abs. 17-23 und 68-70), haben in Patentanspruch 1 keinen Niederschlag gefunden.
Rz. 30
e) Die Auswahl der eingesetzten Kunststoffe ist durch das zusätzlich eingefügte Merkmal 2 d auf MABS und ABS beschränkt. MABS ist transparent, ABS undurchsichtig, wie dies das bereits in der erteilten Fassung enthaltene Merkmal 2 c vorsieht.
Rz. 31
Ob, wie das Patentgericht angenommen hat, auch ein transluzentes Material als transparent im Sinne von Merkmal 2 c anzusehen ist, kann dahinstehen. Auf diese Frage kommt es für die Entscheidung über den Rechtsbestand des Streitpatents nicht an.
Rz. 32
f) Entsprechendes gilt für die Frage, ob Patentanspruch 1 eine Reihenfolge impliziert, in der die Komponententeile des Spenders zu spritzen sind.
Rz. 33
II. Das Patentgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
Rz. 34
Der mit dem Hauptantrag verteidigte Gegenstand von Patentanspruch 1 beruhe nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Er sei dem Fachmann, einem Ingenieur der Fachrichtung Maschinenbau bzw. Kunststofftechnik mit Fachhochschul- oder vergleichbarem Abschluss und mehrjähriger Berufserfahrung in der Produktentwicklung von Aufnahmebehältern, der in der Formgebung von Kunststoffen bewandert sei und einen Fachmann der Spritztechnik hinzuziehe, ausgehend von der internationalen Patentanmeldung 2006/054965 (Ni1) durch Kombination mit der internationalen Patentanmeldung 99/18835 (Ni3) und seinem Fachwissen nahegelegt.
Rz. 35
Ni1 offenbare einen Spender zur Ausgabe von als Rolle bereitgestellten Papierhandtüchern mit den Merkmalen 1, 2 a (1) und 2 b (1). Ebenfalls offenbart seien die Merkmale 3 und 4. Merkmal 2 c sei teilweise offenbart. Nicht offenbart seien die Merkmale 2 a (2), 2 a (3), 2 b (2), 2 b (3), 2 b (4) und 2 d und die von Patentanspruch 1 implizierte Reihenfolge des Spritzgießens. Diese Merkmale seien dem Fachmann indessen durch die Kombination der Ni1 mit Ni3 und seinem Fachwissen nahegelegt oder stellten einfache Maßnahmen dar, die eine Patentfähigkeit nicht begründen könnten.
Rz. 36
Ni3 offenbare einen dem Spender der Ni1 ähnlichen Spender für Handtuchrollen mit Innenauszug. Der Fachmann, der ausgehend von Ni1 ein Spendergehäuse sowohl technisch als auch in Bezug auf das Design weiterentwickeln wolle, sehe in der in Ni3 offenbarten Ausgestaltung Vorteile, die er für die Gestaltung der Abdeckung des in Ni1 gezeigten Gehäuses nutzen könne. Er habe Anlass, die Fenstergeometrie der in den Figuren 25 und 26 der Ni3 gezeigten Ausführungsvarianten für den oberen Teil der Abdeckung des Spendergehäuses der Ni1 zu übernehmen und auf dessen gesamten Seitenbereich auszuweiten, weil sich dadurch auch bei der Ni1 aufgrund des derart vergrößerten Einsichtsbereichs eine verbesserte Sicht auf den Füllstand ergebe und eine ansprechendere Gestaltung realisieren lasse. Dabei behalte der Fachmann die Grundkonstruktion des Papierspenders der Ni1 mit dem Spendergehäuse und der Abdeckung im Übrigen bei und belasse den unteren Teil der Abdeckung mit Ausgabeeinheit, Scharnieren und Sensor in einer opaken Ausführung, um diesen Bereich zu verdecken. Bei der Übertragung der Fenstergeometrie der Ni3 auf die Abdeckung des Spenders der Ni1 verlaufe die Naht wie in Merkmal 2 b (2) vorgesehen. Im Übrigen ergebe sich der Nahtverlauf zwischen den beiden Kunststoffkomponenten aus funktionalen und designgeprägten Aspekten, so dass allein die Definition des Nahtverlaufs, wenn nicht technisch relevante Schwierigkeiten zu überwinden seien, nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruhe.
Rz. 37
Die in Merkmal 2 b (3) vorgesehene Stufenverbindung sei dem Fachmann aufgrund seines in dem vorgelegten Auszug aus dem Handbuch Spritzgießen von F. Johannaber und W. Michaeli (Carl Hanser Verlag, 2. Aufl. 2004, Bild 6.86, S. 515 und Bild 6.88, S. 521, D2) dokumentierten Fachwissens nahegelegt.
Rz. 38
Die nach Merkmal 2 b (4) vorgesehene Verdeckung der Naht stelle eine einfache fachliche Maßnahme dar, um die durch eine oder mehrere Stufen schräg verlaufende Naht optisch ansprechend mit dem Anschein einer scharfen Trennlinie zu gestalten.
Rz. 39
Die in Patentanspruch 1 für das Spritzgießen implizierte Reihenfolge beruhe, da nur zwei technische Möglichkeiten zur Auswahl stünden und die beiden Komponenten ähnliche Schmelztemperaturen aufwiesen, ebenfalls nicht auf erfinderischer Tätigkeit.
Rz. 40
Die Auswahl der Kunststoffkomponenten entsprechend Merkmal 2 d stelle eine einfache handwerkliche Maßnahme dar und sei dem Fachmann durch sein in dem Werk von Domininghaus (Die Kunststoffe und ihre Eigenschaften, 5. Aufl. 1998, D19) dokumentiertes Fachwissen nahegelegt.
Rz. 41
III. Diese Beurteilung hält der Überprüfung im Berufungsverfahren in einem entscheidenden Punkt nicht stand.
Rz. 42
Entgegen der Auffassung des Patentgerichts ist der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der mit dem Hauptantrag verteidigten Fassung weder durch Ni1 noch durch eine Kombination der Ni1 mit Ni3 oder Fachwissen nahegelegt.
Rz. 43
1. Das Patentgericht hat zu Recht entschieden, dass Ni1 den mit dem Hauptantrag verteidigten Gegenstand nicht vollständig offenbart.
Rz. 44
a) Ni1 offenbart einen Spender für Papierrollen.
Rz. 45
Ein Ausführungsbeispiel ist in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 1 in perspektivischer Darstellung und in Figur 2 in einer Seitenansicht dargestellt.
Rz. 46
Der Spender (1) umfasst einen Körper (3) und eine Abdeckung (2).
Rz. 47
Der Körper (3) besteht aus einem hinteren Abschnitt mit oberen und unteren Flächen, Seitenflächen und einer hinteren Befestigungsfläche (10). Er kann eine im Spender unterzubringende Papierrolle zumindest teilweise aufnehmen und ist für eine Montage in einer Nische oder an einer Wand geeignet (S. 3 Z. 10-15; S. 7 Z. 20 bis S. 8 Z. 4).
Rz. 48
Die Abdeckung (2) kann neben einer Ausgabeöffnung (5) und einem die Ausgabe eines Handtuchs anstoßenden Sensor (6) ein eingelassenes transparentes Sichtfenster (4) aufweisen (S. 5 Z. 18-19). In diesem Fall ist die Abdeckung über den Großteil ihrer Oberfläche entweder undurchsichtig oder transluzent gestaltet. In einer als bevorzugt geschilderten Ausführung wird sie zusammen mit dem Fenster im Zwei-Komponenten-Spritzgussverfahren hergestellt, um das Fenster baulich besser in die Abdeckung einzufügen (S. 7 Z. 6-12).
Rz. 49
Die Abdeckung (2) ist mit dem Körper (3) mittels einer ersten und zweiten Scharnierstruktur (8), beispielsweise in Form von Gelenkstiften, schwenkbar verbunden und kann deshalb zur Wartung oder zum Austausch der Papierrolle geöffnet werden (S. 3 Z. 17-22). Alternativ kommt jede andere Ausgestaltung in Betracht, die ein Verschwenken ermöglicht, zum Beispiel die Ausformung von Vorsprüngen am Körper (3), die in Öffnungen in der Abdeckung (2) greifen (S. 5 Z. 8-13). Im geschlossenen Zustand wird die Abdeckung mittels einer Verriegelungsstruktur (7) am Körper (3) gehalten (S. 3 Z. 22-24).
Rz. 50
b) Damit sind, wie das Patentgericht zutreffend angenommen hat und auch die Berufung nicht in Zweifel zieht, die Merkmale 1, 2 a (1) und 2 a (2) sowie 2 b und 2 b (1) offenbart.
Rz. 51
c) Wie der Senat bereits im Zusammenhang mit dem früher zu beurteilenden Patent ausgeführt hat, sind auch die Merkmale 3 und 4 offenbart (BGH, Urteil vom 7. Dezember 2021 - X ZR 111/19, Rn. 59).
Rz. 52
d) Nicht offenbart ist dagegen - wie das Patentgericht zu Recht entschieden hat und auch die Berufungserwiderung nicht in Zweifel zieht - Merkmal 2 a (3).
Rz. 53
e) Ebenfalls nicht offenbart ist Merkmal 2 b (2).
Rz. 54
Wie der Senat ebenfalls bereits dargelegt hat, fehlt es an einer Offenbarung dieses Merkmals schon deshalb, weil die zwischen dem Fenster (4) und dem restlichen Teil der Abdeckung (2) verlaufende Naht sich nicht bis zu einer freien Seitenkante des Spenderteils erstreckt (BGH, Urteil vom 7. Dezember 2021 - X ZR 111/19, Rn. 63 ff.). Sie erstreckt sich damit erst recht nicht zwischen zwei freien Seitenkanten, die von der vorderen Fläche abgewandt sind.
Rz. 55
f) Wie das Patentgericht zu Recht entschieden hat und die Berufungserwiderung nicht in Zweifel zieht, sind auch die Merkmale 2 b (3), 2 b (4) und 2 d nicht offenbart.
Rz. 56
2. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 war weder durch Ni1 noch durch eine Kombination von Ni1 und Ni3 nahegelegt.
Rz. 57
Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Auswahl der Kunststoffe entsprechend Merkmal 2 d und die Abstufung der Naht entsprechend den Merkmalen 2 b (3) und 2 b (4) durch das allgemeine Fachwissen nahegelegt waren, wie dies das Patentgericht angenommen hat. Aus den beiden Entgegenhaltungen ergab sich jedenfalls nicht die Anregung, das Spenderteil entsprechend den Merkmalen 2 a (3) und 2 b (2) auszugestalten.
Rz. 58
a) Wie bereits oben dargelegt wurde, offenbart Ni1 Ausführungsformen mit einer Abdeckung (2) aus zwei unterschiedlichen, durch Spritzgießen verbundenen Komponenten nur in der Gestalt, dass ein Sichtfenster vom anderen Teil der Abdeckung vollständig umgeben ist. Hieraus ergab sich keine Veranlassung, das Sichtfenster (4) so anzuordnen, dass seine Seitenkanten auf beiden Seitenflächen zugleich die Seitenkanten der Abdeckung (2) bilden.
Rz. 59
b) Aus einer ergänzenden Heranziehung von Ni3 ergaben sich insoweit keine weitergehenden Anregungen.
Rz. 60
aa) Ni3 offenbart einen Spender für Papierrollen mit Innenauszug, die im Spender vertikal angebracht sind. Ein Ausführungsbeispiel ist in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 1 dargestellt.
Rz. 61
Der Spender besteht im Wesentlichen aus einer Basis (44), einer Abdeckung (62), einer Klappe (66), einer Sicherungseinrichtung (52), einer Befestigungseinrichtung (58) und einer Verriegelung (82).
Rz. 62
Die Basis (44) und die Abdeckung (62) bilden einen Hohlraum zur Aufnahme einer Papierrolle (42). Die beiden Teile können durch Kleben, durch mechanische Befestigungsmittel oder durch Schweißen miteinander verbunden sein. Die Abdeckung (62) kann auch lose über der Basis (44) angebracht oder integral mit dieser ausgebildet sein (S. 7 Z. 20-32).
Rz. 63
Beide Teile können aus verschiedenen Kunststoffen gefertigt sein (S. 7 Z. 26-28). So kann die Abdeckung (62) aus einem halbtransparenten oder transluzenten Material hergestellt sein, um die Papierrolle und damit den Füllstand sehen und kontrollieren zu können. Alternativ ist auch eine Gestaltung möglich, bei der die Abdeckung (62) aus einem opaken Material besteht, das optional ein als Fenster dienendes transparentes Material umschließt (S. 7 Z. 32 bis S. 8 Z. 1-2; S. 14 Z. 4-8).
Rz. 64
bb) Wie der Senat bereits im Zusammenhang mit dem früher zu beurteilenden Patent ausgeführt und auch das Patentgericht im Ansatz nicht verkannt hat, sind damit die Merkmale 2 a (3) und 2 b (2) nicht offenbart.
Rz. 65
Die Abdeckung (62) der in Ni3 offenbarten Vorrichtung entspricht dem Spenderteil im Sinne des Streitpatents. Für dieses Bauteil offenbart Ni3 eine Ausführungsform mit zwei unterschiedlichen Materialien nur in der Gestalt, dass ein Fenster aus transparentem Material von einer Komponente aus opakem Material umschlossen wird. Dies entspricht der in Ni1 offenbarten Gestaltung und offenbart die Merkmale 2 a (3) und 2 b (2) aus den bereits oben aufgezeigten Gründen nicht.
Rz. 66
cc) Wie der Senat ebenfalls bereits ausgeführt und näher begründet hat, ergab sich ausgehend von Ni1 aus Ni3 allenfalls die Anregung, die Abdeckung des in Ni1 offenbarten Spenders vollständig halbtransparent oder transluzent auszugestalten, nicht aber eine zweiteilige Ausführung mit den Merkmalen 2 a (3) und 2 b (2).
Rz. 67
IV. Die angefochtene Entscheidung erweist sich nicht aus anderen Gründen als im Ergebnis zutreffend (§ 119 Abs. 1 PatG).
Rz. 68
1. Entgegen der Auffassung der Berufungserwiderung sind die Merkmale 2 a (3) und 2 b (2) in den ursprünglich eingereichten Unterlagen als zur Erfindung gehörend offenbart.
Rz. 69
Wie bereits oben dargelegt wurde, sind diese Merkmale bei dem in Figur 13 dargestellten Ausführungsbeispiel verwirklicht. In den hierauf bezogenen Ausführungen in der Anmeldung, deren Inhalt mit der veröffentlichten Version (WO 2009/138453) übereinstimmt, heißt es, die Naht (93) verlaufe von einer ersten Seitenkante (94) zu einer zweiten Seitenkante (95) des Spenderteils (90) (S. 29 Z. 15 bis 17). Auch wenn darin nicht das Wort "freie Seitenkante" verwendet wird, ergibt sich daraus hinreichend deutlich, dass die Naht an einer solchen Kante beginnt und endet.
Rz. 70
Ferner ist in der Anmeldung auch die Unterscheidung zwischen von der vorderen Fläche abgewandten Seitenkanten und freien Kanten im Allgemeinen offenbart. Die hierauf bezogenen Ausführungen in der Streitpatentschrift (Abs. 33, 34) finden sich identisch in der Anmeldung des Streitpatents wieder (WO 2009/138453, S. 11 Z. 17-18 und Z. 23).
Rz. 71
2. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der mit dem Hauptantrag verteidigten Fassung war ausgehend von Ni1 auch nicht durch die europäische Patentanmeldung 1 181 884 (Ni21) nahegelegt.
Rz. 72
a) Entgegen der Auffassung der Berufung sind die erst im Berufungsverfahren vorgelegte Ni21 und das Vorbringen dazu nicht präkludiert.
Rz. 73
aa) Die genannten Angriffsmittel unterliegen nicht der Zurückweisung gemäß § 117 PatG sowie § 529 Abs. 1 Nr. 2 und § 531 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Die Klägerin hatte keine Veranlassung, sie bereits in erster Instanz geltend zu machen.
Rz. 74
Das Patentgericht hat in dem nach § 83 Abs. 1 PatG erteilten Hinweis mitgeteilt, dass die Patentfähigkeit des Streitpatents aufgrund der zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Entgegenhaltungen zu verneinen sein dürfte. Bei dieser Ausgangslage war die Klägerin in erster Instanz nicht gehalten, vorsorglich weitere Entgegenhaltungen anzuführen.
Rz. 75
bb) Die Angriffsmittel sind auch nicht nach § 117 PatG sowie § 530, § 521 Abs. 1 und § 296 ZPO präkludiert.
Rz. 76
Die Klägerin hat die Angriffsmittel zwar erst nach Ablauf der ihr gesetzten Frist zur Berufungserwiderung vorgebracht. Hierdurch wird die Entscheidung des Rechtsstreits aber nicht verzögert. Die Beklagte hatte ausreichend Zeit, um auf das Vorbringen einzugehen und der Senat kann ohne Vertagung der mündlichen Verhandlung über die Berufung entscheiden.
Rz. 77
b) Ni21 befasst sich mit der Aufgabe, einen Spender bereitzustellen, der eine hygienische Ausgabe von Reinigungstüchlein, insbesondere von angefeuchtetem Toilettenpapier ermöglicht und die Tüchlein vor in der Atmosphäre auftretenden Keimen bewahrt (Abs. 4).
Rz. 78
Zur Lösung schlägt Ni21 einen Spender mit einem Detektor vor, der einen elektrischen Antriebsmechanismus zur zeitgerechten portionsweisen Ausgabe der Reinigungstüchlein aktiviert.
Rz. 79
Ein Ausführungsbeispiel ist in geschlossenem Zustand in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 1 und mit geöffnetem Gehäuseoberteil in Figur 2 dargestellt.
Rz. 80
Der Spender (100) besteht aus einem Oberteil (1) und einem Unterteil (4). Das Oberteil (1) weist ein zentrales Fenster (2) auf, hinter dem ein Näherungsdetektor für die bedarfsgerechte Ausgabe von Feuchttüchlein (T) angeordnet ist. Das Vorhandensein eines zur Ausgabe bereiten Tüchleins lässt sich durch ein opakes [sic] Sichtfenster (3) erkennen (Abs. 31). Der Spender ist aus bekannten Materialien hergestellt, insbesondere aus Kunststoffen (Abs. 54).
Rz. 81
c) Damit ist Merkmal 2 b (2) nicht offenbart.
Rz. 82
Die Naht zwischen dem größeren Teil des Oberteils (1) und dem Sichtfenster (3) verläuft zwar zwischen zwei freien Seitenkanten des Oberteils. Sie beginnt und endet aber an den nach unten weisenden Kanten und damit nicht an den Seitenkanten, die von der vorderen Fläche abgewandt sind. Diese Anordnung entspricht dem in Figur 14 der Streitpatentschrift dargestellten Ausführungsbeispiel des Streitpatents, bei dem Merkmal 2 b (2) aus den bereits oben dargelegten Gründen ebenfalls nicht verwirklicht ist.
Rz. 83
d) Ebenfalls nicht offenbart sind die Merkmale 2 b (1), 2 b (3), 2 b (4) und 2 d.
Rz. 84
e) Merkmal 2 b (2) war ausgehend von Ni1 durch Ni21 auch nicht nahegelegt.
Rz. 85
Dabei kann dahingestellt bleiben, ob es ausgehend von Ni21 nahelag, den Verlauf der Naht so zu ändern, dass diese die beiden von der vorderen Fläche abgewandten Seitenkanten des Oberteils (1) miteinander verbindet. Selbst wenn dies zu bejahen wäre, hätte jedenfalls kein Anlass bestanden, diese Ausgestaltung auf den in Ni1 offenbarten Spender zu übertragen.
Rz. 86
Wie die Berufung zu Recht geltend macht, hätte sich eine solche Übertragung allenfalls dann angeboten, wenn die in Ni21 offenbarte Funktion des Sichtfensters (3) auch im Zusammenhang mit Ni1 relevant wäre. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt.
Rz. 87
Sowohl in Ni21 als auch in Ni1 haben die offenbarten Fenster zwar die Funktion, die Verfügbarkeit von Papiertüchern erkennbar zu machen. Die in Ni21 offenbarte Anordnung des Sichtfensters brächte für die in Ni1 offenbarte Vorrichtung aber keinen entscheidenden Vorteil. Eine Vergrößerung des in Ni1 offenbarten Fensters könnte zwar den Benutzerkomfort in gewissem Umfang vergrößern und die ästhetische Ausgestaltung wesentlich beeinflussen. Eine Erstreckung des Fensters über die vordere Fläche des Spenderteils hinaus könnte hierzu jedoch nicht beitragen, weil die Sicht in diesem Bereich durch das nicht transparente, an der Wand befestigbare Basisteil des Spenders beeinträchtigt wäre.
Rz. 88
3. Der mit dem Hauptantrag verteidigte Gegenstand war auch durch die von der Klägerin geltend gemachte Vorbenutzung eines Papierspenders des Unternehmens Kimberly-Clark mit der Modellnummer 6973 (Anlagenkonvolut Ni7a-f, Anlagenkonvolut Ni9a-f, Ni10 bis Ni17) weder vorweggenommen noch nahegelegt. Deshalb kann offenbleiben, ob diese Vorbenutzung vor dem Prioritätstag des Streitpatents offenkundig war.
Rz. 89
a) Wie der Senat bereits im Zusammenhang mit dem früher zu beurteilenden Patent ausgeführt und näher begründet hat, ergibt sich aus den vorgelegten Abbildungen, dass die Abdeckung des Spenders zwar ein transparentes Fenster aufweist, das sich an der Vorderseite und über deren Unterkante hinweg auch ein Stück weit in der Bodenfläche erstreckt, dieses Fenster aber allseitig von opakem Material umgeben ist.
Rz. 90
b) Damit fehlt es schon deshalb an einer Offenbarung von Merkmal 2 b (2), weil die Naht zwischen den beiden Bereichen nicht an einer freien Kante endet.
Rz. 91
c) Ausgehend von der geltend gemachten Vorbenutzung ergab sich auch im Lichte von Ni21 nicht die Anregung, das Fenster so anzuordnen, dass Merkmal 2 b (2) verwirklicht ist.
Rz. 92
Dabei kann dahingestellt bleiben, ob angesichts von Ni21 Veranlassung bestand, das bei der Vorbenutzung vorhandene Fenster so zu verbreitern, dass es sich über die Vorderseite hinaus auch in die seitlichen Flächen hinein erstreckt. Jedenfalls bestand keine Veranlassung, von einer allseitigen Umrandung des Fensters abzusehen.
Rz. 93
Die geltend gemachte Vorbenutzung zeigt, dass eine Erstreckung über mehrere Flächen auch dergestalt möglich ist, dass eine allseitige Umrandung verbleibt. Ein Abweichen von diesem Konzept zugunsten der in Ni21 offenbarten Anordnung war schon deshalb nicht veranlasst, weil der untere Teil der Abdeckung anders als in Ni21 nicht vollständig frei steht, sondern an den Seiten mit dem an der Wand befestigbaren Basisteil verbunden ist.
Rz. 94
4. Eine Ausgestaltung nach dem Streitpatent war auch ausgehend von Ni21 nicht nahegelegt.
Rz. 95
Aus fertigungstechnischer Sicht mag es keinen großen Unterschied machen, ob Anfang und Ende der Naht an einer nach unten zeigenden oder an einer von der Vorderseite abgewandten freien Seitenkante liegen. Ausgehend von der Funktion, die dem Fenster nach Ni21 zukommt, war eine solche Modifikation jedoch nicht veranlasst.
Rz. 96
Wie bereits oben dargelegt wurde, soll das Fenster nach Ni21 es ermöglichen, ein bereit gestelltes Tüchlein zu erkennen. Hierzu genügt es, wenn das dem Benutzer zugewandte Ende des Tuchs von vorne und von der Seite zu erkennen ist. Die in Ni21 offenbarte Ausgestaltung ermöglicht beides. Eine Verlängerung des Fensters bis an das rückwärtige Ende der Seitenwände wäre nicht mit erkennbarem Zusatznutzen verbunden. Dass eine solche Ausgestaltung technisch möglich wäre, vermag allein keine hinreichende Veranlassung zu begründen, sie auch in Erwägung zu ziehen und vorzunehmen.
Rz. 97
V. Die Sache ist zur Endentscheidung reif (§ 119 Abs. 5 PatG).
Rz. 98
Das Streitpatent erweist sich aus den oben dargelegten Gründen in dem noch verteidigten Umfang als rechtsbeständig.
Rz. 99
VI. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG sowie § 92 Abs. 1 und § 91 Abs. 1 ZPO.
Rz. 100
Die Beklagte hat einen Teil der erstinstanzlichen Kosten zu tragen, weil sie ursprünglich die vollständige Abweisung der Klage beantragt hat und ihr zuletzt gestellter Hauptantrag zu einer erheblichen inhaltlichen Beschränkung des geschützten Gegenstands führt.
Rz. 101
Die zweitinstanzlichen Kosten fallen hingegen in vollem Umfang der Klägerin zur Last, weil die Beklagte mit ihrem zweitinstanzlichen Hauptantrag erfolgreich war.
Bacher |
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Hoffmann |
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Deichfuß |
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Kober-Dehm |
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Rombach |
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Fundstellen
Dokument-Index HI15697680 |