Entscheidungsstichwort (Thema)
nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung
Verfahrensgang
LG Neubrandenburg (Beschluss vom 27.10.2010) |
Tenor
1.
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss des Landgerichts Neubrandenburg vom 27. Oktober 2010 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zur Verhandlung und erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Tatbestand
Rz. 1
Der Verurteilte, um dessen nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung es im vorliegenden Verfahren geht, war vom Landgericht mit Urteil vom 28. Juli 1993 wegen Gefangenenmeuterei unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des Bezirksgerichts Neubrandenburg vom 24. Februar 1992 und unter Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt worden. Gegenstand der einbezogenen Entscheidung ist eine Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung (ein Jahr Freiheitsstrafe) und Mordes (14 Jahre Freiheitsstrafe). Sämtliche Straftaten beging der Verurteilte im Beitrittsgebiet. Das Strafende war auf den 18. Februar 2011 notiert.
Rz. 2
Bereits vor Erreichen des Strafendes hatte die Staatsanwaltschaft mit Antragsschrift vom 1. Juli 2010, bei Gericht eingegangen am 6. Juli 2010, beantragt, gemäß § 66b Abs. 1 StGB a.F. nachträglich die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Hiervon informierte das Landgericht den Verurteilten. Durch eine als „Beschluss” bezeichnete Entscheidung vom 27. Oktober 2010 hat das Landgericht diesen Antrag ohne Hauptverhandlung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass zwar die „Voraussetzungen des § 66b Abs. 1 in Verbindung mit § 66 StGB … zu bejahen” seien, nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (NJW 2010, 2495) und dem Beschluss des erkennenden Senats vom 12. Mai 2010 (4 StR 577/09, NStZ 2010, 567, 568) aber eine Sicherungsverwahrung gegen den Verurteilten nach § 66b StGB nicht verhängt werden könne, da im Zeitpunkt der Tatbegehung die Straftat nicht mit Sicherungsverwahrung bedroht gewesen sei. Die Staatsanwaltschaft hat gegen die ihr am 2. November 2010 zugestellte Entscheidung am 4. November 2010 „sofortige Beschwerde” eingelegt. Mit einem am 2. Dezember 2010 beim Landgericht eingegangenen Schriftsatz gleichen Datums hat sie dieses Rechtsmittel sodann als Revision bezeichnet und die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat mit der Verfahrensrüge Erfolg.
I.
Rz. 3
Mit Beschluss vom 3. Februar 2011 hatte der Senat die Entscheidung über das Rechtsmittel im Blick auf das vom 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs mit Beschluss vom 9. November 2010 (5 StR 394/10 u.a., NJW 2011, 240; zum Abdruck in BGHSt bestimmt) eingeleitete Anfrageverfahren zurückgestellt. Die Sache ist nunmehr entscheidungsreif, nachdem der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in den den Anfrageverfahren zugrunde liegenden Strafsachen mit Beschluss vom 23. Mai 2011 zur Sache entschieden hat, ohne zuvor den Großen Senat für Strafsachen anzurufen.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 4
Die zulässige Revision der Staatsanwaltschaft beanstandet zu Recht, dass das Landgericht über ihren Antrag ohne die nach § 275a Abs. 2 und 3 StPO erforderliche Hauptverhandlung entschieden hat.
Rz. 5
1. Gegen die Entscheidung des Landgerichts ist das Rechtsmittel der Revision statthaft (§ 333 StPO).
Rz. 6
Zwar hat das Landgericht seine Entscheidung als „Beschluss” bezeichnet. Dies führt aber nicht dazu, dass eine Beschwerde nach §§ 304 ff. StPO das statthafte Rechtsmittel wäre. Auf die Bezeichnung der Entscheidung kommt es nicht an. Maßgebend für die Frage, welches Rechtsmittel statthaft ist, ist das Verfahrensrecht. Danach sind Urteile solche Entscheidungen, die eine mündliche Verhandlung und eine öffentliche Verkündung voraussetzen. Ohne Bedeutung ist, ob eine mündliche Verhandlung und eine öffentliche Verkündung wirklich stattgefunden haben. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob die betreffende Entscheidung nach dem Gesetz nur auf Grund mündlicher Verhandlung und im Wege öffentlicher Verkündung hätte ergehen dürfen. Sind Verhandlung und Verkündung in einem solchen Fall entgegen dem Gesetz unterblieben, handelt es sich für die Frage der Anfechtbarkeit dennoch um ein Urteil (BGH, Urteil vom 1. Juli 2005 – 2 StR 9/05, BGHSt 50, 180, 186; Beschluss vom 17. Februar 2010 – 2 StR 524/09, BGHSt 55, 62, 63 f.; vgl. weiter BGH, Beschlüsse vom 20. Dezember 1955 – 5 StR 363/55, BGHSt 8, 383, 384, und vom 30. Oktober 1973 – 5 StR 496/73, BGHSt 25, 242, 243, zu „Urteilen”, die verfahrensrechtlich Beschlüsse waren). Nach § 275a Abs. 2 StPO ist über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung auf Grund einer Hauptverhandlung zu entscheiden. Diese Entscheidung ergeht durch Urteil (§ 275a Abs. 2 i.V.m. § 260 Abs. 1 StPO). Dieses ist grundsätzlich in öffentlicher Verhandlung zu verkünden (§ 169 GVG). Ein schriftliches Verfahren ist für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei der vom Gesetzgeber gewählten Hauptverhandlungslösung nicht vorgesehen; insbesondere kommt eine analoge Anwendung der Regelungen über das Zwischenverfahren nicht in Betracht (BGH, Urteil vom 6. Dezember 2005 – 1 StR 441/05, NStZ-RR 2006, 74).
Rz. 7
Dass die Staatsanwaltschaft ihr Rechtsmittel zunächst irrtümlich als „sofortige Beschwerde” bezeichnet hat, ist nach § 300 StPO ebenfalls unschädlich. Diese Vorschrift gilt auch für Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft (Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 300 Rn. 2). Im Übrigen hat sie selbst das Rechtsmittel noch innerhalb der Revisionsbegründungsfrist als „Revision” bezeichnet.
Rz. 8
2. Die Verfahrensrüge ist zulässig und begründet. Entgegen der Vorschrift des § 275a Abs. 2 StPO hat das Landgericht ohne Hauptverhandlung entschieden.
Rz. 9
Die Entscheidung beruht auf dieser Gesetzesverletzung. Das kann der Senat bereits deswegen nicht ausschließen, weil die Strafkammer bei der Entscheidung neben dem Vorsitzenden mit zwei Berufsrichtern, aber nicht mit Schöffen besetzt war. In ordnungsgemäßer Besetzung für eine Hauptverhandlung wäre das Ergebnis möglicherweise ein anderes gewesen.
Rz. 10
Die vom 1. Strafsenat in seinem Urteil vom 6. Dezember 2005 (aaO S. 75) aufgeworfene Frage, ob das Beruhen zu verneinen ist, wenn zwingend vorgeschriebene formale – also ohne jede wertende Würdigung feststellbare – Voraussetzungen für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung fehlen, bedarf auch hier keiner Entscheidung. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a.; dort Rn. 164) die vom Landgericht zu Grunde gelegte und auch vom Senat in seinem Beschluss vom 12. Mai 2010 (4 StR 577/09, NStZ 2010, 567) vertretene Auffassung, § 2 Abs. 6 StGB i.V.m. Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK stehe einer rückwirkenden Anwendung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung entgegen, verworfen. Die vollständige Verbüßung der Strafe und die Haftentlassung des Verurteilten stehen der Fortsetzung des Verfahrens nicht entgegen (vgl. BGH, Urteil vom 1. Juli 2005 – 2 StR 9/05, BGHSt 50, 180, 181 f.). Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung ist rechtzeitig gestellt (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 – 2 StR 272/05, BGHSt 50, 284, 290; Beschluss vom 26. Mai 2010 – 2 StR 263/10, BGHR StPO § 275a Antrag 2). Die Erfüllung der formellen Voraussetzungen der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 1 oder 2 StGB a.F. kann auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen jedenfalls nicht verneint werden; insoweit verweist der Senat auf die Darlegungen des Generalbundesanwalts in seiner Terminzuschrift und die darin wiedergegebenen Ausführungen des Generalstaatsanwalts in Rostock.
III.
Rz. 11
Das Landgericht wird nunmehr in der gebotenen Form und nach Einholung der Gutachten von zwei Sachverständigen nach Maßgabe des § 275a Abs. 4 Satz 2 und 3 StPO über den Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu befinden haben. Dabei ist der Antrag unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen (BGH, Urteil vom 6. Dezember 2005 – 1 StR 441/05, NStZ-RR 2006, 74, 75). § 66b StGB ist in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung anzuwenden (§ 2 Abs. 6 StGB; Art. 316e Abs. 1 Satz 2 EGStGB; Art. 316e Abs. 2 EGStGB gilt nur für die Anordnung der primären Sicherungsverwahrung, BT-Drucks. 17/3403 S. 50 und Kinzig NJW 2011, 177, 180). Zwar hat das Bundesverfassungsgericht diese Vorschrift in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a.) für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt. Jedoch hat es in Ziff. III. des Urteilstenors eine Weitergeltungsanordnung getroffen; diese hat Gesetzeskraft (BGBl. I S. 1003, 1004 f.). Danach ist § 66b Abs. 2 StGB a.F., der in den sog. Altfällen Rückwirkung entfaltet (BVerfG aaO Rn. 148, 149), bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013, nur noch nach den engen Maßgaben in Ziff. III. 2. Buchst. a des Tenors anzuwenden. Im Gegensatz dazu hatte das Bundesverfassungsgericht nach der Fassung der Weitergeltungsanordnung (Ziff. III. 1. in Verbindung mit Ziff. II. 1. Buchst. b des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011) die weitere Anwendung des § 66b Abs. 1 StGB a.F. nach Maßgabe der Gründe seines Urteils angeordnet und diese damit an sich nur von einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung (Rn. 172) abhängig gemacht (vgl. Senat, Beschluss vom 26. Mai 2011 – 4 StR 650/10). Jedoch hat es mit Senatsbeschluss vom 8. Juni 2011 (2 BvR 2846/09) klargestellt, dass die im Urteil vom 4. Mai 2011 festgesetzten höheren Verhältnismäßigkeitsanforderungen an die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung in allen Fällen mit Rückwirkung – und damit auch in dem hier zu entscheidenden – gelten. Der neu zur Entscheidung berufene Tatrichter wird daher in materieller Hinsicht zu prüfen haben, ob eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes vom 22. Dezember 2010 zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz – ThUG; BGBl. I. 2300) leidet.
Unterschriften
Ernemann, Roggenbuck, Cierniak, Bender, Quentin
Fundstellen
Haufe-Index 2735734 |
NStZ 2011, 693 |