Entscheidungsstichwort (Thema)
schwere Körperverletzung
Leitsatz (amtlich)
1. § 226 Abs. 2 StGB ist nicht Strafzumessungsvorschrift, sondern Qualifikationstatbestand.
2. Zur Erfüllung des Tatbestandes des § 226 Abs. 2 StGB reicht es aus, daß der Täter die schwere Körperverletzung als sichere Folge seines Handelns voraus- sieht. Die Vorschrift ist – etwa nach strafbefreiendem Rücktritt vom Tötungsversuch – auch bei direktem Tötungsvorsatz anwendbar; die entgegenstehende frühere Rechtsprechung (BGH NStZ 1997, 233, 234) ist überholt.
Normenkette
StGB 1998 § 226 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 6. April 2000 mit den Feststellungen – mit Ausnahme derjenigen zur „Vorgeschichte” und zum äußeren Tatgeschehen – aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Von Rechts wegen
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer Körperverletzung (§ 226 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 StGB) in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer (halbautomatischen) Selbstladekurzwaffe zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Gegen dieses Urteil wendet sich die Nebenklägerin mit ihrer auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision, mit der sie rügt, daß der Angeklagte nicht nach § 226 Abs. 2 StGB verurteilt wurde und daß das Landgericht davon ausgegangen ist, die vom Angeklagten verursachte 90 %ige Sehbehinderung auf einem Auge sei nicht dem Verlust des Sehvermögens (§ 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB) gleichzustellen.
Das Rechtsmittel hat im wesentlichen Erfolg.
1. Die Revision ist zulässig.
Allerdings kann die Nebenklägerin das Urteil nicht (allein) mit dem Ziel anfechten, daß eine andere Rechtsfolge verhängt wird (§ 400 Abs. 1 1. Halbsatz StPO). Das wäre der Fall, wenn es der Nebenklägerin darauf ankäme – wegen der Nichtanwendung des § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB – einen der Verurteilung zugrunde gelegten zu geringen Schuldumfang zu beanstanden (vgl. BGHSt 41, 140, 144; BGH NStZ-RR 1997, 371 [weiteres Mordmerkmal]; BGHR StPO § 400 Abs. 1 Zulässigkeit 4; Kurth in HK-StPO 2. Aufl. § 400 Rdn. 8, 9). Ziel des Rechtsmittels der Nebenklägerin ist jedoch ersichtlich in erster Linie, eine Verurteilung nach dem Nebenklagedelikt (§ 395 Abs. 1 Nr. 1 c StPO) § 226 Abs. 2 StGB zu erreichen. Dieses Rechtsmittelziel ist zulässig, weil § 226 Abs. 2 StGB nicht Strafzumessungsvorschrift, sondern Qualifikationstatbestand ist:
§ 226 StGB i.d.F. des Sechsten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 26. Januar 1998 (BGBl I 164) ersetzt sowohl den bisherigen § 224 StGB (schwere Körperverletzung) als auch den durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz (VerbrBekG) vom 28. Oktober 1994 (BGBl I 3186) neu gefaßten Qualifikationstatbestand (BTDrucks. 12/6853 S. 26; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT Teilband 1 8. Aufl. [1995] § 9 Rdn. 27) § 225 StGB (besonders schwere Körperverletzung) und faßt beide Strafvorschriften zusammen (s. BTDrucks. 13/8587 S. 37). § 225 Abs. 2 StGB i.d.F. des VerbrBekG wurde – mit erhöhter Strafdrohung – § 226 Abs. 2 StGB n.F.
Im Gesetzgebungsverfahren zum 6. Strafrechtsreformgesetz wurde der Tatbestand des § 226 Abs. 2 StGB n.F. mehrfach angesprochen und es wurde betont, daß er der „Schwerkriminalität” zuzurechnen sei (BTDrucks. 13/8587 S. 37, 61). Da sich die Deliktsnatur der Bestimmung (vgl. hierzu BGHSt 32, 332 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht AT 29. Aufl. Rdn. 18 ff., 107 ff.) durch die Neufassung des Gesetzes nicht geändert hat, ist sie Qualifikationstatbestand (absichtlich bzw. wissentlich verursachte schwere Körperverletzung) – mit gegenüber § 226 Abs. 1 StGB anderen subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen – geblieben (vgl. BTDrucks. 13/8587 S. 22 [8.]; Joecks, StGB-Studienkommentar 2. Aufl. § 226 Rdn. 2; Schumacher in Schlüchter (Hrsg.), Bochumer Erläuterungen zum 6. StrRG (1998) § 226 Rdn. 9; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/1 23. Aufl. Rdn. 248, 285; Tröndle/Fischer StGB 49. Aufl. § 226 Rdn. 18).
2. Die Revision hat auch im wesentlichen Erfolg.
a) Nach den Feststellungen beabsichtigte der Angeklagte am späten Abend des 27. Oktober 1999, die 21jährige „Nebenfrau” seines Bruders M. – die Nebenklägerin K. C. –, die er für den Streit in seiner Familie als verantwortlich ansah, mit dem Revolver seines Bruders zu töten. In Ausführung seines Vorhabens schoß er aus einer Entfernung von etwa einem Meter
„wortlos aus der Hüfte auf K. 's Rumpf … in der Erwartung, daß nun Blut spritzte und sie sterbend zusammenbrach. Sie blieb indes stehen, sah ihn erstaunt an. Als er erkannte, daß … der Schuß nicht die erwarteten Folgen hatte, trat er zu ihr, ergriff ihre Haare, zog ihren Kopf seitlich nach hinten, setzte seine Waffe zwischen dem rechten Augenrand und der Schläfe auf, sah K. in die Augen und feuerte. K. stürzte schwer verletzt, sofort halbseitig gelähmt, zu Boden” (UA 9/10).
Danach meldete der Angeklagte der Polizei, daß er „auf jemanden geschossen” habe. Er wußte, daß Frau C. noch lebte und wollte durch den Anruf Rettungsmaßnahmen veranlassen; ihr Leben konnte gerettet werden, durch die Schüsse wurde sie jedoch schwer verletzt. Der erste Schuß hatte zu einer starken inneren Blutung geführt, der zweite „war in der Nähe des rechten Augenrandes in den Schädel eingedrungen und knapp rechts neben der Mittellinie neben dem Scheitel wieder ausgetreten”. Dadurch war „das Hirngewebe im Bereich des rechten Stirnhirnes im vorderen Bereich des Scheitels mit wichtigen zentralen Schaltfunktionen zerrissen worden, wodurch eine große Blutung entstand”. Diese Verletzung hatte eine sofortige linksseitige Lähmung zur Folge. Die Lähmung ist inzwischen leicht zurückgegangen. Die Nebenklägerin kann mittlerweile das linke Bein bei noch gelähmtem Fuß etwas bewegen, ihr linker Arm ist jedoch vollständig gelähmt. Auf dem linken Auge ist lediglich eine Sehkraft von 10 % erhalten geblieben. Durch die Notoperation ist eine „quer über den Leib verlaufende Narbe” verblieben. Die Nebenklägerin kann sich nur im Rollstuhl fortbewegen und ist auf fremde Hilfe angewiesen; eine „komplette Restitution der körperlichen Funktionen ist … eher unwahrscheinlich” (UA 11).
b) Das Landgericht hat das Geschehen – soweit es Nebenklagedelikte betrifft – dahingehend rechtlich gewürdigt, daß der Angeklagte wegen der von ihm eingeleiteten Rettungsmaßnahmen von dem mit direktem Vorsatz begangenen Tötungsversuch mit strafbefreiender Wirkung zurückgetreten sei. Er habe sich daher (nur) der schweren Körperverletzung nach § 226 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 StGB schuldig gemacht. § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB liege nicht vor, weil die geminderte Sehkraft auf einem Auge nicht dem Verlust dieses Organs gleichzustellen sei; ein „besonders schwerer Fall” der schweren Körperverletzung [§ 226 Abs. 2 StGB] sei nicht gegeben, weil nicht festgestellt werden könne, daß die schweren Folgen absichtlich herbeigeführt worden seien und der Tötungsvorsatz als Durchgangsstadium nur eine Körperverletzung enthalte, nicht aber schwere Schädigungen eines noch lebenden Menschen (UA 18).
c) Diese Würdigung weist im Ergebnis keinen Rechtsfehler auf, soweit das Landgericht davon ausgeht, der Angeklagte habe mit „unbedingtem Tötungswillen” (UA 15) gehandelt, er sei aber vom Tötungsversuch strafbefreiend zurückgetreten (vgl. BGHSt 39, 221, 227 f.; BGH StV 1999, 594 f.). Die Erwägung, mit der § 226 Abs. 2 StGB verneint wird, hält jedoch rechtlicher Überprüfung nicht stand:
Das Landgericht hat nicht verkannt, daß der Tötungsvorsatz stets mit dem Körperverletzungsvorsatz verbunden ist (st. Rspr., s. nur BGHSt 16, 122, 123; 44, 196, 199). Aus diesem Grunde war zu § 225 Abs. 1 StGB a.F. in der Rechtsprechung anerkannt, daß ein versuchtes Tötungsdelikt, begangen mit bedingtem Vorsatz, in Tateinheit mit beabsichtigter schwerer Körperverletzung stehen konnte (vgl. BGHR StGB § 225 Konkurrenzen 1, 2; offengelassen in BGHSt 22, 248, 249 f.). Bei direktem Tötungsvorsatz – wie hier – war zu § 225 StGB in der Fassung vor Inkrafttreten des Verbrechensbekämpfungsgesetzes, nach dem mit erhöhter Freiheitsstrafe bedroht wurde, wenn eine der schweren Folgen „beabsichtigt und eingetreten” war, Tateinheit (nur) dann für möglich gehalten worden, wenn sich ein direkter – alternativer – Vorsatz sowohl auf den Tod des Opfers als auch für den Fall, daß dieser „Erfolg” nicht eintreten sollte, auf eine dann ernsthaft in Betracht gezogene schwere Körperverletzungsfolge im Sinne des § 224 StGB a.F. gerichtet hat (vgl. BGHR StGB § 225 Konkurrenzen 3 = NStZ 1997, 233, 234). Zur Begründung wurde angeführt, daß § 224 StGB a.F. Qualifikationen – wie etwa den Verfall in Geisteskrankheit oder Siechtum – enthalte, die schon begrifflich ein Weiterleben des Opfers voraussetzen, und die für § 225 StGB a.F. erforderliche Absicht, die sich auf den Eintritt einer schweren Folge der Körperverletzung beziehen mußte, daher regelmäßig mit einem direkten Tötungsvorsatz nicht zu vereinbaren war.
Mit der Änderung des § 225 StGB durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz, durch die die absichtliche ≪dolus directus 1. Grades≫ oderwissentliche ≪dolus directus 2. Grades≫ Verursachung der schweren Folge unter eine erhöhte Strafdrohung gestellt wurde (vgl. BTDrucks. 12/6853 S. 27), und die Übernahme dieser Regelung in § 226 Abs. 2 StGB i.d.F. des 6. StrRG ist diese Rechtsprechung überholt. Nunmehr reicht es zur Tatbestandserfüllung aus, daß der Täter – alternativ zur beabsichtigten Tötung – die schwere Folge als sichere Auswirkung seiner Handlung voraussieht (vgl. Horn in SK-StGB 7. Aufl. § 226 Rdn. 24; Tröndle/Fischer aaO § 226 Rdn. 19; s. auch BGH, Urteil vom 14. Februar 1996 – 3 StR 445/95 S. 4, insoweit in BGHSt 42, 43 nicht abgedruckt, und zur Vorsatzform „wissentlich” BGHSt 45, 97, 100; BGHR StPO § 60 Nr. 2 Tatbeteiligung 5).
Nach dem festgestellten Geschehensablauf liegt dies hier nahe; Feststellungen zur inneren Tatseite insoweit fehlen jedoch.
3. Die Sache bedarf daher auf die Revision der Nebenklägerin neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat verweist die Sache an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurück, weil das Verfahren nicht mehr einen in § 74 Abs. 2 GVG bezeichneten Straftatbestand betrifft (vgl. BGH NJW 1994, 3304, 3305 m.w.N.). Der neue Tatrichter wird wiederum zu prüfen haben, ob neben den in § 226 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 StGB bezeichneten schweren Folgen bei der Nebenklägerin auch ein Verlust des Sehvermögens auf einem Auge (§ 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB) eingetreten ist. Ob (nur) eine schwere Beeinträchtigung oder der Verlust des Sehvermögens vorliegt, ist in erster Linie vom Tatrichter zu entscheiden (vgl. RGSt 71, 119, 120). Liegt ein faktischer Verlust der Sehkraft (vgl. hierzu RGSt 58, 173; 63, 423, 424; 71, 119, 120; 72, 321 f.; OLG Hamm GA 1976, 304, 306; Horn aaO Rdn. 6; Hirsch in LK 10. Aufl. § 224 Rdn. 14) nicht vor, so scheidet § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB aus.
Der Senat hält die von dem Rechtsfehler nicht betroffenen Feststellungen zur „Vorgeschichte” (UA 5 bis 7) und zum auf UA 8 bis 10 dargestellten äußeren Tatgeschehen aufrecht. Dies schließt ergänzende Feststellungen, die den bisherigen nicht widersprechen, nicht aus.
Unterschriften
Meyer-Goßner, Maatz, Kuckein, Athing, Ernemann
Fundstellen
Haufe-Index 508030 |
NJW 2001, 980 |
Nachschlagewerk BGH |
ZAP 2001, 375 |
JZ 2002, 413 |
JuS 2001, 513 |
StV 2001, 162 |
StraFo 2001, 207 |
JURAtelegramm 2001, 171 |
LL 2001, 337 |