Entscheidungsstichwort (Thema)
Procalcitonin-Schwellenwert
Leitsatz (amtlich)
Eine Patentanmeldung, die Schutz für ein Verfahren zur Diagnose einer bestimmten Erkrankung mit Hilfe eines bestimmten Stoffs als Marker beansprucht und als bevorzugte Ausführungsform die Heranziehung von Schwellenwerten aus einem bestimmten Bereich benennt, bildet keine ausreichende Offenbarungsgrundlage für ein Patent, das einen deutlich weiteren Bereich beansprucht, wenn die Anmeldung keine Hinweise darauf enthält, welche Wertebereiche neben dem als bevorzugt angeführten ebenfalls als vorteilhaft in Betracht kommen.
Normenkette
EuPatÜbk Art. 138 Abs. 1 Buchst. c; PatG § 21 Abs. 1 Nr. 4
Verfahrensgang
BPatG (Urteil vom 01.10.2019; Aktenzeichen 4 Ni 23/17 (EP)) |
Tenor
Die Berufung gegen das Urteil des 4. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts vom 1. Oktober 2019 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Die Beklagte ist Inhaberin des mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 2 084 545 (Streitpatents), das am 1. Oktober 2007 unter Inanspruchnahme einer deutschen Priorität vom 1. Oktober 2006 angemeldet wurde und ein Verfahren zur in-vitro Diagnose von bakterieller Pneumonie mit assoziierter Herzinsuffizienz betrifft. Patentanspruch 1, auf den weitere fünfzehn Patentansprüche zurückbezogen sind, lautet:
Verfahren zur in-vitro Diagnose von bakterieller Pneumonie mit assoziierter Herzinsuffizienz, dadurch gekennzeichnet, dass eine Bestimmung des Markers Procalcitonin oder eine[r] Teilsequenz davon an Proben von einem zu untersuchenden Patienten durchgeführt wird und die Bestimmung des Procalcitonin in einem Bereich von 0,01 ng/ml bis 1 ng/ml mit einem Schwellenwert zwischen 0,03 ng/ml und 0,25 ng/ml durchgeführt wird.
Rz. 2
Die Klägerinnen haben geltend gemacht, der Gegenstand des Streitpatents gehe über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung hinaus, sei nicht patentfähig und nicht so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann ihn ausführen könne. Die Beklagte hat das Streitpatent in der erteilten und hilfsweise in vier geänderten Fassungen verteidigt.
Rz. 3
Das Patentgericht hat das Streitpatent für nichtig erklärt. Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten, die ihre erstinstanzlichen Anträge weiterverfolgt. Die Klägerinnen treten dem Rechtsmittel entgegen.
Entscheidungsgründe
Rz. 4
Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg.
Rz. 5
I. Das Streitpatent betrifft ein Verfahren zur in-vitro Diagnose von bakterieller Pneumonie mit assoziierter Herzinsuffizienz unter Verwendung des Markers Procalcitonin (PCT) oder einer Teilsequenz davon.
Rz. 6
1. Der Streitpatentschrift zufolge ist Herzinsuffizienz ein entscheidender Risikofaktor für die Entstehung von Pneumonien. Beide Krankheiten könnten miteinander assoziiert sein und erschwerten aufgrund unspezifischer Symptome (Luftnot, Husten) sowohl eine Differenzierung und Abgrenzung als auch das Erkennen ihres gleichzeitigen Auftretens (Abs. 2 f.).
Rz. 7
Die PCT-Bestimmung sei im Stand der Technik zur Abgrenzung einer bakteriellen Sepsis von anderen Krankheitsbildern und im Zusammenhang mit Pneumonien beschrieben. Hierbei werde ein Schwellenwert von mehr als 0,5 ng/ml zugrunde gelegt. Auch zeigten Untersuchungen, dass mit Hilfe von Procalcitonin bei Patienten mit Verdacht auf Infektionen der unteren Atemwege (einschließlich Pneumonien) bei einer Konzentration von mehr als 0,1 ng/ml bzw. mehr als 0,25 ng/ml klinisch relevante Infektionen (darunter ebenfalls bakterielle Pneumonien) entdeckt würden, die einer Antibiotikatherapie bedürften (Abs. 4).
Rz. 8
Nicht bekannt sei jedoch ein Verfahren zur Diagnose von Infektionen oder Entzündungserkrankungen der Atemwege und Lunge mit assoziierter Herzinsuffizienz (Abs. 5).
Rz. 9
2. Das Streitpatent betrifft vor diesem Hintergrund das technische Problem, ein Verfahren zur Diagnose von Infektionen oder Entzündungserkrankungen der Atemwege und Lunge mit assoziierter Herzinsuffizienz bereitzustellen.
Rz. 10
3. Zur Lösung des Problems schlägt das Streitpatent in Patentanspruch 1 ein Verfahren vor, dessen Merkmale sich wie folgt gliedern lassen:
1. Verfahren zur in-vitro Diagnose von bakterieller Pneumonie mit assoziierter Herzinsuffizienz
2. durch Bestimmung des Markers Procalcitonin oder einer Teilsequenz davon
2.1 an Proben eines zu untersuchenden Patienten,
2.2 in einem Bereich von 0,01 ng/ml bis 1 ng/ml
2.3 mit einem Schwellenwert zwischen 0,03 ng/ml und 0,25 ng/ml.
Rz. 11
4. Einige Merkmale bedürfen der Erläuterung.
Rz. 12
a) Die Lehre des Streitpatents baut darauf auf, dass Procalcitonin als Marker für die Prognose und frühzeitige Diagnose einer bakteriellen Pneumonie eingesetzt werden kann.
Rz. 13
b) Gemäß Merkmal 1 soll das Verfahren zugleich die Diagnose einer assoziierten Herzinsuffizienz ermöglichen. Diese Diagnose erfolgt nicht mit Hilfe von Procalcitonin, sondern auf anderem Wege.
Rz. 14
Welche Mittel oder Verfahren hierzu eingesetzt werden sollen, gibt Patentanspruch 1 nicht vor. Die auf Patentanspruch 1 zurückbezogenen Ansprüche 5 bis 10 sehen in unterschiedlichen Konkretisierungsgraden die Verwendung weiterer Marker vor.
Rz. 15
c) Der in Merkmal 2.2 festgelegte Messbereich hat, wie die nachfolgend wiedergegebene Figur 2 der Streitpatentschrift veranschaulicht, seine Grundlage in einer vergleichenden Betrachtung von ermittelten PCT-Messwerten von Patienten, die an Herzinsuffizienz mit oder ohne Pneumonie leiden (Sp. 7 Z. 15-21). Aus der Darstellung ist ersichtlich, dass der Anteil von Proben mit einem PCT-Gehalt von mehr als 0,06 ng/ml bei Patienten mit Pneumonie deutlich höher ist als bei Patienten ohne Pneumonie.
Rz. 16
d) Merkmal 2.3 gibt mit dem Bereich zwischen 0,03 ng/ml und 0,25 ng/ml eine mögliche Bandbreite für Schwellenwerte vor, deren Überschreiten als Indiz für eine bakterielle Pneumonie herangezogen werden kann.
Rz. 17
Die Eignung von Schwellenwerten (cut-off-Werten), mit denen festgelegt wird, ob ein Messwert als positives oder negatives Testergebnis bewertet wird, wird häufig mit ROC-Kurven (receiver operating characteristics curves) ermittelt, wie sie in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 3 sowie den gleich aufgebauten, aber andere Patientengruppen betreffenden Figuren 1, 4, 5 und 6 der Streitpatentschrift mit zugehörigen Datentabellen beispielhaft dargestellt sind.
Rz. 18
Wie das Patentgericht unbeanstandet ausgeführt hat, basiert die ROC-Kurve auf der Auswertung einer Vielzahl von versuchsweise herangezogenen Schwellenwerten. Hierzu werden die Wertepaare von Spezifität und Sensitivität, die sich auf der Grundlage des jeweiligen Schwellenwerts ergeben, innerhalb eines Messbereichs eingetragen.
Rz. 19
Die Sensitivität bezeichnet den Prozentsatz der zutreffend als erkrankt (positiv) bewerteten Patienten (Richtig-Positiv-Rate). Die Spezifität gibt den Prozentsatz der zutreffend als nicht erkrankt (negativ) bewerteten Patienten an (Richtig-Negativ-Rate). Alternativ kann der Prozentsatz der fälschlicherweise als erkrankt bewerteten Patienten (Falsch-Positiv-Rate oder 100-Spezifität) angegeben werden. Der erste Wert ist in Figur 3 in der rechten Spalte der Tabelle dargestellt, der zweite Wert auf der x-Achse des Diagramms.
Rz. 20
Je weiter der Verlauf der Kurve von der Diagonale zwischen den Wertepaaren (0, 0) und (100, 100) entfernt ist, umso höher ist die Genauigkeit des Testverfahrens. Als Maß hierfür wird der Anteil der unterhalb der Kurve liegenden Fläche des Diagramms (area under the curve, AUC) herangezogen. In Figur 3 ist dieser Wert mit 0,898 angegeben.
Rz. 21
Als Schwellenwert, der die größte Genauigkeit bietet, wird derjenige Wert ausgewählt, bei dem die Steigung der Kurve mit der Steigung der Diagonalen übereinstimmt. Dieser Wert ist in der Tabelle von Figur 3 durch Fettdruck hervorgehoben und mit 0,06 ng/ml angegeben. In den Figuren 1, 4, 5 und 6 liegt er zwischen 0,03 ng/ml und 0,06 ng/ml.
Rz. 22
II. Das Patentgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
Rz. 23
Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung erweise sich im Hinblick auf Merkmal 2.3 als unzulässig geändert, da der Anmeldung (NK3) die Bereichsobergrenze von 0,25 ng/ml nicht als zur Erfindung gehörend zu entnehmen sei. Der in den Tabellen zu den Figuren 1 und 3 bis 6 enthaltene Schwellenwert von 0,25 ng/ml sei nur ein Vergleichswert zur Ermittlung des Schwellenwerts mit der größten diagnostischen Genauigkeit. Die in der Anmeldung enthaltene Schwellenwertbereichsangabe von 0,03 ng/ml bis 0,06 ng/ml fasse die in den Tabellen für die einzelnen Fallgruppen gefundenen kleinsten und größten Schwellenwerte mit der größten diagnostischen Genauigkeit zusammen. Soweit in der Anmeldung von einer bevorzugten Ausführungsform die Rede sei, bedeute dies, dass die einzelnen Figuren für bestimmte Patientengruppen und Erkrankungen jeweils einen einzigen konkreten Schwellenwert als Ausführungsform lehrten und die besondere Ausführungsform dies durch eine spezifische, sämtliche Ausführungsformen umfassende Schwellenwertbereichsangabe zusammenfasse. Die Anmeldung lehre nicht lediglich die Auswahl möglicher oder noch akzeptabler Schwellenwerte.
Rz. 24
Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung der Hilfsanträge 1, 2 und 4 erweise sich mit den dort beanspruchten über 0,06 ng/ml hinausgehenden Schwellenwertbereichen ebenfalls als unzulässig erweitert.
Rz. 25
Hilfsantrag 3 sei mit seiner Beschränkung auf einen Schwellenwertbereich von 0,03 ng/ml bis 0,06 ng/ml zwar zulässig. Sein Gegenstand beruhe aber nicht auf erfinderischer Tätigkeit.
Rz. 26
Die Veröffentlichung von Christ-Crain et al. (Effect of procalcitonin-guided treatment on antibiotic use and outcome in lower respiratory tract infections: cluster-randomised, single-blinded intervention trial, The Lancet 2004, 600-607, NK8) befasse sich mit der Therapiesteuerung der Antibiotikagabe bei Infektionen der unteren Atemwege mittels Messung des PCT-Wertes an Patienten und sei deshalb ein hoch relevanter Ausgangspunkt. Patienten mit assoziierter Herzinsuffizienz seien in die Studie eingeschlossen gewesen.
Rz. 27
Die Eignung der in NK8 genannten Schwellenwerte für die Abwesenheit (kleiner 0,1 ng/ml), Unwahrscheinlichkeit (zwischen 0,1 ng/ml und 0,25 ng/ml) und Wahrscheinlichkeit (zwischen 0,25 ng/ml und 0,5 ng/ml) einer bakteriellen Infektion werde in einer Anmerkung von Sandek et al. (Procalcitonin-guided antibiotic treatment in heart failure, The Lancet 2004, 1555, NK9) in Frage gestellt, insbesondere im Fall von Komorbiditäten. Hierzu werde vorgebracht, die wichtige Gruppe der Patienten mit Herzinsuffizienz könnte in NK8 unterrepräsentiert sein und Studien zeigten, dass derartige Patienten von vornherein leicht erhöhte PCT-Werte aufwiesen. Da die Autoren der NK8 in ihrer Erwiderung (ebenfalls NK9) ihre Ergebnisse auch im Hinblick auf Patienten mit einer assoziierten Herzinsuffizienz verteidigt und auf die Notwendigkeit der Verwendung hoch sensitiver Assays hingewiesen hätten, habe sich der Fachmann, ein Diplom-Chemiker der Fachrichtung Biochemie, ein Diplom-Biochemiker oder ein Molekularbiologe oder ein entsprechend zusammengesetztes Team mit langjähriger Erfahrung auf dem Gebiet der Immunologie und der Entwicklung von diagnostischen Verfahren basierend auf der Bestimmung von Blutproteinen, vor der Frage gesehen, ob die Methode der Messung von PCT-Werten bei Patienten mit einer Komorbidität, insbesondere Herzinsuffizienz, überhaupt ein geeignetes Mittel zur Diagnose einer bakteriellen Infektion der unteren Atemwege, insbesondere auch der bakteriellen Pneumonie, darstelle, und in welchem Bereich ein geeigneter Schwellenwert zu suchen sei. Zur Beantwortung dieser Fragen stellten ROC-Kurven die dem Fachmann im Prioritätszeitpunkt bekannte und als Handwerkszeug zur Verfügung stehende Auswertemethode dar.
Rz. 28
Aufgrund der veröffentlichten Meinungsverschiedenheiten habe der Fachmann unmittelbar Veranlassung gehabt, zur Beantwortung der sich ergebenden Fragen weitere Studien zu unternehmen, die aus seiner Sicht auch mit einer hohen, nicht einmal nur angemessenen Erfolgswahrscheinlichkeit verbunden gewesen seien. Das Vorliegen der vom Streitpatent gelehrten besonders niedrigen Werte möge überraschend gewesen sein, habe aber der nahegelegten Vorgehensweise nicht entgegenstanden.
Rz. 29
III. Diese Beurteilung hält der Überprüfung im Berufungsverfahren stand.
Rz. 30
1. Das Patentgericht hat zu Recht entschieden, dass der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung und in der Fassung der Hilfsanträge 1, 2 und 4 über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen hinausgeht.
Rz. 31
a) Die ursprünglich eingereichten Unterlagen, deren Inhalt mit der Offenlegungsschrift (NK3) übereinstimmt, offenbaren einleitend ohne Bezugnahme auf konkrete Messbereiche und Schwellenwerte als zur Erfindung gehörend ein Verfahren zur Diagnose von Infektionen oder Entzündungserkrankungen der Atemwege und Lunge mit assoziierter Herzinsuffizienz, wobei eine Bestimmung des Markers Procalcitonin oder einer Teilsequenz davon an einem zu untersuchenden Patienten durchgeführt wird (S. 7 Z. 1-7, Anspruch 1). Als Merkmale einer bevorzugten Ausführungsform werden ein signifikanter Bereich 0,01 ng/ml bis 1 ng/ml und ein Schwellenwert im Bereich von 0,03 ng/ml bis 0,06 ng/ml angegeben (S. 7 Z. 9-13, Anspruch 3).
Rz. 32
Zur Illustration enthält die Anmeldung die auch in der Streitpatentschrift wiedergegebenen Figuren 1 bis 6. Diese weisen wie bereits erwähnt optimale Schwellenwerte im Bereich zwischen 0,03 ng/ml und 0,06 ng/ml aus.
Rz. 33
b) Ausgehend hiervon ist das Patentgericht zutreffend zu der Beurteilung gelangt, dass die Anmeldung keine hinreichenden Hinweise darauf enthält, dass eine Diagnose auf der Grundlage eines Schwellenwerts außerhalb des aus den Figuren ersichtlichen und in der Beschreibung der Anmeldung genannten Bereichs von 0,03 ng/ml bis 0,06 ng/ml zur Erfindung gehört.
Rz. 34
aa) In der Beschreibung wird dieser Bereich zwar nur als bevorzugt bezeichnet. Andere Bereiche, die ebenfalls in Betracht kommen könnten, werden aber nicht benannt.
Rz. 35
Vor diesem Hintergrund mag der einleitenden Formulierung in der Beschreibung der Anmeldung und dem dort formulierten Anspruch 1 zu entnehmen sein, dass das Verfahren auch unabhängig von einem bestimmten Schwellenwert als zur Erfindung gehörend beansprucht wird. Daraus ergibt sich jedoch nicht die eindeutige Offenbarung, dass es weitere Bereiche gibt, aus denen ein Schwellenwert vorzugsweise ausgewählt werden kann. Damit fehlt es an einer ausreichenden Grundlage für die Erweiterung der beanspruchten Obergrenze von 0,06 ng/ml auf 0,25 ng/ml, wie sie das Streitpatent sowohl in Anspruch 1 als auch in der Beschreibung (Abs. 8) vorsieht.
Rz. 36
bb) Entgegen der Auffassung der Berufung führt der Umstand, dass die Tabellen in den Figuren 1 und 3 bis 6 die Sensitivität und Spezifität auch für einen Schwellenwert von 0,25 ng/ml ausweisen, nicht zu einer abweichenden Beurteilung.
Rz. 37
Wie das Patentgericht zutreffend ausgeführt hat, stellt dieser Wert - wie alle anderen Werte, die in den Tabellen zusätzlich zu dem als optimal hervorgehobenen Wert aufgeführt sind - lediglich einen Vergleichswert dar, der belegt, weshalb der hervorgehobene Wert optimal ist.
Rz. 38
Evident ist das für den ebenfalls in allen Tabellen ausgewiesenen Schwellenwert von 0,5 ng/ml, bei dem die Sensitivität zwischen 26,8 (Fig. 1 und 6) und 35,0 (Fig. 3 und 4) liegt, was für einen zuverlässigen Test offensichtlich unzureichend ist. Für einen Schwellenwert von 0,25 ng/ml liegt die Sensitivität mit Werten zwischen 33,3 (Fig. 5) und 60,6 (Fig. 4) zwar höher. Auch diese Werte sind aber deutlich entfernt von der Sensitivität des als optimal hervorgehobenen Schwellenwerts, die im Bereich zwischen 85,4 (Fig. 1) und 100 (Fig. 5) liegt. Selbst der ebenfalls in allen Tabellen aufgeführte Schwellenwert von 0,1 ng/ml liegt mit einer Sensitivität zwischen 50 (Fig. 5) und 75 (Fig. 3 und 4) deutlich unter diesen Werten und lässt nicht erkennen, dass er als Grundlage für eine zuverlässige Diagnose im Sinne der Anmeldung in Betracht kommt. Bestätigung findet dies bei einem unmittelbaren Vergleich der Sensitivitätswerte für die Figuren 3 und 4, die ROC-Kurven für die streitpatengemäß einschlägige Diagnose von Pneumonie bei Patienten mit Herzinsuffizienz betreffen. Gerade hier ergibt sich zwischen der für den optimalen Schwellenwert von 0,06 ng/ml ausgewiesenen Sensitivität von 95 und der für den Schwellenwert von 0,1 ng/ml angegebenen Sensitivität von 75 ein deutlicher Abstand.
Rz. 39
cc) Ob sich aus einer ergänzenden Heranziehung allgemeinen Fachwissens weitere Bereiche ergeben, aus denen ein geeigneter Schwellenwert ausgewählt werden kann, bedarf keiner abschließenden Entscheidung. Selbst wenn die Frage zu bejahen wäre, reichte dies für die Bejahung einer unmittelbaren und eindeutigen Offenbarung nicht aus. Eine unzulässige Erweiterung liegt auch dann vor, wenn der Gegenstand des Patents sich für den Fachmann erst aufgrund eigener, von seinem Fachwissen getragener Überlegungen ergibt (BGH, Urteil vom 9. April 2013 - X ZR 130/11, GRUR 2013, 809, Rn. 11 - Verschlüsselungsverfahren; Urteil vom 20. Mai 2021 - X ZR 62/19, GRUR 2021, 1162 Rn. 49 - Bodenbelag).
Rz. 40
dd) Die von der Berufung geltend gemachte fiktive Kontrollüberlegung, wonach bei Nichtberücksichtigung des als bevorzugt benannten Schwellenwertbereichs und des darauf gerichteten Anspruchs 3 eine Beschränkung auf die in den Tabellen offenbarten Schwellenwerte einschließlich 0,25 ng/ml möglich wäre, ist schon deshalb nicht tragfähig, weil für die Bestimmung des Offenbarungsgehalts der Inhalt der Anmeldung als Ganzes heranzuziehen ist, nicht nur eine fiktive Teilmenge davon.
Rz. 41
2. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des Hilfsantrags 3 beruht, wie das Patentgericht ebenfalls mit Recht entschieden hat, nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Er ist durch NK8 und NK9 nahegelegt.
Rz. 42
a) NK8 berichtet über eine Untersuchung zur Bewertung einer PCT-gesteuerten therapeutischen Strategie der Antibiotikagabe bei Infektionen der unteren Atemwege mit dem Ziel, durch Differenzierung zwischen bakteriellen und anderen - meist viralen - Infektionen eine Verringerung der Antibiotikagabe zu erreichen (S. 600, summary, Abs. 2 Satz 1).
Rz. 43
Kriterium für die Auswahl der Teilnehmer an der Studie war der Verdacht auf eine Infektion der unteren Atemwege als Hauptdiagnose. Ausgeschlossen wurden stark immungeschwächte Personen (Patienten mit HIV-Infektion, neutropenische Patienten, Empfänger eines Stammzellentransplantats, Patienten mit Mukoviszidose oder aktiver Tuberkulose und Patienten mit nosokomialer Pneumonie, S. 600/601).
Rz. 44
Wie der nachfolgend wiedergegebenen Figur 1 entnommen werden kann, wurden 597 Patienten mit Dyspnoe oder Husten für die Studienteilnahme in Betracht gezogen, von denen 243 mit Verdacht auf eine Infektion der unteren Atemwege (lower respiratory tract infection, LRTI) als für die Studie geeignet ausgewählt wurden.
Rz. 45
119 Patienten wurden einer Standardgruppe zugeteilt, 124 Patienten einer PCT-Gruppe. In der Standardgruppe wurde bei 45 Patienten Pneumonie diagnostiziert, in der PCT-Gruppe bei 42 Patienten.
Rz. 46
Zu den für jeden Patienten erfassten Daten gehören auch Angaben zu koexistierenden Erkrankungen. Diese sind in einer Tabelle 1 zusammengefasst. Aus dieser ergibt sich, dass in der Standard-Gruppe sieben Patienten an Herzinsuffizienz litten und in der PCT-Gruppe elf Patienten.
Rz. 47
b) Damit offenbart NK8 die Merkmale 1 bis 2.1.
Rz. 48
aa) Da eine Behandlung mit Antibiotika erfolgte, geht es in der Studie jedenfalls auch um die Diagnose einer bakteriellen und nicht nur einer viralen Pneumonie.
Rz. 49
bb) Entgegen der Auffassung der Berufung ist NK8 nicht zu entnehmen, dass Patienten mit Herzinsuffizienz von der Studie ausgeschlossen oder als ungeeignet eingestuft wurden.
Rz. 50
Das Patentgericht hat insoweit zutreffend ausgeführt, dass Herzinsuffizienz nicht zu den in NK8 genannten Ausschlusskriterien gehört.
Rz. 51
Aus Figur 1 ergibt sich zwar, dass unter den ausgeschlossenen Patienten insgesamt (44 + 24 =) 68 Patienten mit Herzinsuffizienz waren. Dem Umstand, dass diese Erkrankung bei einigen Teilnehmern als Komorbidität aufgeführt wird, ist aber zu entnehmen, dass die Erkrankung als solche kein zwingender Ausschlussgrund war, sondern ein Ausschluss solcher Patienten nur dann erfolgte, wenn diese ein anderes Kriterium nicht erfüllten, insbesondere also, wenn kein Verdacht auf LRTI bestand oder dieser Verdacht nicht die Hauptdiagnose bildete.
Rz. 52
Bestätigung findet dieses Verständnis durch NK9, wo sowohl die Autoren der Anmerkung als auch die Autoren der NK8 sich gerade mit der Aussagekraft für die Behandlung von Patienten mit Herzinsuffizienz befassen.
Rz. 53
c) Ebenfalls offenbart ist Merkmal 2.2.
Rz. 54
Die in NK8 unterschiedenen Wertebereiche (bis 0,1 ng/ml, zwischen 0,1 ng/ml und 0,25 ng/ml, zwischen 0,25 ng/ml und 0,5 ng/ml) liegen innerhalb des in Merkmal 2.2 vorgegebenen Messbereichs.
Rz. 55
d) Nicht offenbart ist Merkmal 2.3.
Rz. 56
NK8 geht bereits bei einem PCT-Wert von 0,1 ng/ml oder weniger davon aus, dass keine bakterielle Infektion vorliegt. Für diese Konstellation wird von einer Antibiotikagabe stark abgeraten. Selbst bei einem Wert zwischen 0,1 ng/ml und 0,25 ng/ml wird eine bakterielle Infektion als unwahrscheinlich bezeichnet und von einer Antibiotikagabe abgeraten (S. 601 links unten).
Rz. 57
Alle diese Schwellenwerte liegen deutlich oberhalb des in Merkmal 2.3 definierten Bereichs von 0,03 ng/ml bis 0,06 ng/ml.
Rz. 58
e) Zu Recht hat das Patentgericht entschieden, dass dieser Bereich ausgehend von NK8 durch NK9 nahegelegt war.
Rz. 59
aa) Die Autoren der Anmerkung in NK9 ziehen nicht in Zweifel, dass Procalcitonin ein geeigneter Marker für Entzündungen sein kann. Sie stellen lediglich in Frage, ob die in NK8 offenbarten Schwellenwerte auch für Patienten mit Herzinsuffizienz aussagekräftig sind, und verweisen hierzu auf andere Studien, die für diese Patientengruppe eine leicht erhöhte PCT-Konzentration ausweisen. Sie äußern zudem die Vermutung, dass die in der Praxis bedeutsame Gruppe der Patienten mit Herzinsuffizienz in der in NK8 geschilderten Studie unterrepräsentiert gewesen sein könnten.
Rz. 60
Hieraus ziehen die Autoren der Anmerkung nicht die Schlussfolgerung, dass Procalcitonin als Marker bei Patienten mit Herzinsuffizienz ungeeignet sei. Sie betonen vielmehr, dass gerade solche Patienten aufgrund ihrer Neigung zu Infektionen der unteren Atemwege von einer Früherkennung besonders profitierten, und sehen vor diesem Hintergrund Bedarf für weitere Studien und eine Überprüfung der spezifischen cut-off-Werte in unterschiedlichen Krankheitssituationen.
Rz. 61
bb) Hieraus ergab sich, wie das Patentgericht zu Recht entschieden hat, Veranlassung, die spezifischen Schwellenwerte für Patienten mit Herzinsuffizienz nochmals zu überprüfen.
Rz. 62
Für diesbezügliche Untersuchungen sprach insbesondere der von den Autoren der Anmerkung formulierte Hinweis auf die besondere Relevanz einer zuverlässigen Früherkennung bei dieser als bedeutsam eingestuften Patientengruppe. Die Autoren der NK8 wiesen die in NK9 geäußerte Kritik in ihrer Erwiderung zwar im Wesentlichen zurück und machten geltend, die in der Anmerkung erwähnten anderen Studien hätten nicht ausreichend sensitive Assays eingesetzt. Aus fachlicher Sicht bestand dennoch Veranlassung, der Anregung aus der Anmerkung nachzugehen und ergänzende Untersuchungen zum optimalen Schwellenwert bei Herzinsuffizienz anzustellen, zumal die Anzahl der Patienten mit dieser Erkrankung bei der in NK8 geschilderten Studie in der Tat eher gering war.
Rz. 63
Hierfür boten sich, wie das Patentgericht insoweit von der Berufungsbegründung unbeanstandet ausgeführt hat, die Erhebung zusätzlicher PCT-Messdaten in geeigneten Patientenkollektiven und der Einsatz von ROC-Kurven als fachübliche Methode der Wahl an. Der Umstand, dass es neben der Verwendung von ROC-Kurven auch andere Auswertungsmöglichkeiten gegeben hat und in NK8 und NK14 (Procalcitonin Guidance of Antibiotic Therapy in Community-acquired Pneumonia, S. 86 links oben) ROC-Kurven nicht offenbart sind, bietet keinen hinreichenden Anhaltspunkt dafür, die vom Patentgericht getroffenen Feststellungen zur Fachüblichkeit der Methodenwahl in Zweifel zu ziehen.
Rz. 64
Dass eine solche Untersuchung zu einem möglicherweise als überraschend niedrig bewerteten Schwellenwertbereich führt, vermag nicht zur Bejahung der erfinderischen Tätigkeit zu führen, weil die Untersuchung als solche nahegelegt war und dieses Ergebnis unabhängig von den anfänglichen Erwartungen gezeitigt hätte.
Rz. 65
IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Abs. 2 PatG und § 97 Abs. 1 ZPO.
Bacher |
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Hoffmann |
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Deichfuß |
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Kober-Dehm |
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Crummenerl |
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Fundstellen
Haufe-Index 15100710 |
BlPMZ 2022, 244 |
GRUR 2022, 554 |
JZ 2022, 232 |
MDR 2022, 972 |
CIPReport 2022, 40 |
Mitt. 2022, 170 |