Leitsatz (amtlich)
Zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast, wenn einem Arzt die Verletzung berufsspezifischer Sorgfaltspflichten vorgeworfen wird, weil er es versäumt hat, unverzüglich ein Computertomogramm anfertigen zu lassen, nachdem ein Patient nach einer Hydrozephalus-Operation über „Gespenstersehen” klagte.
Normenkette
BGB § 276
Verfahrensgang
OLG Bamberg (Aktenzeichen 3 U 237/95) |
LG Schweinfurt (Aktenzeichen 1 O 540/92) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Bamberg vom 26. November 1997 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin verlangt Ersatz für schwere gesundheitliche Schäden, die sie nach einer Gehirnoperation in der Neurochirurgischen Klinik des L.-Krankenhauses in S., dessen Träger die Erstbeklagte ist, erlitten hat.
Der Drittbeklagte, Oberarzt in der Neurochirurgischen Klinik, deren Chefarzt der Zweitbeklagte ist, legte am 19. April 1989 bei der damals 12 Jahre alten Klägerin, bei der kurz zuvor ein sich allmählich entwickelnder hochgradiger Hydrozephalus festgestellt worden war, einen sog. ventrikulo-peritonealen Shunt, der die Ableitung der krankhaften Gehirnwasseransammlung in die Bauchhöhle bewirken sollte. Zur Anlegung des Shunts verwendete er ein Orbis-Sigma-Ventil. Der Eingriff verlief komplikationslos. Eine zunächst für den 21. April 1989 (Freitag) angeordnete Durchführung eines Computertomogramms wurde auf den folgenden Montag verschoben. Spätestens am 22. April 1989 verschlechterte sich der Zustand der Klägerin. Sie äußerte am Nachmittag dieses Tages in Gegenwart des Drittbeklagten während der Visite, daß sie „Gespenster” sehe und daß ihr schwindelig sei. Der Drittbeklagte erklärte daraufhin, das „Gespenstersehen” komme vom Abfluß des Hirnwassers. Auf seine Frage teilte ihm eine Pflegekraft mit, daß ein Computertomogramm erst am kommenden Montag angefertigt werden sollte. Der Drittbeklagte war damit einverstanden. In der Nacht zum 23. April 1989 stürzte die Klägerin gegen 3.55 Uhr aus ihrem Krankenbett. Nun wurde um 5.05 Uhr ein Computertomogramm angefertigt und ab 5.20 Uhr eine Notoperation durchgeführt. Die Klägerin leidet seitdem unter schweren gesundheitlichen Schäden, hauptsächlich unter Hirnfunktionsstörungen. Sie ist nicht bei vollem Bewußtsein, kann nur liegen und ist ein schwerer Pflegefall. Nach mehreren Klinikaufenthalten bis August 1990 wird sie seitdem hauptsächlich im Haushalt ihrer Eltern versorgt. Zur Schädigung der Klägerin hat eine Überdrainage von Gehirnwasser beigetragen; diese wiederum war eine Folge der Operation, bei der der Drittbeklagte den peritonealen Shunt gelegt hat.
Die Klägerin verlangt von den Beklagten ein angemessenes Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 100.000 DM und die Erstattung ihrer im einzelnen auf 140.000 DM bezifferten Aufwendungen zur Befriedigung ihrer durch den Schadensfall eingetretenen vermehrten Bedürfnisse bis November 1992 sowie eine monatliche Rente von 4.000 DM ab 1. Dezember 1992; ferner begehrt sie die Feststellung, daß die Beklagten zum Ersatz ihrer weiteren materiellen und immateriellen Schäden verpflichtet seien. Sie wirft dem Zweitbeklagten und dem Drittbeklagten zahlreiche Fehler und Versäumnisse vor, auf denen ihr jetziger Zustand beruhe. Der erste Fehler sei die Wahl der Operationsmethode; ein ventrikulo-kardialer-Shunt wäre ungefährlicher gewesen. Ferner sei die Wahl des Ventiltyps zu beanstanden. Außerdem sei versäumt worden zu überprüfen, ob das Ventil geeignet war, entsprechend den zu erwartenden unterschiedlichen Druckverhältnissen den Abfluß richtig zu steuern. Ferner sei die nachoperative Überwachung zu beanstanden. Spätestens am dritten Tag hätte ein Computertomogramm angefertigt werden müssen. Dies hätte zumindest sofort geschehen müssen, als der Drittbeklagte bei der Visite am 22. April 1989 von der Verschlechterung des Zustands der Klägerin sowie von ihrer Klage über das „Gespenstersehen” Kenntnis erhielt. Fehlerhaft sei es auch gewesen, die Klägerin bereits nach einer Nacht wieder auf die Normalstation zu verlegen, am 22. April 1989 ihre Rückverlegung auf die Intensivstation zu unterlassen und bei alledem nicht einmal eine Sturzsicherung an ihrem Bett anzubringen. Weiter sei den Ärzten vorzuwerfen, daß sie jegliche Vorbeugung gegen Krampfanfälle unterlassen hätten. Schließlich sei es zu Dokumentationsversäumnissen gekommen; der Sturz aus dem Krankenbett sei in den Behandlungsunterlagen nicht vermerkt worden. Für diese Fehler sei insbesondere der Drittbeklagte als Operateur und zuständiger Oberarzt verantwortlich, aber auch der Zweitbeklagte als Chefarzt, weil die Fehler vermieden worden wären, wenn er rechtzeitig entsprechende Anweisungen gegeben und deren Befolgung überwacht hätte.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin ist ohne Erfolg geblieben.
Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Prozeßbegehren weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht ist nach sachverständiger Beratung zu der Auffassung gelangt, daß dem Drittbeklagten ein Behandlungsfehler nicht unterlaufen sei. Die Operationsmethode sei nicht zu beanstanden; bei einem peritonealen Shunt seien Überdrainagen nicht häufiger als bei einem kardialen. Gegen die Verwendung des Orbis-Sigma-Ventils sei nichts einzuwenden. Bei diesem Ventiltyp seien weder damals noch in der Zwischenzeit grundsätzliche Mängel zutage getreten. Dem Drittbeklagten könne auch nicht vorgeworfen werden, beim Einsetzen des Ventils eine Druckprüfung versäumt zu haben; eine solche Prüfung sei selbst an Universitätskliniken nicht üblich. Es sei auch nicht üblich, bei Operationen der vorliegenden Art rein vorsorglich eine Anfallsprophylaxe zu betreiben, wenn es bei dem Patienten nicht schon früher zu Krampfanfällen gekommen sei. Ferner sei es nicht fehlerhaft gewesen, die routinemäßige erste Anfertigung eines Computertomogramms erst für den fünften Tag nach der Operation vorzusehen; dies sei vielmehr auch in der Universitätsklinik üblich, in der die Sachverständige Dr. G. tätig sei. Es habe auch nach der Verschlechterung des Befindens der Klägerin im Laufe des 22. April 1989 kein Anlaß zu einem sofortigen Eingreifen bestanden; es habe sich dabei nicht um dramatische Vorgänge gehandelt. Allerdings hätte das sog. „Gespenstersehen” der Klägerin auf eine Bewußtseinstrübung und damit auf ein alarmierendes Symptom (Psycho-Syndrom) hingedeutet, wenn sich die Klägerin wirklich vor Gespenstern gefürchtet und nicht lediglich andere Erscheinungen (etwa auf Blutdruckänderungen zurückzuführende „wandernde Flecken”) als Gespenster bezeichnet hätte. Die Sachverständige habe jedoch nicht klären können, was die Klägerin gemeint habe; es sei auch offen geblieben, welchen Eindruck der Drittbeklagte insoweit gehabt habe. Zwar wäre die sofortige Anfertigung eines Computertomogramms auch dann veranlaßt gewesen, wenn der Drittbeklagte nicht habe klären können, ob die Klägerin von „echten” Gespenstern gesprochen oder nur andere Erscheinungen als Gespenster bezeichnet habe. Möglicherweise sei die Frage aber für den Drittbeklagten in dem Sinne geklärt gewesen, daß es sich nur um „sogenannte” Gespenster und somit nicht um ein Alarmzeichen gehandelt habe. Folglich könne dem Drittbeklagten auch insoweit nichts angelastet werden. Die mangelnde Klärung der Frage, welcher Auffassung er in diesem Punkt gewesen sei, gehe nicht zu seinen Lasten, weil die Klägerin grundsätzlich beweisbelastet sei. Der Drittbeklagte habe seine Auffassung auch nicht dokumentieren müssen, wenn er zu dem Schluß gelangt sei, daß die Klägerin nicht von „echten” Gespenstern gesprochen habe. Es habe auch keine Veranlassung bestanden, besondere Vorkehrungen zur Vermeidung eines Sturzes aus dem Bett zu treffen. Mit einem Krampfanfall sei nur bei einem Überhandnehmen der Drainage zu rechnen gewesen; insoweit seien jedoch aufgrund der noch recht verhaltenen Symptome Befürchtungen nicht veranlaßt gewesen. Mit der Verneinung schadensursächlicher Fehler des Drittbeklagten entfalle zugleich eine Haftung der Erstbeklagten und des Zweitbeklagten.
II.
Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision in einem entscheidenden Punkt nicht stand.
1. Allerdings wendet sich die Revision ohne Erfolg dagegen, daß sich das Berufungsgericht ohne Einholung des beantragten weiteren Gutachtens und trotz der Widersprüche zu den privaten Sachverständigengutachten bei der Beurteilung des ärztlichen Vorgehens des Drittbeklagten – insbesondere hinsichtlich der Eignung des verwendeten Ventiltyps und dessen Überprüfung – auf die Ausführungen der Sachverständigen Dr. G. gestützt hat. Die Einholung eines weiteren Gutachtens steht, wie die Revision nicht verkennt, im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters (§ 412 ZPO). Es ist auch unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung des Senats nicht erkennbar, daß das Berufungsgericht sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt hätte. Die Einholung eines weiteren Gutachtens ist geboten, wenn die Sachkunde des bisherigen Gutachters zweifelhaft ist, wenn das Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn es Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen des früheren Gutachters überlegen erscheinen (BGHZ 53, 245, 259). Solche Voraussetzungen sind hier nicht dargetan. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, daß die Sachverständige Dr. G. an der Universitätsklinik, an der sie tätig ist, die maßgebliche Ärztin für die Durchführung von Shunt-Operationen bei Hydrozephalus ist und deshalb bei ihr von großer Erfahrung und beachtlichem Können ausgegangen werden könne. Bei dieser Sachlage konnte das Berufungsgericht ermessensfehlerfrei die Ausführungen dieser Sachverständigen ohne Einholung eines weiteren Gutachtens als fachliche Grundlage für seine rechtlichen Wertungen heranziehen.
2. Die Revision wendet sich jedoch zu Recht dagegen, daß das Berufungsgericht auf dem Boden der Ausführungen der Sachverständigen Dr. G. zu dem Ergebnis gelangt ist, dem Drittbeklagten könne auch nicht als Behandlungsfehler angelastet werden, daß er die unverzügliche Anfertigung eines Computertomogramms versäumt hat, als die Klägerin in seinem Beisein über „Gespenstersehen” geklagt hat.
Die Sachverständige Dr. G. hat in ihrer mündlichen Anhörung ausgeführt, daß man bei „wirklichen” Gespenstern unverzüglich ein Computertomogramm hätte veranlassen müssen; das gleiche gelte, wenn man sich nicht darüber habe klar werden können, was das Kind gemeint hat. Diese Ausführungen legt das Berufungsgericht zwar seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde. Der Senat vermag dem Berufungsgericht jedoch nicht zu folgen, wenn es hieraus den Schluß zieht, daß dem Drittbeklagten ein Behandlungsfehler nicht angelastet werden könne, weil für ihn die Frage nach dem Gespenstertyp möglicherweise in dem Sinn geklärt gewesen sei, daß es sich nur um „sogenannte” Gespenster und damit nicht um ein Alarmzeichen gehandelt habe. Damit verkennt das Berufungsgericht im konkreten Fall die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast.
Nach § 276 BGB schuldet der Arzt dem Patienten vertraglich wie deliktisch die im Verkehr erforderliche Sorgfalt. Diese bestimmt sich nach dem medizinischen Standard des jeweiligen Fachgebiets. Der Arzt muß diejenigen Maßnahmen ergreifen, die von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereichs vorausgesetzt und erwartet werden (vgl. Senatsurteil vom 29. November 1994 - VI ZR 189/93 - VersR 1995, 659, 660). Es kommt danach nicht darauf an, wie der Drittbeklagte den Hinweis der Klägerin auf „Gespenster” (subjektiv) gedeutet hat, sondern darauf, wie er ihn hätte deuten dürfen. Entscheidend ist, ob sein ärztliches Handeln (objektiv) dem medizinischen Standard seines Fachgebiets entsprochen hat. Nach den Ausführungen der Sachverständigen gebietet der medizinische Standard in einem Fall wie dem vorliegenden in aller Regel die unverzügliche Veranlassung eines Computertomogramms. Etwas anderes gilt nur dann, wenn aus medizinischer Sicht sichergestellt ist, daß der Patient nicht über „wirkliche” Gespenster klagt. Hierfür bedarf es ausreichender Befundtatsachen, die von der Behandlungsseite darzulegen sind. Solche Befundtatsachen sind hier vom Berufungsgericht nicht festgestellt.
Danach ist auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen davon auszugehen, daß der Drittbeklagte auf die Klage über das „Gespenstersehen” der Klägerin unverzüglich die Anfertigung eines Computertomogramms hätte veranlassen müssen. Mit der Verletzung dieser Verpflichtung ist ihm ein schuldhafter Behandlungsfehler unterlaufen.
Unterschriften
Groß, Dr. Lepa, Bischoff, Dr. Dressler, Dr. Greiner
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 16.03.1999 durch Holmes Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 539016 |
NJW 1999, 1778 |
Nachschlagewerk BGH |
MDR 1999, 675 |
MedR 1999, 418 |
VersR 1999, 716 |
KHuR 2000, 112 |