Leitsatz (amtlich)
Auch dann, wenn nur der Versicherungsnehmer gem. § 11 IV Abs. 2 AUB 88 das Recht auf ärztliche Neubemessung der Invalidität ausgeübt hat, ist er nach Ablauf der Dreijahresfrist des § 11 IV Abs. 1 AUB 88 nicht mehr gehalten, sich durch vom Versicherer beauftragte Ärzte untersuchen zu lassen.
Normenkette
AUB 88 § 9 IV, § 11 IV
Verfahrensgang
OLG München (Urteil vom 24.07.2002) |
LG München I |
Tenor
Das Urteil des 25. Zivilsenats des OLG München v. 24.7.2002 wird im Kostenpunkt und auf die Revision der Beklagten insoweit aufgehoben, als zu ihrem Nachteil entschieden worden ist, sowie auf die Anschlussrevision des Klägers insoweit, als die Klage über den zuerkannten Betrag hinaus in Höhe weiterer 47.294,50 Euro nebst Zinsen abgewiesen worden ist.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger hat von der beklagten Versicherungsgesellschaft aus einer Unfallversicherung, der die Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen (AUB 88) zu Grunde liegen, eine weitere Invaliditätsentschädigung i. H. v. 947.100 DM begehrt.
Auf Grund einer unfallbedingten Fußverletzung des Klägers am 22.1.1994 hat die Beklagte mit Schreiben v. 22.8.1996 eine Invalidität des Klägers von 1/10 des Fußwerts (§ 7 AUB 88) anerkannt und ihm die dafür geschuldete Entschädigung von 15.400 DM gezahlt. Der Kläger hat danach von seinem Recht auf Neubemessung der Invalidität binnen drei Jahren nach dem Unfall Gebrauch gemacht; er gibt den Grad seiner Invalidität auf Grund eines von ihm eingeholten Privatgutachten des Orthopäden Dr. H. nunmehr mit 80 % an, während die Beklagte weiterhin nur 1/10 des Fußwerts anerkennt. Außer über den Invaliditätsgrad streiten die Parteien darüber, ob die Beklagte infolge zweier von ihr geltend gemachter Obliegenheitsverletzungen des Klägers - Verweigerung der nochmaligen Untersuchung durch einen von der Beklagten beauftragten Arzt und Verschweigen einer weiteren Unfallversicherung - leistungsfrei geworden ist. Des Weiteren verlangt die Beklagte im Wege der Widerklage die von ihr erbrachte Übergangsleistung von 19.250 DM zurück.
Das LG hat die Klage abgewiesen und der Widerklage stattgegeben. Auf die Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht der Klage i. H. v. 141.730,11 Euro nebst Zinsen stattgegeben und die Widerklage abgewiesen; im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Mit der Revision erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils. Der Kläger begehrt im Wege der Anschlussrevision die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung weiterer 47.294,50 Euro.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten und die Anschlussrevision des Klägers führen zur teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
A. Das Berufungsgericht hat sein Urteil wie folgt begründet:
Der Kläger habe Anspruch auf die Versicherungsleistung nach 6/10 des Beinwerts bzw. nach einem Invaliditätsgrad von 42 %. Auf Grund des Privatgutachtens des Orthopäden Dr. H. , dessen medizinische Stichhaltigkeit der gerichtliche Sachverständige bestätigt habe, sei davon auszugehen, dass der Kläger durch den Unfall eine dauerhafte Beeinträchtigung des ganzen linken Beines davongetragen habe. Der Einschätzung des Sachverständigen Dr. H. , dass die Gesamtinvalidität 80 % betrage, könne jedoch nicht gefolgt werden, weil der Sachverständige zu Unrecht noch weitere Gesundheitsschäden berücksichtigt habe, die aus verschiedenen rechtlichen und tatsächlichen Gründen nicht in Ansatz gebracht werden dürften. Auch sei der anteilige Beinwert nicht, wie vom Privatgutachter Dr. H. angegeben, mit 5/7, sondern im Anschluss an den gerichtlichen Sachverständigen mit nur 6/10 zu bemessen. Diese Invalidität begründe unter Berücksichtigung der vereinbarten Progression einen weiteren Entschädigungsanspruch i. H. v. 141.730,11 Euro.
Die Beklagte sei auch nicht durch Obliegenheitsverletzungen des Klägers leistungsfrei geworden. Dass der Kläger eine erneute Untersuchung durch einen von der Beklagten beauftragten Arzt verweigert habe, sei keine Obliegenheitsverletzung, weil die Beklagte sich bei der Erstfestsetzung der Invalidität keine spätere Nachprüfung vorbehalten habe und deshalb nicht berechtigt gewesen sei, eine Nachuntersuchung des Klägers zu verlangen. Dass er seine weitere Unfallversicherung beim G. nicht angegeben habe, stelle zwar objektiv eine Obliegenheitsverletzung dar, begründe aber keine Leistungsfreiheit, weil der Kläger nur grob fahrlässig gehandelt und seine Obliegenheitsverletzung keinen Einfluss auf die Feststellung des Versicherungsfalles oder des Leistungsumfangs gehabt habe.
Die Widerklage der Beklagten auf Rückzahlung der Übergangsleistung sei unbegründet, weil die Beklagte nicht den ihr obliegenden Beweis erbracht habe, dass die Voraussetzungen für einen Anspruch des Klägers nicht vorgelegen hätten.
B. Diese Ausführungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung in mehreren Punkten nicht stand.
I. Ob und ggf. in welcher Höhe die Klage begründet ist, kann entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts auf Grund der bisherigen Tatsachenfeststellungen nicht entschieden werden.
1. Im Ergebnis zu Recht ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die Beklagte durch die Weigerung des Klägers, sich zur Nachprüfung des von Dr. H. neu bemessenen Grades der Invalidität durch einen von der Beklagten beauftragten Arzt untersuchen zu lassen, nicht leistungsfrei geworden ist.
a) Es kann dahinstehen, ob die Auffassung des Berufungsgerichts zutrifft, die Obliegenheit des Versicherungsnehmers, sich von den vom Versicherer beauftragten Ärzten untersuchen zu lassen (§ 9 IV AUB 88), bestehe nur dann, wenn der Versicherer seinerseits das Recht auf ärztliche Neubemessung der Invalidität ausgeübt habe (§ 11 IV Abs. 1, 2 AUB 88).
Immerhin spricht für die Auffassung des Berufungsgerichts, dass es dem Versicherer, der nach Maßgabe seiner Erstfeststellung (§ 11 I AUB 88) geleistet, das Recht zur ärztlichen Neubemessung aber nicht ausgeübt hat, an einem berechtigten Interesse fehlen könnte, den Versicherungsnehmer - zudem mit der Sanktion der Leistungsfreiheit - weiterhin an die Obliegenheit zu binden. Denn aus Sicht des Versicherers besteht insoweit keine Veranlassung zu weiteren Untersuchungen durch von ihm beauftragte Ärzte. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die in § 9 IV AUB 88 beschriebene Obliegenheit es dem Versicherer nach ihrem Sinn und Zweck ermöglichen soll, sich bei seiner Entscheidung, welchen Invaliditätsgrad er anerkennen will, der Hilfe eines Arztes seines Vertrauens zu bedienen. Auf eine solche Entscheidungshilfe kann er auch angewiesen sein, wenn der Versicherungsnehmer das Recht auf ärztliche Neubemessung ausübt, eine solche herbeiführt und darauf gestützt eine höhere Entschädigung verlangt.
b) Der vorliegende Fall gibt keine Veranlassung zu entscheiden, welcher Auffassung zu folgen ist. Denn selbst wenn der Versicherungsnehmer an die Obliegenheit gem. §§ 9 IV AUB 88 auch dann gebunden bleiben sollte, wenn nur er das Recht auf Neubemessung der Invalidität ausgeübt hat, endet diese Bindung jedenfalls mit Ablauf der in § 11 IV Abs. 1 AUB 88 bestimmten Dreijahresfrist. Die Beklagte hat die Untersuchung hier aber erst nach Ablauf dieser Frist verlangt.
Der BGH (BGH, Urt. v. 4.5.1994 - IV ZR 192/93, MDR 1994, 1189 = VersR 1994, 971 unter 1) hat bereits zur Klausel des § 13 Nr. 3a AUB 61 ausgesprochen, dass der Versicherungsnehmer nach Ablauf der dort festgelegten Dreijahresfrist nicht mehr gehalten ist, sich auf Verlangen des Versicherers einer ärztlichen Untersuchung und Begutachtung zu unterziehen. In jenem Falle hatten die Versicherer eine Nachuntersuchung zwar angekündigt, die Untersuchung jedoch erst nach Fristablauf verlangt. Im hier vorliegenden Fall, in dem allein der Versicherungsnehmer gem. § 11 IV Abs. 2 AUB 88 das Recht auf ärztliche Neubemessung der Invalidität ausgeübt und diese fristgerecht durch einen Arzt hat vornehmen lassen, gilt nichts Anderes. Jedenfalls mit Ablauf der Dreijahresfrist des § 11 IV Abs. 1 AUB 88 ist der Versicherungsnehmer auch in diesem Falle nicht mehr gehalten, sich durch vom Versicherer beauftragte Ärzte untersuchen zu lassen. Denn eine solche Untersuchung liefe letztlich auf eine weitere ärztliche Neubemessung der Invalidität hinaus, die durchzuführen § 11 IV Abs. 1 AUB 88 dem Versicherer nach Ablauf der darin bestimmten Frist zur Neubemessung der Invalidität gerade nicht erlaubt (vgl. Grimm, Unfallversicherung, 3. Aufl., § 11 Rz. 27; Wussow/Pürckhauer, AUB, 6. Aufl., § 11 Rz. 38). Daraus folgt zugleich, dass jedenfalls nach Ablauf der Dreijahresfrist eine Bindung des Versicherungsnehmers an eine Untersuchungsobliegenheit nicht mehr bestehen kann.
2. Das Berufungsgericht nimmt weiter an, die Beklagte sei auch nicht deshalb leistungsfrei geworden, weil der Kläger die Aufklärungsobliegenheit in § 9 II AUB 88 verletzt habe, indem er eine bei einem anderen Versicherer bestehende Unfallversicherung trotz entsprechender Frage der Beklagten nicht angezeigt habe. Den Kläger treffe insoweit nur der Vorwurf grober Fahrlässigkeit; er habe den Kausalitätsgegenbeweis (§ 6 Abs. 3 S. 2 VVG) geführt. Das lässt Rechtsfehler nicht erkennen. Die Annahme, den Kläger treffe nur der Vorwurf, die Obliegenheit grob fahrlässig verletzt zu haben, greift die Revision nicht an. Auf die Hilfserwägungen des Berufungsgerichts, die von einem vorsätzlichen Handeln des Klägers ausgehen, kommt es mithin nicht an. Schließlich sind auch die Erwägungen des Berufungsgerichts zu dem vom Kläger zu führenden Kausalitätsgegenbeweis rechtlich nicht zu beanstanden. Dass im vorliegenden Falle durch Zeitablauf ein Verlust an Aufklärungsmöglichkeiten eingetreten sein könnte, ist nicht ersichtlich.
3. Der Kläger hat jedoch bislang den Beweis für eine höhere Invalidität, als von der Beklagten anerkannt, noch nicht erbracht.
a) Dass die Beklagte nicht binnen der Dreijahresfrist eine eigene ärztliche Neubemessung eingeholt hat und dies wegen Fristversäumung gegen den Willen des Klägers auch nicht mehr tun kann, hat entgegen der Ansicht des Klägers nicht zur Folge, dass sie an die ärztliche Neubemessung, die der Privatgutachter des Klägers - fristgerecht - vorgenommen hat, gebunden ist. Vielmehr ist ihr Bestreiten einer höheren Invalidität, als sie anerkannt hat, nach wie vor beachtlich. Der Kläger muss deshalb eine höhere Invalidität beweisen.
b) Die gegen die Feststellung des Berufungsgerichts, der Invaliditätsgrad betrage 42 %, gerichtete Verfahrensrüge der Revision ist begründet. Das Berufungsgericht hat gegen die Pflicht des Gerichts zur Erhebung der angebotenen Beweise und zur vollständigen Sachaufklärung (§ 286 ZPO) verstoßen, indem es auf eine ärztliche Untersuchung des Klägers durch den Gerichtsgutachter und selbst auf dessen Einsicht in die früher erhobenen bildgebenden Befunde verzichtet und sich mit einem reinen Aktengutachten begnügt hat, in welchem der Gerichtsgutachter lediglich die beiden Privatgutachten des Dr. H. und des Dr. E. für plausibel erklärt. Der Tatrichter darf sich zwar mit Zustimmung der Parteien allein auf ein vorgelegtes Privatgutachten stützen. Wenn hingegen der Gegner die Richtigkeit des Privatgutachtens bestreitet, muss das Gericht ein gerichtliches Gutachten einholen, sofern die beweisbelastete Partei dies beantragt hat (Gehrlein, VersR 2003, 574 [575]). Dies hat das Berufungsgericht auch getan, jedoch war das Gerichtsgutachten unvollständig und infolgedessen nicht beweistauglich. Denn der Gerichtsgutachter hat erklärt, dass er ohne eigene Untersuchung des Klägers und ohne Einsicht in die bildgebenden Befunde den Zustand des Klägers am Dreijahresstichtag nicht selbst bewerten könne. Dem Gutachter fehlten also die Anknüpfungstatsachen.
c) Das Berufungsgericht wird deshalb die zur vollständigen Sachaufklärung angebotenen Beweise erheben und insbesondere auf eine Ergänzung des gerichtlichen Gutachtens hinzuwirken haben. Die gebotene weitere Sachaufklärung gibt zugleich Anlass zur Klärung der Behauptung des Klägers in der Anschlussrevision, seine Invalidität betrage 5/7 des Beinwerts.
Der Kläger hat sich jedenfalls im Revisionsverfahren zu einer Untersuchung durch den gerichtlichen Sachverständigen bereitgefunden. Ob er sie im Berufungsverfahren verweigert hat, kann dahingestellt bleiben. Denn das Berufungsgericht hat sich auch ohne Untersuchung des Klägers zu einer Feststellung des Invaliditätsgrades in der Lage gesehen und den Kläger insoweit nicht für beweisfällig erachtet. Erweist sich diese Feststellung als verfahrensfehlerhaft, kann dem Kläger jedenfalls nicht mehr zur Last gelegt werden, sich einer - aus nachträglicher Sicht - gebotenen Untersuchung durch den Sachverständigen nicht gestellt zu haben.
II. Auch über die Widerklage der Beklagten auf Rückzahlung der von ihr gezahlten Übergangsentschädigung kann erst entschieden werden, wenn geklärt ist, ob nach Ablauf von sechs Monaten seit Eintritt des Unfalls noch ein Invaliditätsgrad des Klägers von mehr als 50 % bestand (§ 7 II AUB 88).
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kann die Widerklage nicht wegen Beweisfälligkeit der Beklagten abgewiesen werden. Die Beweislast dafür, dass die Anspruchsvoraussetzungen für die Übergangsleistung erfüllt waren, trifft den Kläger, nicht die Beklagte. Nach eigener Feststellung des Berufungsgerichts hat die Beklagte den Kläger mit Schreiben v. 13.9.1995 darauf hingewiesen, dass er die Übergangsleistung nur behalten dürfe, wenn von ärztlicher Seite festgestellt werde, dass die Absprengung Unfallfolge sei und die normale körperliche und geistige Leistungsfähigkeit unmittelbar nach dem Unfall für mindestens sechs Monate um mehr als 50 % beeinträchtigt gewesen sei. Anders als dann, wenn der Versicherer ohne weitere Erläuterung "unter Vorbehalt" oder "ohne Anerkennung einer Rechtspflicht" leistet, wollte die Beklagte also nicht nur dem Verständnis ihrer Leistung als Anerkenntnis entgegentreten und die Wirkung des § 814 BGB ausschließen. Die Beklagte hat vielmehr mit ihrem Vorbehalt klar erkennbar für den Fall eines späteren Rückforderungsstreites dem Kläger die Beweislast für das Bestehen des Anspruchs aufgebürdet (vgl. Römer, VVG, 2. Aufl., § 11 Rz. 25). Der Kläger hat bisher eine - auch nur im maßgeblichen Zeitraum bestehende - unfallbedingte Beeinträchtigung von mehr als 50 % nicht bewiesen.
Fundstellen
Haufe-Index 969385 |
BGHR 2003, 1197 |
NJW-RR 2003, 1328 |
MDR 2003, 1289 |
VersR 2003, 1165 |
ZfS 2003, 558 |
IVH 2003, 186 |