Verfahrensgang
LG Hannover (Urteil vom 06.05.2004) |
Tenor
Auf die Revisionen des Angeklagten und der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 6. Mai 2004 aufgehoben und das Verfahren eingestellt.
Die Auslagen der Staatskasse und die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch von Schutzbefohlenen in zehn Fällen, wegen sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit Verwandtenbeischlaf in 16 Fällen und wegen Verwandtenbeischlafs unter Einbeziehung früherer Strafen zu einer Gesamtstrafe von vier Jahren und zehn Monaten verurteilt; im übrigen hat es ihn freigesprochen. Gegen die Verurteilung richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts gerügt wird. Die Revision der Nebenklägerin wendet sich mit verfahrens- und sachlichrechtlichen Angriffen u. a. dagegen, daß der Angeklagte nicht wegen einer größeren Anzahl von (zur Nebenklage berechtigenden) Taten verurteilt worden ist. Die Rechtsmittel führen zur Aufhebung des Urteils und Einstellung des Verfahrens.
1. Die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung hat ergeben, daß es an der Verfahrensvoraussetzung einer wirksamen Anklageerhebung und demzufolge auch an der eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses fehlt, weil die Tatvorwürfe in der Anklageschrift nicht ausreichend konkretisiert sind.
Dem Angeklagten wird in der Anklage zum Vorwurf gemacht,
„in Hameln, Hilligsfeld, Gellersen, Wolfshagen und anderen Orten in der Zeit von August 1987 bis Juli 1999 durch 200 Taten von August 1987 bis zum 16.10.1994 tateinheitlich handelnd a) sexuelle Handlungen an einer Person unter 14 Jahren (Kind) … vorgenommen und mit dem Kind den Beischlaf vollzogen zu haben, b) sexuelle Handlungen an seinem noch nicht 18 Jahre alten leiblichen Kind vorgenommen zu haben, vom 17.10.1994 bis zum 16.10.1998 sexuelle Handlungen an seinem noch nicht 18 Jahre alten leiblichen Kind vorgenommen zu haben, seit dem 27.2.1998 tateinheitlich handelnd mit einem leiblichen Abkömmling den Beischlaf vollzogen zu haben, seit dem 17.10.1998 bis Juli 1999 mit einem leiblichen Abkömmling den Beischlaf vollzogen zu haben, indem er in dem genannten Zeitraum an nicht mehr feststellbaren Tagen in mindestens 200 Fällen mit seiner am 17.10.1980 geborenen Tochter J. ohne Kondom Geschlechtsverkehr, Oral- und Analverkehr durchführte und es bei ihm jeweils zum Samenerguß kam.”
Die Anklage läßt somit offen, welche Straftaten im einzelnen ihr Gegenstand sind. Dabei kann nicht davon ausgegangen werden, daß dem Angeklagten 200 Taten des Verwandtenbeischlafs zur Last gelegt sind, da die Anklage auch Sexualpraktiken bezeichnet, die nicht den Tatbestand des § 173 Abs. 1 StGB erfüllen. Da der in der Anklage genannte Zeitraum über den Zeitpunkt hinausreicht, an dem das Opfer das 18. Lebensjahr vollendet hat, kann auch nicht angenommen werden, daß dem Angeklagten zumindest 200 Taten des sexuellen Mißbrauchs Schutzbefohlener zur Last liegen.
Damit wird die Anklage der für ihre Wirksamkeit entscheidenden Funktion der Begrenzung des Verfahrensgegenstandes nicht gerecht. Zwar kann an die Konkretisierung der Taten durch die Anklage nach der Rechtsprechung (BGHSt 40, 44) dann ein großzügigerer Maßstab angelegt werden, wenn dem Verfahren eine Vielzahl sexueller Übergriffe gegen Kinder in einem lang gestreckten Tatzeitraum zugrunde liegt; indes sind auch die hierfür geltenden Voraussetzungen nicht erfüllt. Wenn – wie hier – bei einem Tatzeitraum verschiedene Tatmodalitäten mit rechtlich unterschiedlicher Wertung in Betracht kommen, muß die Anklage zumindest erkennen lassen, wieviele Taten welcher Tatmodalität welchen Altersstufen des Opfers zuzuordnen sind und damit welcher strafrechtlichen Einordnung unterliegen (vgl. Rieß in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 200 Rdn. 14 c). Hierbei muß die Zahl der den Gegenstand des jeweiligen Vorwurfs bildenden Straftaten mitgeteilt werden (vgl. BGHSt 40, 44, 46 f.; 48, 221).
Da die Anklage infolge ihrer zur Unwirksamkeit führenden Mängel keine Grundlage für eine Abgrenzung des Verfahrensstoffs bildet und damit eine Trennung zwischen nachweisbaren und nicht nachweisbaren Taten unmöglich ist, muß die Aufhebung des Urteils auch den deswegen unwirksamen Teilfreispruch erfassen.
Die Verfahrenseinstellung steht einer neuen, den verfahrensrechtlichen Anforderungen entsprechenden Anklage nicht entgegen (BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 13). Wie das angefochtene Urteil zeigt, ist die erforderliche Konkretisierung der Tatvorwürfe durchaus möglich.
2. Für die weitere Sachbehandlung verweist der Senat auf die Darlegungen des Generalbundesanwalts in dessen Zuschrift vom 19. Oktober 2004.
Unterschriften
Tolksdorf, Winkler, Pfister, Becker, Hubert
Fundstellen
Haufe-Index 2556821 |
NStZ 2005, 282 |
StV 2005, 113 |