Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch eines sozialversicherten Verletzten gegen den Schädiger, ihm als Fortkommensschaden Defizite in der Abführung von Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung auch für Monatsteile zu ersetzen
Leitsatz (amtlich)
Der Anspruch eines sozialversicherten Verletzten gegen den Schädiger, ihm als Fortkommensschaden Defizite in der Abführung von Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung auch für Monatsteile zu ersetzen, wird nicht davon berührt, daß der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung für dieselbe Zeit (Finanzierungs-) Beiträge nach § 1385 b Abs. 1 RVO abgeführt hat (Fortführung der Senatsurteile vom 18. Februar 1986 - VersR 1986, 485 und vom 15. April 1986 - BGHZ 97, 330).
Normenkette
BGB §§ 842-843; RVO § 1385b Abs. 1; SGB X § 119
Tenor
Auf die Sprungrevision der Klägerin wird das Urteil des Einzelrichters der 24. Zivilkammer des Landgerichts Berlin vom 13. November 1985 aufgehoben.
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 841,07 DM nebst 4% Zinsen seit dem 6. Juni 1985 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
Am 10. Februar 1984 wurde der bei der klagenden LVA rentenversicherte Ibrahim B. bei einem Verkehrsunfall verletzt. Während seiner unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit bezog er nach Erschöpfung der Lohnfortzahlungsansprüche vom 23. März bis 13. Mai und vom 19. Mai bis 25. Juni 1984 Krankengeld. In dieser Zeit wurden für ihn keine Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt.
Der Beklagte, der als Haftpflichtversicherer für die Unfallfolgen einzustehen hat, hat den auf den vollen Monat April entfallenen Beitragsausfall ausgeglichen. Die Parteien streiten allein darum, ob der Beklagte auch für die Rentenversicherungsbeiträge von 841,07 DM aufzukommen hat, die infolge des Unfalls des B. für Monatsteile (23. bis 31. März, 1. bis 13. Mai und 19. Mai bis 25. Juni 1984) nicht gezahlt worden sind.
Nach Auffassung der Klägerin umfaßt der Schadensersatzanspruch des B. auch die Defizite an Pflichtbeiträgen für diese Monatsteile. Der Anspruch sei gemäß § 119 SGB X auf sie übergegangen. Der Beitragsschaden des B. sei auch nicht dadurch ausgeglichen worden, daß der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung ihr gemäß § 1385 b Abs. 1 RVO (Finanzierungs-)Beiträge zu zahlen gehabt habe. Der Beklagte meint dagegen, § 119 SGB X habe die Voraussetzungen für einen übergangsfähigen Schadensersatzanspruch des Versicherten gegenüber der früheren Rechtslage nicht verändert. Ein etwaiger Rentenschaden infolge nicht gezahlter Pflichtbeiträge sei auch weiterhin erst im späteren Versicherungsfall auszugleichen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der Sprungrevision verfolgt die Klägerin ihre Ansprüche weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Landgericht, dessen Urteil in VersR 1986, 247 abgedruckt ist, meint, auch nach dem Inkrafttreten des § 119 SGB X scheitere ein Anspruch des Verletzten auf Ausgleich von Defiziten an Pflichtbeiträgen für Monatsteile daran, daß derartige Beitragslücken weder vom Schädiger noch vom Geschädigten aufgefüllt werden könnten. Einer freiwilligen Weiterversicherung (§ 1233 RVO) für solche Zeiten stehe das "Aufstockungsverbot" der §§ 1250 Abs. 3, 1233 Abs. 1 RVO entgegen; eine an sich mögliche Höherversicherung (§ 1234 RVO) stelle keinen systemgerechten Ausgleich dar.
II.
Das Urteil des Landgerichts hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
1.
Zutreffend ist die Ausgangserwägung des Landgerichts, der Gesetzgeber habe mit der am 1. Juli 1983 in Kraft getretenen Vorschrift des § 119 SGB X für den Sozialversicherungsträger (SVT) keine eigene Anspruchsgrundlage für Beitragsforderungen geschaffen. Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Schädigers oder - wie hier - seines Haftpflichtversicherers auf ausgefallene Rentenversicherungsbeiträge durch den SVT ist vielmehr, daß dem Versicherten gegen den Schädiger ein Anspruch auf Ausgleich dieses Beitragsdefizits als Erwerbs- oder Fortkommensschaden (§§ 842, 843 BGB; § 11 StVG) erwachsen ist (vgl. Senatsurteil vom 15. April 1986 - BGHZ 97, 330, 333). § 119 SGB X weist dem SVT nur als Legalzessionar aus dem Recht des versicherten Verletzten diese Ansprüche zu.
2.
Nicht zu folgen ist aber der Ansicht des Landgerichts, § 119 SGB X habe auch hinsichtlich des vom Schädiger geschuldeten Ausgleichs von Schäden des Verletzten die frühere Rechtslage nicht verändert. Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 15. April 1986 (= a.a.O. S. 335 ff) im einzelnen dargelegt hat, hat § 119 SGB X mit Wirkung ab 1. Juli 1983 im Beitragsrecht der Sozialversicherung die Lücke geschlossen, die bis dahin einem systemgerechten Ausgleich von Beitragsdefiziten alsbald nach ihrer Entstehung entgegenstand. Mit der Vorschrift ist dem schadensrechtlichen Individualausgleich für drohende Rentenverkürzungsschäden und dem ihn beherrschenden Prinzip der Naturalrestitution im System der Sozialversicherung mehr als bisher Rechnung getragen worden.
An dieser Auffassung, die in der Literatur, soweit ersichtlich, außer dem nachstehend behandelten Beitrag von Einem (VersR 1987, 138) keinen Widerspruch gefunden hat, hält der Senat nach erneuter Überprüfung fest. Die Entscheidung des Landgerichts weist keine Gesichtspunkte auf, mit denen sich der Senat in seinem Urteil vom 15. April 1986, auf dessen Gründe insoweit Bezug genommen wird, nicht bereits auseinandergesetzt hätte. Dies gilt auch für das von Einem (= a.a.O. S. 139 f) als einzige Kritik vorgebrachte Argument, der Senat habe seinerzeit bei der Verneinung der Verfassungswidrigkeit des § 119 SBG X ein falsches Vergleichspaar gewählt. Da § 119 SGB X, wie bereits gesagt, nach Auffassung des Senats auch dazu geschaffen worden ist, bis dahin bestehende Hindernisse im Beitragsrecht der Sozialversicherung für die Verwirklichung des den Individualausgleich beherrschenden Prinzips der Naturalrestitution zu beseitigen, muß die Vorschrift auch an diesem Sachgrund gemessen werden. Insoweit kann es nur darum gehen, ob sie den Versicherten besser stellt, als dies der Sache nach durch das Ziel geboten ist, das Beitragsrecht der Sozialversicherung hier mit dem zivilrechtlichen Prinzip der Naturalrestitution zu harmonisieren. Da der Schädiger dem verletzten Sozialversicherten nach § 249 BGB die Herstellung des ohne den Schadensfall erlangten sozialversicherungsrechtlichen Status schuldet, muß sich, wie der Senat in seinem Urteil vom 15. April 1986 (= a.a.O. S. 340) ausgeführt hat, die Überprüfung des § 119 SGB X auf einen Verstoß gegen Art. 3 GG an einem Vergleich dieser beiden Personengruppen, d.h. an einer Gegenüberstellung der durch Fremdverschulden arbeitslos gewordenen und der arbeitsfähig gebliebenen, weiterbeschäftigten Versicherten, ausrichten, nicht aber an einer Gleichstellung der von fremdverursachter Arbeitsunfähigkeit betroffenen Sozialversicherten mit den auf andere Weise arbeitsunfähig gewordenen Personen, denen ein Anspruch auf Naturalrestitution, der mit dem Beitragsrecht der Sozialversicherung in Konflikt geraten könnte, fehlt. Denn im Gegensatz zu der letztgenannten Fallgruppe hat hier ein Schädiger in das System der Sozialversicherung eingegriffen und dort eine Störung verursacht, die auch nach dem Gefüge dieses Systems möglichst vermieden werden soll und die es deshalb nicht als willkürlich erscheinen läßt, ihre Auswirkungen mit dem schadensrechtlich dafür zur Verfügung stehenden Mittel der Naturalrestitution zu beseitigen.
3.
Eine gegenüber dem Senatsurteil vom 15. April 1986 andere Entscheidung ist im Streitfall auch nicht deshalb zu treffen, weil abweichend von dem jenem Urteil zugrundeliegenden Sachverhalt hier der Verkehrsunfall sich erst unter der Geltung der am 1. Januar 1984 in Kraft getretenen, vom Landgericht aufgrund seiner anderen Rechtsansicht folgerichtig nicht erörterten Vorschrift des § 1385 b RVO ereignet hat, nach dessen Absatz 1 der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung für die Zeit des Krankengeldbezuges dem Rentenversicherungsträger Beiträge zu zahlen hat.
a)
Wie der Senat in seinen Urteilen vom 18. Februar 1986 (VI ZR 55/85 - VersR 1986, 485, 486 f) und vom 15. April 1986 (= a.a.O. S. 339 f) bereits ausgeführt hat, sind die Beiträge des Krankenversicherungsträgers nach § 1385 b Abs. 1 RVO keine Sozialleistungen zur Aufrechterhaltung des versicherungsrechtlichen Status des Verletzten in der gesetzlichen Rentenversicherung. Bei ihnen handelt es sich vielmehr um Träger- oder Finanzierungsbeiträge, die der Beteiligung der Krankenkasse am Finanzierungsaufwand der Rentenversicherung dienen. Die Leistungen kommen dem Verletzten gemäß § 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO nicht als Beitragszeiten zugute, sondern sie dienen der Finanzierung von Ausfallzeiten (§ 1259 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b RVO). Deshalb wird dadurch, daß der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung an den Rentenversicherungsträger Zahlungen nach § 1385 b Abs. 1 RVO leistet, in deren Höhe weder der in dem Ausfall der Pflichtbeiträge liegende Erwerbsschaden des Verletzten ausgeglichen, noch geht hierdurch sein Ersatzanspruch gegen den Schädiger auf den Krankenversicherungsträger über. Demgemäß heißt es auch schon in der Gesetzesbegründung zu § 1385 b RVO (BT-Drucks. 10/335 S. 75):
"Die Zahlungen der Träger verbessern nicht die Vermögenslage des Geschädigten. Der Schadensersatzanspruch auf den Ersatz der Beiträge nach § 119 SGB X wird daher nicht verringert durch die Beiträge der Träger für die Ausfallzeit"
(vgl. auch Grüner/Dalichau/Podlech/Prochnow, SGB X/3, § 119 Anm. IX; Müller/Lilge in SGB/RVO-Gesamt Komm. § 1385 b RVO Anm. 5; Andre BG 1983, 716, 720; Chavet KrV 1984, 166, 168).
b)
Daß der Anspruch des Verletzten auf Abwendung einer möglichen späteren Rentenverkürzung durch Zahlung fiktiver Pflichtbeiträge (§ 119 Satz 2 SGB X) von der Zahlung der (Träger-)Beiträge durch die Krankenkasse unberührt bleibt und gemäß § 119 Satz 1 SGB X auf den Rentenversicherungsträger übergeht, wird schließlich auch in § 1385 b Abs. 3 RVO vorausgesetzt, wenn es dort heißt, daß bei einem Zusammentreffen von Beiträgen nach § 119 SGB X mit Beiträgen gemäß § 1385 b Abs. 1 RVO der Rentenversicherungsträger die letztgenannten bis zur Höhe der ersteren zu erstatten habe. Führt dies auch zu einem verwaltungsaufwendigen Regulierungsverfahren (vgl. Küppersbusch VersR 1985, 16, 17 und 19), so beruht es doch auf einem in sich geschlossenen sozialversicherungsrechtlichen System, in dem der Zahlung von Pflichtbeiträgen der Vorrang vor Trägerbeiträgen eingeräumt ist und Doppelzahlungen für dieselbe Zeit jedenfalls im Endergebnis vermieden werden sollen.
Ob Sozialversicherungsbeiträge, die vom Schädiger gemäß § 119 Satz 1 SGB X an den Rentenversicherungsträger gezahlt werden, bei der späteren Rentenberechnung im Einzelfall möglicherweise deshalb unberücksichtigt bleiben, weil sich ohne sie eine höhere Rente ergibt (§ 1255 Abs. 7 Satz 2 Buchst. b RVO; § 119 Satz 3 SGB X), ist erst im Versicherungsfall aufgrund einer Vergleichsberechnung zu ermitteln; diese Möglichkeit steht jedoch weder dem Anspruch des Verletzten auf alsbaldigen Ausgleich nicht gezahlter Pflichtbeiträge entgegen (Senatsurteile vom 8. November 1983 - VI ZR 214/82 - VersR 1984, 237 und vom 15. April 1986 = a.a.O. S. 334), noch wird davon der Rechtsübergang nach § 119 Satz 1 SGB X berührt. Dieser wird vielmehr vom Gesetzeswortlaut des § 119 Satz 3 SGB X ("Durch den Übergang ...") gerade auch in solchen Fällen vorausgesetzt.
Da die Höhe der Forderung der Klägerin nicht im Streit ist, kann der Senat gemäß § 565 Abs. 3 Satz 1 ZPO in der Sache selbst entscheiden. Aus den dargelegten Gründen ist der Klage stattzugeben.
Unterschriften
Dr. Steffen
Scheffen
Dr. Kullmann
Dr. Lepa
Bischoff
Fundstellen