Leitsatz (amtlich)
›1. Für den Beginn der Rücktrittsfrist genügt die Kenntnis des Mitarbeiters des Versicherers, zu dessen Aufgaben es gehört, den Tatbestand der Verletzung der vorvertraglichen Anzeigeobliegenheit festzustellen. Wann ein anderer, mit der endgültigen Prüfung und Entscheidung über den Rücktritt beauftragter Mitarbeiter Kenntnis von der Obliegenheitsverletzung erlangt, ist unerheblich.
2. Für die Anwendung des § 242 BGB im Rahmen des § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB ist mehr erforderlich als nur ein objektives Zugangshindernis im Bereich des Empfängers.‹
Verfahrensgang
OLG Düsseldorf |
LG Duisburg |
Tatbestand
Der Kläger schloß mit der Beklagten im Dezember 1991 einen Krankenversicherungsvertrag für seine Ehefrau ab. Der Versicherungsantrag war an die Hauptverwaltung der Beklagten in W. adressiert, die auch den Versicherungsschein vom 17. Dezember 1991 ausstellte. Wegen verschwiegener Vorerkrankungen hat die Beklagte mit Schreiben der Hauptverwaltung vom 23. März 1993 gemäß §§ 16 ff. VVG den Rücktritt erklärt. Die Voraussetzungen für den Rücktritt waren gegeben.
Die Parteien streiten nur darüber, ob er fristgemäß erklärt worden ist.
Der Kläger hatte bei der für die Bearbeitung von Leistungsanträgen zuständigen Bezirksdirektion E. seine Ehefrau betreffende Rechnungen eingereicht. Die Bezirksdirektion fragte bei dem behandelnden Arzt Dr. A. nach. Dessen Auskunft vom 23. Februar 1993 mit einem beigefügten Krankenhausbericht vom 7. Juni 1983 ging bei der Bezirksdirektion am Freitag, dem 26. Februar 1993, ein. Daraus ergaben sich die Vorerkrankungen. Die Bezirksdirektion erstattete daraufhin am selben Tage an die Hauptverwaltung W. mit einem dafür vorgesehenen Formular eine "Meldung von verschwiegenen Vorerkrankungen", die dort am Montag, dem 1. März 1993, vorlag. Die per Einschreiben an die Wohnanschrift versandte Rücktrittserklärung der Hauptverwaltung vom 23. März 1993 ging aufgrund eines Nachsendeantrags des urlaubsabwesenden Klägers am 30. März 1993 in seinem Büro ein. Am 26. März 1993 war im Wohnungsbriefkasten ein Benachrichtigungszettel hinterlassen worden.
Der Kläger begehrt die Feststellung, daß der Rücktritt unwirksam sei und das Vertragsverhältnis zu den ursprünglichen Bedingungen fortbestehe. Er hält den Rücktritt für verspätet. Die Monatsfrist des § 20 Abs. 1 VVG habe mit der Kenntnis der Bezirksdirektion am 26. Februar 1993 zu laufen begonnen. Die Rücktrittserklärung sei ihm erst am 30. März 1993 zugegangen.
Die Beklagte ist noch im Verfahren vor dem Landgericht selbst von einem Fristbeginn am 26. Februar 1993 ausgegangen. Mit der Berufung hat sie geltend gemacht, für den Fristbeginn sei die Kenntnis der Hauptverwaltung am 1. März 1993 maßgeblich, weil nur diese zur Entscheidung über vertragsaufhebende Maßnahmen berufen sei. Insofern habe die Bezirksdirektion nur Weiterleitungsfunktion.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben, das Berufungsgericht hat sie abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers hat Erfolg. Der Rücktritt ist nicht rechtzeitig erklärt worden.
I. Die Monatsfrist des § 20 Abs. 1 VVG hat bereits am 26. Februar 1993 begonnen.
1. Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist die Frist erst am 1. März 1993 in Gang gesetzt worden, weil erst an diesem Tag die für die Entscheidung über den Rücktritt zuständige Hauptverwaltung von den verschwiegenen Vorerkrankungen erfahren habe. Für den Fristbeginn komme es auf die Kenntnis der für die Rücktrittsentscheidung zuständigen Stelle an. Das sei nach dem Vortrag der Beklagten die Hauptverwaltung. Diese habe seinerzeit über die Vertragsannahme entschieden und auch den Rücktritt vom Vertrag erklärt. Die Bezirksdirektion sei zwar mit der Abwicklung des Vertrages, insbesondere der Bearbeitung von Leistungsanträgen und in diesem Zusammenhang auch damit befaßt gewesen, bei Anhaltspunkten für verschwiegene Vorerkrankungen Ermittlungen durchzuführen. Wie sich aus dem tatsächlichen Ablauf im vorliegenden Fall und dem Formblatt "Meldung von verschwiegenen Vorerkrankungen" ergebe, sei aber die endgültige Prüfung von Rücktritts- und Anfechtungsgründen und die Entscheidung über den Rücktritt der Hauptverwaltung der Beklagten vorbehalten geblieben.
2. Dem vermag der Senat nicht zu folgen. Für den Fristbeginn kommt es hier auf die Kenntnis der Bezirksdirektion an.
a) Das Berufungsgericht hat allerdings im Grundsatz zutreffend erkannt, daß das Wissen eines Agenten oder eines Mitarbeiters dem Versicherer in entsprechender Anwendung von § 166 Abs. 1 BGB nur im Rahmen der ihnen übertragenen Aufgaben zuzurechnen ist.
Dementsprechend hat der Senat die Kenntnis des Agenten, der mit der Entgegennahme des Versicherungsantrags und der Weiterleitung der hierbei erhaltenen Angaben des Antragstellers betraut ist, der Kenntnis des Versicherers gleichgestellt (BGHZ 102, 194; Urteil vom 11.11.1992 - IV ZR 271/91 - VersR 1993, 871 unter 3 m.w.N.).
Für den Beginn der Rücktrittsfrist des § 20 Abs. 1 VVG kommt es schon nach dem Wortlaut der Vorschrift auf die Kenntnis der Verletzung der Anzeigepflicht an, also auf die Feststellung des Tatbestands. Dies entspricht auch dem Zweck der Vorschrift, daß zwischen den Vertragsparteien alsbald Klarheit bestehen soll, ob ein durch eine Obliegenheitsverletzung des Versicherungsnehmers belastetes Versicherungsverhältnis weiter aufrechterhalten wird oder nicht (BGHZ 108, 326, 328). Für den Fristbeginn ist es deshalb unerheblich, wann nach der Feststellung des Tatbestands durch die damit beauftragte Stelle eine andere, für die endgültige Prüfung und Entscheidung zuständige Person Kenntnis von der Obliegenheitsverletzung erlangt. Zur endgültigen Prüfung und Entscheidung stellt das Gesetz dem Versicherer eine ausreichende Frist zur Verfügung. Der Fristbeginn kann nicht dadurch hinausgeschoben werden, daß die im Rahmen des § 20 VVG wahrzunehmenden Aufgaben auf verschiedene Stellen verteilt werden oder noch eine übergeordnete Kontrollinstanz eingeschaltet wird.
Die Ansicht des Senats zur Kenntnis des Versicherers im Sinne von § 20 Abs. 1 VVG steht auch im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu der Frage, wann eine die Kündigungsfrist des § 6 Abs. 1 VVG in Lauf setzende Kenntnis des Versicherers von der Obliegenheitsverletzung anzunehmen ist (Urteil vom 29.5.1970 - IV ZR 1010/68 - VersR 1970, 660 m.w.N.; Urteil vom 24.1.1963 - II ZR 120/60 - VersR 1963, 227 unter I 2). Zum vergleichbaren Problem des Beginns der Verjährungsfrist nach § 852 Abs. 1 BGB hat der Bundesgerichtshof entschieden, daß es auf die Kenntnis des mit der Ermittlung von Beitragsverkürzungen betrauten Betriebsprüfers eines Sozialversicherungsträgers ankommt und nicht auf die Kenntnis der von ihm informierten Mitarbeiter der Abteilung, die für die Verfolgung des Schadensersatzsanspruchs zuständig ist (Urteil vom 18.1.1994 - VI ZR 190/93 - NJW 1994, 1150 unter II 1 a).
b) Nach den vorstehenden Grundsätzen ist für den Fristbeginn die Kenntnis der Bezirksdirektion der Beklagten maßgebend. Die Bezirksdirektion war nicht nur für die Bearbeitung der Leistungsanträge zuständig, sondern auch damit betraut, bei einem Verdacht auf Verletzung der vorvertraglichen Anzeigeobliegenheit Ermittlungen vorzunehmen, den Tatbestand festzustellen und die Hauptverwaltung hierüber mit dem Formular "Meldung von verschwiegenen Vorerkrankungen" zu unterrichten. Dies haben die Mitarbeiter der Bezirksdirektion getan. Sie haben den behandelnden Arzt angeschrieben und nach Eingang der Auskunft am 26. Februar 1993 festgestellt, daß im Versicherungsantrag eine - nach dem Inhalt der Arztauskunft unzweifelhaft bekannt gewesene - gefahrerhebliche Nierenerkrankung verschwiegen worden war und der Verdacht auf eine nicht angegebene, seit längerem bestehende Schilddrüsenknotung besteht. In der Meldung an die Hauptverwaltung hat sich die Mitarbeiterin der Bezirksdirektion - wie im Formular vorgesehen - auch zur Frage einer eventuellen Vertragsaufhebung geäußert. Den Feststellungen der Bezirksdirektion entsprechend hat die Hauptverwaltung den Rücktritt auf die verschwiegene Nierenerkrankung und darauf gestützt, daß seit längerem eine Schilddrüsenknotung bestehen solle.
II. Die Rücktrittserklärung ist dem Kläger erst nach dem 26. März 1993 und damit verspätet zugegangen. Es ist ihm auch nicht nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt, sich auf die Verspätung zu berufen.
1. Das Berufungsgericht hat zutreffend ausgeführt, daß der Einschreibebrief dem Kläger erst am 30. März 1993 in seinem Büro zugegangen ist und der am 26. März 1993 in den Wohnungsbriefkasten eingeworfene Benachrichtigungszettel den Zugang nicht ersetzt hat (vgl. BGH, Beschluß vom 20.10.1983 - III ZR 42/83 - VersR 1984, 45; Urteil vom 18.12.1970 - IV ZR 52/69 - VersR 1971, 262 unter 2).
2. Das Berufungsgericht hat weiter angenommen, der Kläger müsse sich auch nicht nach § 242 BGB so behandeln lassen, als sei ihm die Rücktrittserklärung bereits am 26. März 1993 zugegangen. Er habe den Zugang nicht vereitelt, insbesondere nicht mit einem Rücktritt rechnen müssen. Das ist richtig und wird von der Revisionserwiderung auch nicht beanstandet.
Nach Ansicht der Revisionserwiderung darf sich der Kläger aber schon allein deshalb nicht auf die Verspätung berufen, weil das Mißlingen der Zustellung am 26. März 1993 auf einen Umstand in seiner Sphäre, die Urlaubsabwesenheit, zurückzuführen sei.
Dem kann der Senat nicht folgen. Eine allgemeine Pflicht, Empfangsvorkehrungen für Erklärungen zu treffen, besteht grundsätzlich nicht (BGHZ 67, 271, 278; BGH, Urteil vom 18.12.1970 aaO. unter 3). Für die Anwendung des § 242 BGB im Rahmen des § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB ist deshalb mehr erforderlich als nur ein objektives Zugangshindernis im Bereich des Empfängers. Solche zusätzlichen Umstände sind gegeben, wenn der Empfänger den Zugang bewußt vereitelt oder verzögert oder wenn er mit dem Eingang rechtsgeschäftlicher Erklärungen rechnen muß und nicht dafür sorgt, daß diese ihn erreichen (vgl. BGHZ 67, 271, 277 ff.; BGH, Urteil vom 18.12.1970 aaO. unter 3; BGH, Urteil vom 13.6.1952 - I ZR 158/51 - LM Nr. 1 zu § 130 BGB; BAG NJW 1993, 1093 unter III 4 und 5). Hier hatte der Kläger, obwohl er mit einem Rücktritt der Beklagten nicht rechnen mußte, durch den Nachsendeantrag sichergestellt, daß an seine Wohnanschrift gerichtete Schreiben an sein Büro weitergeleitet und dort angenommen werden konnten. Hätte die Beklagte das Rücktrittsschreiben nicht erst kurz vor dem Ende der Frist abgeschickt, hätte es rechtzeitig zugehen können.
Fundstellen
Haufe-Index 2993404 |
DB 1996, 2277 |
NJW 1996, 1967 |
BGHR BGB § 130 Abs. 1 S. 1 Zugang 5 |
BGHR VVG § 20 Abs. 1 S. 2 Kenntnis 2 |
DRsp I(111)222d |
ZIP 1996, 878 |
MDR 1996, 797 |
VersR 1996, 742 |
ZfS 1996, 259 |