Entscheidungsstichwort (Thema)
versuchter Totschlag
Tenor
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 1. Februar 2000 wird verworfen.
Die Kosten der Revision und die dem Angeklagten durch dieses Rechtsmittel entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Von Rechts wegen
Gründe
Die Jugendkammer hat den zur Tatzeit 19 Jahre und einen Monat alten Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie einer (weiteren) gefährlichen Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Hiergegen richtet sich die auf den Strafausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft zum Nachteil des Angeklagten. Mit ihrem allein auf die Sachrüge gestützten Rechtsmittel macht die Staatsanwaltschaft geltend, die Jugendkammer habe zu Unrecht Jugendrecht angewandt.
Das vom Generalbundesanwalt nicht vertretene Rechtsmittel bleibt erfolglos.
1. Dem abgeurteilten Geschehen liegen wiederholte, immer wieder aufflackernde und eskalierende tätliche Auseinandersetzungen zwischen je einer Gruppe aus Haag einerseits und Wasserburg andererseits anläßlich einer „Zeltdisco” in Haag, dem Wohnort des Angeklagten, zu Grunde. Die Beteiligten waren überwiegend Jugendliche und Heranwachsende. Das gesamte Geschehen, bei dem auch Flaschen, Steine und Gaspistolen verwendet wurden, zog sich über mehrere Stunden hin.
Zunächst hatte der Angeklagte immer wieder – letztlich vergeblich – versucht zu schlichten oder zumindest größere Auseinandersetzungen zu verhindern. Er führte sich als „Chef” der Haager auf und wollte z.B. „die Sache” mit dem „Chef” der Wasserburger im Zweikampf „ausmachen”, jedoch war hierzu kein Wasserburger bereit. Zuletzt griff der Angeklagte selbst aggressiv in das Geschehen ein. So trat er den zur Wasserburger Gruppe gehörenden O., der zu Boden gegangen war, mit zwei oder drei anderen gegen Kopf und Körper, wodurch O. eine Gehirnerschütterung erlitt. Seine Aggression steigerte sich weiter, als gegenüber ihm und seinem jüngeren Bruder Rufe wie „Scheiß-Albaner” laut wurden. Als der Bruder des Angeklagten auch noch von einer Flasche am Kopf getroffen wurde, „sprang der Angeklagte in die Gruppe der Wasserburger und schlug um sich”. Es kam zu einer erneuten „Massenschlägerei”. Der Angeklagte verfolgte dabei letztlich den flüchtenden Wasserburger K., der ihn unmittelbar zuvor zu Boden geworfen hatte. Aus Verärgerung über das ganze Geschehen stach der Angeklagte dreimal mit einem Messer auf K. ein, wobei er jedenfalls bei dem dritten Stich, der die Brustschlagader verletzte, mit der Möglichkeit eines tödlichen Ausgangs rechnete und dies billigte. Als er sich schließlich entfernte, ging er davon aus, „das hierfür Erforderliche getan zu haben”. K. konnte nur dank ärztlicher Hilfe gerettet werden.
2. Die Anwendung von Jugendrecht begründet die Jugendkammer wie folgt:
Weder der Lebenslauf des Angeklagten – nach problemlosem Schulbesuch erlernte er ebenso problemlos den Beruf eines Maurers, den er seither ununterbrochen ausübt; familiäre oder sonstige private Probleme sind nicht ersichtlich – noch seine Persönlichkeit ergäben Anhaltspunkte für Entwicklungsdefizite oder Reiferückstände. Dies habe sich auch im Rahmen der Überprüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten durch einen Psychiater und einen Psychologen bestätigt. Jedoch zeige das gesamte Tatgeschehen mit einer „sich entwickelnden Gruppendynamik” jugendlichen Leichtsinn, Unüberlegtheit und soziale Unreife. Insgesamt sei das Verhalten des Angeklagten von Inkonsequenz – zunächst schlichtete er, später wurde er aggressiv – sowie „Imponiergehabe und Kraftmeierei” gekennzeichnet. Dies spreche trotz des „sonst ordentlichen Werdegangs” sowohl für einen Entwicklungsrückstand (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG) als auch für eine Jugendverfehlung (§ 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG).
3. Die Staatsanwaltschaft trägt vor, schon der Ansatz der Jugendkammer sei rechtsfehlerhaft. Es sei in „strenge(r) Einzelbetrachtung” zu prüfen, ob die Voraussetzungen von § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG oder die von § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG vorlägen. Darüber hinaus legt sie im einzelnen dar, warum keine der Alternativen von § 105 Abs. 1 JGG hätte bejaht werden dürfen. Hinsichtlich § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG führt sie etwa aus, aus „fremden Tatbeiträgen (Gruppendynamik, Massenschlägerei)” könne nicht auf eine jugendtypische Tat des Angeklagten geschlossen werden. Im übrigen sei die festgestellte Verhaltensweise „auch bei Erwachsenen zu beobachten”.
4. Im Ergebnis liegt kein Rechtsfehler vor:
a) Ein Heranwachsender ist einem Jugendlichen gleichzustellen (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG), wenn in ihm noch in größerem Umfang Entwicklungskräfte wirken (BGH NStZ-RR 1999, 26; BGHSt 36, 37). Eine Jugendverfehlung (§ 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG) liegt vor, wenn, unabhängig vom generellen Reifegrad des Angeklagten, die konkrete Tat auf jugendlichen Leichtsinn, Unüberlegtheit oder soziale Unreife zurückgeht (BGH NStZ-RR 1999, 26, 27; StV 1987, 366). Wenn also auch § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG persönlichkeitsorientiert und § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG tatorientiert ist (Sonnen in Diemer/Schoreit/Sonnen JGG 3. Aufl. § 105 Rdn. 23), und beide Alternativen daher – gleichbedeutend – nebeneinander stehen, können sich doch ihre tatsächlichen Voraussetzungen in erheblichem Umfang überschneiden (Eisenberg JGG 8. Aufl. § 105 Rdn. 2). So kann etwa das Motiv einer Tat in gleicher Weise auf Entwicklungsrückstände und auf eine Jugendverfehlung hindeuten (BGH StV 1991, 424).
b) Die Jugendkammer hat im Hinblick auf die Motive der Taten beide der in Rede stehenden Alternativen bejaht. Sie hat dabei nicht verkannt, daß im übrigen Reifeverzögerungen nicht erkennbar sind. Ob die Annahme, daß gleichwohl allein im Hinblick auf das Tatgeschehen (auch) die Voraussetzungen von § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG vorliegen, rechtlicher Überprüfung standhalten könnte, kann jedoch ebenso wie das hierauf bezogene Vorbringen der Revision auf sich beruhen. Wie auch der Generalbundesanwalt zutreffend dargelegt hat, ist nämlich jedenfalls die Annahme einer Jugendverfehlung rechtlich nicht zu beanstanden:
(1) Der Maßstab, von dem die Jugendkammer bei der Prüfung einer Jugendverfehlung ausgegangen ist, trifft zu. Ob eine Tat Ausdruck von sozialer Unreife ist, kann nicht ohne Würdigung des tatsächlichen (sozialen) Rahmens beurteilt werden, in dem sich die Tat ereignet hat. Die Auffassung der Beschwerdeführerin, fremdes Verhalten (Gruppendynamik, Massenschlägerei) könne keine Schlüsse darauf zulassen, ob beim Angeklagten eine Jugendverfehlung vorliege, geht daher fehl. Vielmehr können gerade die genannten Umstände in besonderer Weise auf das Vorliegen einer Jugendverfehlung hinweisen (vgl. OLG Zweibrücken b. Böhm NStZ 1991, 524 und NStZ 1993, 530). Auch der in tatsächlicher Hinsicht zutreffende Hinweis der Beschwerdeführerin, Verhaltensweisen wie die des Angeklagten kämen auch bei Tätern über 21 Jahren vor, zeigt nicht auf, daß der Jugendkammer im Ansatz ein Rechtsfehler unterlaufen wäre. Daß Straftaten wie die abzuurteilende auch von Tätern über 21 Jahren begangen werden können, schließt die Annahme einer Jugendverfehlung nicht aus (vgl. auch BayObLG GA 1984, 477 f.; Brunner/Dölling JGG 10. Aufl. § 105 Rdn. 14 jew. m.w.N.). Dies bezieht sich nicht etwa nur auf das abstrakte Delikt – Delikte, die schon als solche ausschließlich von Tätern unter 21 Jahren begangen würden, gibt es nicht – sondern auf die konkreten Umstände, die Motive und das Erscheinungsbild der Tat.
(2) Nicht nur der Ansatz der Jugendkammer, sondern auch ihre konkreten Erwägungen halten rechtlicher Überprüfung stand. So deutet etwa der Versuch des Angeklagten, „die Sache” im Zweikampf mit dem „Chef” der Wasserburger „auszumachen”, offenbar auf unreifes Imponiergehabe hin. Das spontane und inkonsequente Verhalten des Angeklagten, der zunächst immer wieder zu schlichten versucht hatte, dann aber aggressiv wurde, nachdem er und sein Bruder beleidigt worden waren und der Bruder von einer Flasche getroffen worden war, spricht nicht für Reife und Abgeklärtheit. Insgesamt ist jedenfalls nicht ersichtlich, daß die Jugendkammer den bei der Prüfung von § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG bestehenden weiten tatrichterlichen Beurteilungsspielraum (vgl. BGH NStZ-RR 1999, 26, 27; StV 1991, 424) überschritten hätte.
c) Auch sonst hat die Überprüfung des Strafausspruches weder zu Gunsten noch zu Lasten (§ 301 StPO) des Angeklagten einen Rechtsfehler ergeben.
Unterschriften
Schäfer, Wahl, Boetticher, Schluckebier, Hebenstreit
Fundstellen
Haufe-Index 556580 |
NStZ 2001, 102 |
StV 2001, 181 |