Entscheidungsstichwort (Thema)
sexueller Mißbrauch eines Kindes
Leitsatz (amtlich)
1. Wirkt der Beschuldigte freiwillig an einer polygraphischen Untersuchung mit, so verstößt dies nicht gegen Verfassungsgrundsätze oder § 136 a StPO.
2. Die polygraphische Untersuchung mittels des Kontrollfragentests und – jedenfalls im Zeitpunkt der Hauptverhandlung – des Tatwissentests führt zu einem völlig ungeeigneten Beweismittel i.S.d. § 244 Abs. 3 Satz 2 4. Alt. StPO.
Normenkette
StPO §§ 136a, 244 Abs. 3 S. 2
Verfahrensgang
LG Mannheim (Urteil vom 20.11.1997) |
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 20. November 1997 wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten der Revision und die dem Nebenkläger durch dieses Rechtsmittel entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt und ihn im übrigen freigesprochen. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg. Näherer Erörterung bedarf eine Verfahrensrüge.
I.
Dieser Rüge liegt folgendes zugrunde:
In der Hauptverhandlung beantragte der Angeklagte zum Beweis dafür, daß er „die ihm zur Last gelegten Vorwürfe zu Recht bestreitet, die Einholung eines psychophysiologischen Gutachtens mittels der Durchführung einer Untersuchung mit dem Polygraphen”. Diesen Beweisantrag hat das Landgericht abgelehnt, obwohl der Angeklagte mit der Beweiserhebung einverstanden war. Es hat diese u.a. deshalb für unzulässig gehalten, „weil eine derartige Untersuchung in das Recht des Angeklagten auf Entschließungsfreiheit eingreift” und es nicht sein dürfe, „daß der Angeklagte zum bloßen Objekt des Verfahrens gemacht wird”.
II.
Diese Verfahrensweise rügt die Revision im Ergebnis ohne Erfolg. Sie bemängelt aber mit der Erwägung, daß bei einer Konstellation, in der der Angeklagte selbst einen auf eine Untersuchung unter Einsatz eines Polygraphen gerichteten Beweisantrag stellt, „dieser insoweit keinen Akt der Fremdbestimmung erleidet, sondern … sich frei entscheiden kann”, zutreffend die Begründung des Ablehnungsbeschlusses.
Das Landgericht hat mit seiner Begründung allerdings an die „im Strafverfahren einhellige Rechtsprechung” und die überwiegende Ansicht in der Literatur zum Einsatz von Polygraphen angeknüpft.
1. Der Senat hat in seinem Urteil vom 16. Februar 1954 deren Verwendung im Strafverfahren als unzulässig eingestuft, und zwar ohne Rücksicht auf das Einverständnis des Beschuldigten und unabhängig von der wissenschaftlichen Brauchbarkeit der Geräte (BGHSt 5, 332). Er hat den Standpunkt vertreten, die durch Art. 1 Abs. 1 GG und § 136 a StPO geschützte Freiheit der Willensentschließung und -betätigung des Beschuldigten werde verletzt, wenn mittels des Polygraphen „unbewußte Körpervorgänge beim Untersuchten, die mit seinem … Seelenzustand engstens zusammenhängen”, festgehalten werden und so „auf die Fragen …, ohne daß der Beschuldigte es hindern kann, auch das Unbewußte” antwortet, dessen Erforschung – im Gegensatz zu offen hervortretenden Ausdrucksbewegungen – unzulässig ist (BGHSt a.a.O. 335 f.). Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat es unentschieden gelassen, ob an dieser Auffassung festzuhalten ist (Beschl. vom 14. Oktober 1998 – 3 StR 236/98).
Die übrige strafgerichtliche Rechtsprechung hat sich der Beurteilung des 1. Strafsenats ausweislich der bislang veröffentlichten Entscheidungen entweder uneingeschränkt (OLG Karlsruhe StV 1998, 530; LG Düsseldorf StV 1998, 647; LG Wuppertal NStZ-RR 1997, 75 ff.; ferner LG Hannover NJW 1977, 1110) oder aber zumindest für den Fall angeschlossen, daß die Ergebnisse der Untersuchung zur Belastung des Beschuldigten herangezogen werden sollten (OLG Frankfurt/Main NStZ 1988, 425; AG Demmin/Zweigstelle Malchin, Urt. vom 7. September 1998 – 94 Ls 182/98 – 741 Js 31691/97).
2. Auch das Bundesverfassungsgericht hat diesen Standpunkt gebilligt und in einer derartigen „Durchleuchtung” der Person einen unzulässigen Eingriff in das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Persönlichkeitsrecht des Betroffenen gesehen (BVerfG – Vorprüfungsausschuß des Zweiten Senats – NStZ 1981, 446 f. m. Anm. Amelung NStZ 1982, 38 und m. Bespr. Schwabe NJW 1982, 367). Die 3. Kammer des Zweiten Senats hat die diesbezügliche Frage in einem Nichtannahmebeschluß jedoch für den Fall der Einwilligung des Beschuldigten in die Anwendung eines Polygraphen ausdrücklich offengelasen (BVerfG StraFo 1998, 16 m. Anm. Scherer; s. ferner den Nichtannahmebeschluß der 2. Kammer desselben Senats NStZ 1998, 523).
3. Außerhalb des strafrechtlichen Bereichs ist das bei Gericht eingereichte Ergebnis einer polygraphischen Befragung einer der Verfahrensparteien bei der Entscheidung über das Recht zum persönlichen Umgang mit dem Kind (§ 1634 BGB) berücksichtigt worden (OLG Bamberg NJW 1995, 1684). Das OLG Koblenz hat in einer nicht veröffentlichten Entscheidung „die Benutzung der Polygraphmethode” als nicht gegen die Sachkunde des Gutachters sprechend bezeichnet, da sie lediglich ein weiteres Indiz biete (Beschl. vom 23. Juli 1996 – 15 UF 121/96). Das OLG Oldenburg hat eine psychophysiologische Untersuchung, nach der eine „Wahrscheinlichkeit von 95 % dafür besteht, daß der gegen den Kindesvater erhobene Verdacht … unbegründet ist …, unbedenklich zur Grundlage seiner Entscheidung” gemacht (Beschl. vom 15. Juni 1998 – 4 UF 60/96).
Das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz hat dagegen – bestätigt durch das Bundesarbeitsgericht (Beschl. vom 22. April 1998 – 5 AZN 142/98) – entschieden, daß der Polygraphentest jedenfalls im Bereich der Geltung des Strengbeweises im zivilprozessualen Verfahren kein zulässiges Beweismittel ist (NZA 1998, 670).
4. Der bezeichneten Entscheidung des Senats ist auch die Literatur überwiegend gefolgt (Boujong in KK 3. Aufl. § 136 a Rdn. 34; Eisenberg, Beweisrecht der StPO 2. Aufl. Rdn. 696 ff.; Hanack in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 136 a Rdn. 56, 60; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 43. Aufl. § 136 a Rdn. 24; Rogall in SK-StPO 14. Lfg. § 136 a Rdn. 75 f.; Schäfer, Praxis des Strafverfahrens 5. Aufl. Rdn. 276; Kohlhaas NJW 1957, 1, 5; Peters ZStW 1975, 663, 671 f., 677 f.; Frister ZStW 1994, 303, 331; Irle in Irle/Mayntz/Mußgnug/Pawlowski/Schünemann, Die Durchsetzung des Rechts S. 83 ff.; s. auch bereits Radbruch, Gesamtausgabe Bd. 8, bearbeitet von Arthur Kaufmann S. 269, 275).
Es gibt auch Stimmen, die den Einsatz eines Polygraphen unter bestimmten Umständen befürworten oder diesen wenigstens für erlaubt halten. Uneinigkeit besteht jedoch über die insoweit zu stellenden Anforderungen und den Umfang der Verwertbarkeit erzielter Ergebnisse (vgl. Gundlach in AK-StPO § 136 a Rdn. 57; Undeutsch Kriminalistik 1977, 193 f.; Schwabe NJW 1989, 576; Klimke NStZ 1981, 433 f.; Prittwitz MDR 1982, 886, 895; Achenbach NStZ 1984, 350; Steinke MDR 1987, 535; Jaworski Kriminalistik 1990, 123, 130; Holstein Kriminalistik 1990, 155, 158; Schünemann Kriminalistik 1990, 131, 150, der die Anwendung des Polygraphen auf das Ermittlungsverfahren beschränken will; Wegner, Täterschaftsermittlung durch Polygraphie S. 184 ff.; Delvo, Der Lügendetektor im Strafprozeß der U.S.A. S. 265; s. auch Tent in Undeutsch, Handbuch der Psychologie 11. Band S. 185, 241; ferner Schneider, Nonverbale Zeugnisse gegen sich selbst S. 150).
5. In den USA bestehen in den meisten Einzelstaaten Vorschriften, die die Verwendung von Polygraphen als Beweismittel generell ausschließen. Auf Bundesebene untersagt deren Einsatz die Beweisregel 707 für den militärischen Bereich.
Diese Regelung hat der U.S. Supreme Court in einer Entscheidung vom 31. März 1998 für verfassungsgemäß erklärt (United States v. Scheffer, No. 96-1133), weil der sie anordnende Präsident sich damit innerhalb seiner Entscheidungskompetenz gehalten und den Einsatz polygraphischer Geräte angesichts deren in der Wissenschaft umstrittener Zuverlässigkeit nicht willkürlich verboten habe. Der Supreme Court hat außerdem betont, es gebe keine Möglichkeit, in einem bestimmten Fall zu wissen, ob die Schlußfolgerung eines Untersuchers zutrifft (s. dazu und zur Frage des Eingriffs in ausschließlich dem Richter zugewiesene Kompetenzen auch die Entscheidung der U.S. District Courts D. Arizona [United States v. Orians, 15. April 1998, No. CR-96-534 PHK RCB], W.D. Tennessee [United States v. Wright, 22. September 1998, No. 97-20179-D] sowie N.D. Alabama [Maddox v. Cash Loans of Huntsville II, 23. September 1998, No. CV 97-H-1838-S], in denen sämtlich die Zulässigkeit der Verwendung von Polygraphen als Beweismittel verneint wurde).
III.
Der Senat hat zur Funktionsweise von Polygraphen sowie zu den psychophysiologischen Vorgaben, der Methodik und dem Verlauf unter Einsatz polygraphischer Geräte durchgeführter Testverfahren Beweis erhoben. Er hat die Sachverständigen Prof. Dr. phil. Fiedler, Prof. Dr. med. Jänig, Prof. Dr. phil. Steller sowie Prof. Dr. rer. nat. Undeutsch mit entsprechenden Gutachten beauftragt. Diese sind überwiegend schriftlich sowie in der Sitzung des Senats vom 9. Dezember 1998 erstattet worden.
Danach hält der Senat seine im Urteil vom 16. Februar 1954 (BGHSt 5, 332) erhobenen – im wesentlichen verfassungsrechtlichen – Bedenken für den Fall nicht aufrecht, daß der Beschuldigte sich mit dem Einsatz eines Polygraphen einverstanden erklärt hat. Jedoch ist die vom Angeklagten beantragte polygraphische Untersuchung nach dem mit den Sachverständigen erörterten wissenschaftlichen Kenntnisstand ein völlig ungeeignetes Beweismittel i.S.d. § 244 Abs. 3 Satz 2 4. Alt. StPO.
1. Diese Beurteilung basiert auf einer Analyse der Funktionsweise polygraphischer Geräte, der mit ihrer Hilfe angewandten Testverfahren und der auf diesem Weg zu erzielenden Ergebnisse:
a) Bei einem Polygraphen handelt es sich um ein technisches Gerät, das mittels Sensoren auf „mehreren Kanälen” körperliche Vorgänge mißt, die der direkten willentlichen Kontrolle des Untersuchten weitgehend entzogen sind. In der Regel werden – in wechselnder Zusammenstellung – Werte für Veränderungen von arteriellem Blutdruck, Herz- und Pulsfrequenz, Atemfrequenz und -amplitude sowie elektrischer Leitfähigkeit der Haut, gelegentlich auch von Muskelspannungen und Oberflächentemperaturen des Körpers erfaßt und auf einem mitlaufenden, mit einem Linienraster versehenen Papierstreifen graphisch dargestellt (vgl. zur Funktionsweise Berning MschrKrim 1993, 242; Rill/Vossel NStZ 1998, 481).
b) Während der Messungen werden vom untersuchenden Fragen gestellt, die der Untersuchte durchgängig verneinen – dies ist die Regel – oder bejahen muß (vgl. Berning a.a.O. 242 ff.). Deren Inhalt hängt vom angewendeten Testverfahren ab. Insoweit werden im wesentlichen der Kontrollfragentest (mit der Modifizierung in der Form der „gerichteten Lügenkontrollfragentechnik”) und der Tatwissentest eingesetzt. Beide Verfahren zielen auf das Hervorrufen unterschiedlich starker vegetativer Reaktionen nach einerseits für den Tatvorwurf relevanten Reizen und andererseits nach Vergleichsreizen ab. Sie unterscheiden sich aber sowohl hinsichtlich der zugrundeliegenen Erklärungsmodelle als auch der wissenschaftlichen Fundierung erheblich.
aa) Beim Kontrollfragenverfahren wird mit drei von insgesamt zehn Fragen direkt nach der Tat gefragt („Haben Sie die Uhr gestohlen?”), während drei oder vier Fragen als sog. Kontroll- oder Vergleichsfragen dienen; die übrigen Fragen sind „neutral”. Die Kontrollfragen beziehen sich nicht auf das in Rede stehende Delikt, sollen aber ähnliche, ebenfalls belastende, aber zeitlich vorgelagerte Sachverhalte zum Inhalt haben („Haben Sie während der Schulzeit irgendeinen Gegenstand von Wert entwendet?”).
Ausgewertet werden nur die tatbezogenen und die Kontrollfragen. Von den Befürwortern der Polygraphentechnik wird erwartet, daß der Täter bei den tatbezogenen Fragen stärkere innere Erregung und damit körperlich meßbare Reaktionen zeigt als bei den Kontrollfragen, während dies bei einem Unschuldigen umgekehrt sein soll, da für diesen die allgemein „diskriminierenden” Fragen höheres „Bedrohungspotential” haben sollen (vgl. Honts/Raskin Journal of Police Science and Administration 1988, 56 f.; Honts/Raskin/Kircher Journal of Applied Psychology 1994, 252; Steller in Steller/Volbert, Psychologie im Strafverfahren S. 89, 93; Undeutsch MschrKrim 1979, 228, 230).
Die Kontrollfragen werden im Anschluß an ein Vortestinterview mit dem Untersuchten in einer Weise formuliert, die sicherstellen soll, daß dieser während der eigentlichen Befragung bei der Beantwortung lügt oder mindestens unsicher ist, ob er die Fragen vollständig wahrheitsgemäß beantwortet („Haben Sie jemals einen Menschen, der berechtigt war, die Wahrheit zu erfahren, belogen, um unangenehme Konsequenzen zu vermeiden?”).
Die Auswertung der vom Polygraphen registrierten Kurven erfolgt mit einer numerischen Methode. Jeder physiologischen Messung wird für das jeweilige Kombinationspaar von relevanten und Kontrollfragen üblicherweise ein Wert von -3 bis +3 zugeordnet (Kircher/Raskin Journal of Applied Psychology 1988, 291, 292). Die Höhe dieses Wertes richtet sich nach der Größe des Unterschieds in der Stärke der Reaktionen nach den jeweils zusammengehörenden relevanten und (benachbarten) Kontrollfragen (Steller, Psychophysiologische Aussagebeurteilung S. 8 f., 75 f.). Alle Einzelwerte werden zu einem Gesamtwert addiert. Im mittleren Bereich zwischen +5 und -5 wird der Test als „unentscheidbar” beurteilt, bei Werten von -6 und darunter lautet das Ergebnis „Täterschaft indiziert”, bei Werten von.+6 und darüber dagegen „Täterschaft nicht, indiziert” (Undeutsch in Kube/Störzer/Brugger, Wissenschaftliche Kriminalistik Teilband 1 S. 389, 405).
bb) Beim Tatwissenverfahren werden tatrelevante Informationen dargeboten, die eine Aussage darüber ermöglichen sollen, ob der Beschuldigte entsprechendes Wissen („Täterwissen”) besitzt.
Dazu werden üblicherweise, fünf oder sechs tatbezogene Fragen gestellt und jeweils sechs Antworten vorgegeben, von denen eine für die aktuelle Tat nach dem Ermittlungsergebnis zutrifft („Wo befand sich die gestohlene Uhr? – Im Schrank; auf dem Bücherregal usw.”). Dem liegt die Annahme zugrunde, daß der Täter bei den „richtigen” Antworten infolge einer beispielsweise auf dem Wiedererkennen einer Information beruhenden Orientierungsreaktion stärkere innere Erregung und damit körperlich meßbare Veränderungen zeigt als bei den übrigen Antwortvorschlägen, während bei einem Unschuldigen derartige Unterschiede nicht eintreten dürften (vgl. Berning a.a.O. 243). Die Auswertung der erzielten Meßergebnisse erfolgt ebenfalls mit Hilfe eines numerischen Systems (zu den Einzelheiten Undeutsch a.a.O. 403).
2. Die gegen den Einsatz polygraphischer Untersuchungsverfahren bislang vorgebrachten rechtlichen Einwände greifen jedenfalls bei freiwilliger Mitwirkung des (regelmäßig verteidigten) Betroffenen – unabhängig davon, ob das Testergebnis nur zu seinen Gunsten oder auch zu seinen Lasten verwertet werden soll – nicht durch. Der Senat sieht unter diesen Umständen in dem staatlich angeordneten Einsatz eines Polygraphen und in der Verwertung der erlangten Erkenntnisse keinen Verstoß gegen die Menschenwürde des Beschuldigten (Art. 1 Abs. 1 GG) und gegen dessen Freiheit der Willensentschließung und -betätigung (§ 136 a StPO).
a) Untersuchungsverfahren und Gerät messen zwar willentlich nicht ummittelbar beeinflußte körperliche Vorgänge, sie ermöglichen dem Untersuchenden aber keinen „Einblick in die Seele des Beschuldigten” (so aber BGHSt a.a.O.; ähnlich Dürig in Maunz/Dürig, GG Art. 2 Abs. 1 Rdn. 35: „Entseelungs- und Entwürdigungsvorgang”).
aa) Es wird zwar eine begrenzte Anzahl ausgewählter Körperdaten erhoben, die – in sehr eingeschränktem Umfang und nur diffus – Schlüsse auf allgemein bestehende Emotionen und intrapsychische Veränderungen zulassen. Es ist für den Senat von entscheidender Bedeutung, daß es – wie die Sachverständigen Prof. Dr. Jänig, Prof. Dr. Fiedler und Prof. Dr. Steller eindrucksvoll dargelegt haben – nach einhelliger wissenschaftlicher Auffassung nicht möglich ist, eindeutige Zusammenhänge zwischen bestimmten kognitiven oder emotionalen Zuständen und hierfür spezifischen Reaktionsmustern im vegetativen Nervensystem zu erkennen. Dies gilt insbesondere für mit der unwahren Beantwortung von Fragen in Verbindung stehende Reaktionen („no specific lie response”).
Umgekehrt läßt sich nicht nachweisen, daß sich ein bestimmter Außenreiz auf eine gemessene körperliche Veränderung ausgewirkt hat, da es dafür vielfältige, nicht eingrenzbare Ursachen geben kann. Dies liegt daran, daß die verschiedenen Komponenten des vegetativen Systems eines Menschen zwar miteinander in Beziehung stehen, deren jeweilige Ausgestaltung aber nicht klar zu bestimmen ist. Unter Einsatz des polygraphischen Verfahrens kann also namentlich nicht gemessen werden, ob der Untersuchte die Wahrheit sagt.
Im übrigen werden unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde keine Bedenken dagegen erhoben, daß in der gerichtlichen Praxis andere Untersuchungsverfahren – beispielsweise projektive psychologische Tests sowie psychoanalytische und psychiatrische Explorationsmethoden – verwendet werden, die zwar nicht ungewollte Körpervorgänge registrieren, wohl aber darauf abzielen, aus dem Unterbewußten des untersuchten Menschen Informatinen über diesen zu erlangen (vgl. Hanack a.a.O. Rdn. 56).
bb) Allerdings ist es richtig, daß bei der Untersuchung auch solche körperlichen Vorgänge der Messung unterliegen, die willentlich nicht unmittelbar zu beeinflussen sind. Jedoch dürfen vom Gericht auch sonst vom Willen nicht steuerbare Ausdrucksvorgänge eines Beschuldigten, die es ohne technische Hilfsmittel wahrnehmen kann (z.B. starke Schweißbildung, Erröten, Sprechstörungen oder andere Orientierungs-, Anstrengungs- und Verlegenheitsreaktionen), verwertet werden (vgl. Wegner a.a.O. 26).
Der Umstand, daß der Beschuldigte während der Untersuchung an die Meßinstrumente des Polygraphen angeschlossen wird, macht ihn nicht zum „Objekt in einem apparativen Vorgang” (zu diesem Gesichtspunkt Achenbach a.a.O.; Eisenberg a.a.O. Rdn. 697). Vielmehr bleibt er im Falle seines Einverständnisses in seiner Subjektstellung unangetastet (a.A. Kleinknecht/Meyer-Goßner a.a.O. Rdn. 24). Dies ergibt sich auch daraus, daß brauchbare Meßergebnisse ohne seine manipulationsfreie Mitwirkung nicht zu erzielen sind.
cc) Eine differenzierende, auf das Einverständnis des Beschuldigten abstellende Sichtweise wird am ehesten dem Zweck des Art. 1 Abs. 1 GG gerecht. Denn dieser soll nicht der Einschränkung, sondern gerade dem Schutz der Würde des Menschen dienen, wozu die grundsätzliche Freiheit gehört, über sich selbst verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten zu können (vgl. BVerfGE 49, 286, 298; Amelung a.a.O.).
Im Hinblick darauf kann dem seine Entlastung erstrebenden Beschuldigten diese Möglichkeit nicht unter Hinweis auf die allgemein staatliche Verpflichtung zu Achtung und Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) verwehrt werden. Ein solches Verbot bedeutet einen dem Willen und den Interessen des Beschuldigten widersprechenden, der Sache nach ungerechtfertigten „Schutz” (ebenso Berning a.a.O. 253; Delvo a.a.O. 375; Wegner a.a.O. 189 f.; pointiert Schwabe a.a.O. 578 f.; s. auch Prittwitz a.a.O.; a.A. Peters a.a.O. 671 f.; Dürig a.a.O. Rdn. 36), den der Beschuldigte zudem durch die Teilnahme an einer außerhalb des Strafverfahrens erfolgenden Untersuchung „umgehen” könnte (vgl. Eisenberg a.a.O. Rdn. 701; Rogall a.a.O. Rdn. 77).
b) Die den Art. 1 Abs. 1 GG ausformende Bestimmung des § 136 a StPO steht der Nutzung der polygraphischen Untersuchungsmethode ebenfalls nicht entgegen.
aa) Diese wird als verbotene Vernehmungsmethode selbst nicht genannt. Deren Durchführung setzt zudem weder eine Täuschung des Untersuchten i.S. dieser Vorschrift voraus noch führt ihre grundsätzliche Zulassung zu einem unzulässigen Zwang auf Beschuldigte, sich mit einer polygraphischen Untersuchung einverstanden zu erklären.
(1) Das Merkmal der Täuschung i.S.d. § 136 a Abs. 1 Satz 1 StPO ist restriktiv auszulegen und erfaßt daher geringfügige Irreführungen nicht (vgl. BGHSt 42, 139, 149). Gravierende Täuschungen – z.B. das Verwenden gezinkter Karten bei einem Vortest, um dem Untersuchten die Effektivität des Polygraphen zu demonstrieren – werden aber nach der Darstellung der Sachverständigen in Deutschland bei polygraphischen Untersuchungen nicht vorgenommen.
(2) Die Überlegung, jeder, der einen mittels eines Polygraphen durchgeführten Test zu seiner Entlastung nicht von sich aus beantrage oder diesen gar ausdrücklich ablehne, habe etwas zu verbergen (vgl. Frister a.a.O. 325), rechtfertigt die Anwendung des § 136 a Abs. 1 Satz 2 StPO unter dem Gesichtspunkt des (mittelbaren) unzulässigen Zwanges ebenfalls nicht. Denn ein derartiges Verhalten dürfte vom Gericht ebensowenig zu Lasten des Beschuldigten berücksichtigt werden wie dessen Entscheidung, sich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern oder zu schweigen (vgl. Gundlach a.a.O. Rdn. 57; Amelung a.a.O. 39; zweifelnd Eisenberg a.a.O. Rdn. 699).
bb) Auch die Voraussetzungen für eine entsprechende Anwendung der Vorschrift liegen nicht vor, wenn der Beschuldigte einer Untersuchung mittels des Polygraphen zustimmt, weil es dann an der für eine Analogie erforderlichen Vergleichbarkeit der Fallgestaltungen fehlt.
Der Einsatz eines Polygraphen erreicht nach Auffassung des Senats nicht den Schweregrad der vom Gesetz verbotenen Vernehmungsmethoden (ebenso Gundlach a.a.O.). Dies zeigt etwa ein Vergleich mit der untersagten Hypnose, durch die gerade unter Ausschaltung des Willens eine Einengung des Bewußtseins auf die von dem Hypnotisierenden gewünschte Vorstellungsrichtung erreicht werden soll (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner a.a.O. Rdn. 19). Ebenso verhält es sich bei der Narkoanalyse, auf die § 136 a StPO analog angewendet wird. Bei dieser wird der Beschuldigte durch Verabreichung betäubender oder einschläfernder Mittel, welche die Fähigkeit zur gelenkten Willensbetätigung wenigstens beeinträchtigen, in einen Zustand erhöhter Mitteilungsbereitschaft versetzt (vgl. Klimke a.a.O.; Tent a.a.O. 197).
Da danach schon eine Analogie zu Absatz 1 des § 136 a StPO ausscheidet, kommt es auf die Bestimmung des Absatzes 3 dieser Vorschrift nicht mehr an.
3. Durfte das Landgericht demnach die beantragte Beweiserhebung nicht mit Blick auf den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz des Angeklagten als unzulässig ablehnen, so erweisen sich die polygraphischen Untersuchungsmethoden hier jedoch als völlig ungeeignete Beweismittel (§ 244 Abs. 3 Satz 2 4. Alt. StPO). Gegen diese Beurteilung kann nichts daraus hergeleitet werden, daß – worauf der Beschwerdeführer hingewiesen hat – auch die Beweiseignung anderer im Strafverfahren verwendeter Testverfahren mindestens bestritten ist. Etwaige Bedenken gegen jene Testverfahren sprechen nicht für die Geeignetheit des Polygraphen.
Es ist zwischen dem Kontrollfragen- und dem Tatwissenverfahren zu unterscheiden:
a) Das Kontrollfragenverfahren ist ungeeignet, weil es sich nicht um eine in den maßgebenden Fachkreisen allgemein und zweifelsfrei als Nichtig und zuverlässig eingestufte Methode handelt. Ihr kommt nach dem erreichten Forschungsstand auch unter Berücksichtigung der vorliegenden Validitätsstudien keinerlei Beweiswert zu.
aa) Wie oben – unter III. 2. a) aa) – dargelegt, kann man nicht davon ausgehen, daß sich bestimmte emotionale Zustände in entsprechenden Reaktionsmustern niederschlagen. Also ist es nicht möglich, aus der Sichtung erzielter Meßergebnisse darauf zu schließen, der Beschuldigte habe im Rahmen der Untersuchung eine auf die Tat bezogene Frage bewußt falsch beantwortet. Eine derartige Einschätzung kann nur anknüpfen an unterschiedlich starke Reaktionen bei der Beantwortung der tatbezogenen Fragen und der Kontroll- oder Vergleichsfragen.
Dieser – wissenschaftsmethodisch äußerst zweifelhafte – Ansatz gibt jedoch dem Untersucher allenfalls intuitive und dem Gericht gar keine Möglichkeit der Überprüfung, ob das Testverfahren im konkreten Fall zu zutreffenden Ergebnissen geführt hat. Im übrigen sind schon die theoretischen Grundannahmen und -zusammenhänge des Kontrollfragenverfahrens wissenschaftlich nicht belegt:
(1) Zwar erscheint es auf den ersten Blick plausibel, daß ein Täter auf die direkt die Tatbegehung betreffenden Fragen aus Furcht vor Bestrafung mit stärkerer Erregung reagieren soll als auf die Kontrollfragen, während sich dies beim Nichttäter umgekehrt verhalten soll. Dabei wird aber verkannt, daß der zu Unrecht Beschuldigte in gleichem oder noch stärkerem Maße befürchten kann, das gegen ihn geführte Verfahren werde strafrechtliche und sonstige Folgen (z.B. Verlust des Arbeitsplatzes, Entzug des Sorgerechts für die Kinder) nach sich ziehen (vgl. Volckart Recht & Psychiatrie 1998, 138, 139).
Daraus folgt, daß der dem Kontrollfragenverfahren als wesentliche Prämisse zugrundeliegende Unterschied bezüglich des Erregungsgrades zwischen Täter und Nichttäter schon bei den tatbezogenen Fragen nicht zwingend besteht. Er läßt sich zudem nach gegenwärtigem Kenntnisstand auch weder allgemein noch im Einzelfall belegen. Denn es ist nicht möglich, eine gemessene körperliche Reaktion auf eine bestimmte Ursache zurückzuführen. Auch hat eine Gegenüberstellung der in bezug auf die Tatfragen bei verschiedenen Untersuchten erzielten Meßergebnisse keinen Aussagewert, weil das jeweilige Erregungsausmaß bei jedem Menschen unterschiedlich und zudem aufgrund zahlreicher Faktoren Schwankungen unterworfen ist. Ein interpersonaler Vergleich scheidet daher von vornherein aus (Gutachten Prof. Dr. Jänig).
Diese Einwände gelten in gleichem Maße für die das Vergleichsmaterial bildenden Kontrollfragen. Es ist infolgedessen nicht feststellbar und rational nicht nachvollziehbar, welche Bedeutung die Meßergebnisse im Einzelfall haben, insbesondere welche intrapsychischen Vorgänge ihnen zugrundeliegen und wodurch diese ausgelöst wurden. Daher werden bei der Auswertung der mittels des Kontrollfragenverfahrens erzielten Meßergebnisse in Wahrheit unbekannte Größen zueinander in Beziehung gesetzt. Auf die Frage, ob es für die Meßergebnisse bedeutsam ist, daß der Beschuldigte mit deren Verwertung auch zu seinen Ungunsten rechnen muß („friendly-polygrapher-syndrome”; dazu BGH, Beschl. vom 14. Oktober 1998 – 3 StR 236/98), kommt es daher nicht an.
(2) Folgt man gleichwohl dem theoretischen Ansatz des Untersuchungsmodells, so kommt den Kontrollfragen als Vergleichsbasis für die Interpretation der gemessenen Reaktionen bei den Tatfragen entscheidende Bedeutung für das Untersuchungsergebnis zu. Sie sollen so formuliert sein, daß sie einerseits die auch für einen unzutreffend Beschuldigten erhebliche Bedeutung der tatrelevanten Fragen übertreffen und daß andererseits für den wirklichen Täter die Dominanz der auf die Tat bezogenen Fragen erhalten bleibt. Dies aber ist eine Aufgabe, die insbesondere ohne Vorweg-Annahme von Schuld oder Unschuld des Untersuchten – also des Umstandes, der gerade erst geklärt werden soll – nicht lösbar ist. Der Erregungsgrad kann bei Täter und Nichttäter bezüglich der Tatfragen aus nicht aufklärbaren Gründen gleichwertig oder beim Unschuldigen gar höher sein (Gutachten Prof. Dr. Fiedler).
Aber selbst dann, wenn man den für das Testverfahren vorausgesetzten unterschiedlichen Erregungsgrad bei Täter und Nichttäter als gesichert unterstellen würde, besteht die erhebliche Gefahr, daß die Formulierung der Kontrollfragen den an sie gestellten Anforderungen nicht genügt. Ist dies aber der Fall, so überwiegt auch für einen Nichttäter weiterhin das Gewicht der Tatfragen und erhöht für diesen das Risiko eines negativen Ergebnisses, d.h. einer zu Unrecht erfolgenden Klassifikation als Täter. Würde man etwa emotional neutrale und für den Untersuchten unbedeutende Fragen nach alltäglichen Sachverhalten stellen, wären die Reaktionen auf die „kritischen” Fragen im Vergleich dazu stets erhöht. Wählt man hingegen extrem belastende oder erregende Kontrollfragen (z.B. nach traumatischen Erlebnissen des Befragten), ist zu erwarten, daß die diesbezüglichen Meßergebnisse der körperlichen Reaktionen durchweg stärker ausfallen als bei den Tatfragen.
Hinzu kommt, daß die Formulierung der Kontrollfragen durch den Untersucher auf der Basis von Wissen über den Beschuldigten erfolgt, das er in einem Vorgespräch mit diesem gewonnen hat. Die Fragen haben nach der Konzeption dieses Untersuchungsverfahrens starken persönlichen Bezug und sind daher inhaltlich nicht standardisierbar. Unterstellt wird bei dieser Vorgehensweise im übrigen, daß die entsprechenden Angaben des Beschuldigten ihrerseits der Wahrheit entsprechen. Die Auswahl der Kontrollfragen ist im wesentlichen abhängig von der Person des Untersuchers und seiner Erfahrung mit dem Testverfahren. Sie ist methodisch daher als intuitiv zu bezeichnen.
(3) Schließlich spricht gravierend gegen das Kontrollfragenverfahren – und damit zugleich auch gegen dessen Abwandlung, die „gerichtete Lügenkontrollfragentechnik” –, daß es für den Untersucher bislang keine zuverlässigen Möglichkeiten der objektiven Überprüfung des Untersuchungsablaufs gibt. Er kann daher – ungeachtet der diesbezüglichen testlogischen Bedenken – insbesondere nicht feststellen, ob und inwieweit ihm Auswahl und Formulierung der Kontrollfragen dem methodischen Ansatz entsprechend gelungen, d.h. tatsächlich auf die Person des Beschuldigten und den spezifischen Tatvorwurf zugeschnitten sind (vgl. Rill/Vossel a.a.O.).
(4) Infolgedessen ist vor allem dem Gericht eine diesbezügliche Kontrolle ebenfalls verwehrt. Es müßte die Untersuchungsergebnisse und die darauf gestützten Schlüsse hinnehmen, ohne diese nachvollziehen und überprüfen zu können. Das Gericht könnte die nach der Strafprozeßordnung ausschließlich ihm zugewiesene Kompetenz nicht wahrnehmen und würde damit zugleich seiner Aufgabe, eine eigen- und letztverantwortliche Entscheidung zu treffen, nicht gerecht werden (vgl. zu diesem Gesichtspunkt Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Urt. vom 26. November 1997 – Verf. Nr. 371/1995; U.S. District Court, D. Arizona a.a.O.).
bb) Da das Kontrollfragenverfahren somit konzeptionell nicht abgesichert und seine Funktionsweise nicht belegbar ist, kommt einem unter seiner Verwendung gewonnenen Ergebnis grundsätzlich keine Beweisbedeutung zu. Einen gewissen indiziellen Beweiswert (vgl. hierzu und zum Bayes-Theorem Bender/Nack, Tatsachenfeststellungen vor Gericht Band I 2. Aufl. Rdn. 398 ff.) könnte es nur dann haben, wenn eine hinreichend breite Datenbasis belegen würde, daß – warum auch immer – bestimmte gemessene Körperreaktionen mit einem Verhalten (hier: wahre oder unwahre Äußerung) in hohem Maße zusammenhängen. Diese Voraussetzung ist beim Kontrollfragenverfahren jedoch nicht erfüllt.
Für einen derartigen Zusammenhang scheint allerdings zu sprechen, daß in der Literatur für durchgeführte Untersuchungen verschiedentlich „Trefferquoten” von ca. 70 bis 90 % genannt werden (Gutachten Prof. Dr. Undeutsch; vgl. auch die Zusammenstellung bei Eisenberg a.a.O. Rdn. 694 Fn. 76). Jedoch begegnen die mitgeteilten Ergebnisse nach dem jetzigen Stand der wissenschaftlichen Forschung für die Kontrollfragenmethode so tiefgreifenden Bedenken, daß ihnen im Ergebnis ein auch nur geringfügiger Beweiswert und damit eine (minimale) indizielle Bedeutung nicht zukommt:
(1) Überwiegend wird über Forschungsergebnisse berichtet, die auf Analogstudien beruhen, d.h. auf Experimenten, in denen die Validität der psychophysiologischen Aussagebeurteilung mit Hilfe von fingierten oder induzierten Delikten untersucht wurde. Diese Vorgehensweise ist aber schon deshalb methodisch zweifelhaft, weil nicht gewährleistet ist, daß die jeweils konstruierte Testanordnung für die zu untersuchenden Personen eine der Realität – insbesondere in emotionaler und motivationaler Hinsicht – vergleichbare Situation schafft (vgl. Kircher/Raskin a.a.O. 299, 301; Tent a.a.O. 239). Ein auf die erzielten Ergebnisse gestützter Schluß auf die Validität der Untersuchungsmethode auch in der (strafprozessualen) Praxis läßt sich schon aus diesem Grund nicht in zuverlässiger Weise ziehen (Gutachten Prof. Dr. Fiedler).
(2) Soweit den mitgeteilten „Richtigkeitswerten” vereinzelt Feldstudien, d.h. Untersuchungen psychophysiologischer Aussagebeurteilung anhand „echter” Kriminalfälle zugrunde liegen, besteht dieses methodische Bedenken zwar nicht. Durchgreifende Bedenken ergeben sich aber daraus, daß zum einen bei den vorhandenen Untersuchungen eine statistische Verzerrung festzustellen ist (a) und zum anderen ein tauglicher Prüfungsmaßstab für die Validitätsuntersuchungen, also die Beurteilung der Richtigkeit des Testergebnisses, fehlt (b), so daß den bisherigen Felduntersuchungen kein Aussagewert beizumessen ist.
(a) Zunächst unterliegen nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Fiedler die bisherigen Felduntersuchungen durchweg dem Einwand selektiver Verzerrung. Diese ist so stark, daß allein durch sie die hohen „Trefferquoten” erklärt werden können. Dies gilt vor allem für Beschuldigte mit negativem Testergebnis.
Diese statistische Verzerrung (sampling bias) beruht auf dem Umstand, daß in die Feldstudien vorwiegend nur die Fälle aufgenommen wurden, bei denen das Ergebnis der polygraphischen Untersuchung anhand eines Prüfungsmaßstabs bestätigt worden war. Umgekehrt wurden Strafverfahren in den veröffentlichten Studien trotz polygraphischer Untersuchung des Beschuldigten nicht berücksichtigt, wenn ein solcher Maßstab fehlte.
Das bedeutet, daß in die Untersuchungen nicht, wie es methodisch geboten wäre, die Gesamtmenge der Verfahren, in denen es zur Verwendung eines Polygraphen gekommen war, oder eine unverzerrte Stichprobe einfloß. Es handelte sich vielmehr nur um die jeweils wesentlich kleinere Zahl der Verfahren, für die überhaupt ein Prüfungsmaßstab gegeben schien und die zudem darauf angelegt war, das Ergebnis des Tests zu bestätigen. Dabei diente als Maßstab zumeist ein Geständnis.
Wie problematisch der für die statistische Verzerrung bedeutsame Vorgang der Schrumpfung der Gesamtmenge ist, zeigt eine Untersuchung über Fälle, in denen die Royal Canadian Mounted Police in den Jahren 1980 bis 1984 Beschuldigte mit dem Polygraphen getestet hatte (vgl. Patrick/Iacono Journal of Applied Social Psychology 1991, 229). Von den insgesamt 402 getesteten Fällen gingen in die Validitätsuntersuchung nur die 89 Verfahren ein, in denen zur Überprüfung des Untersuchungsergebnisses ein – nach Auffassung der den Test Überprüfenden – verläßliches Kriterium herangezogen werden konnte. Dabei handelte es sich in den 52 Fällen mit negativem Testausgang („schuldig”) um ein Geständnis, das nur in einem Fall durch einen Sachbeweis bestätigt wurde. In den 37 Fällen mit positivem Testausgang („unschuldig”) erfolgte die Verifizierung durch das Geständnis einer anderen Person oder (in vier Fällen) durch das Wiederauftauchen der gestohlenen Sache.
Da es zum Einsatz eines Polygraphen überwiegend dann kommt, wenn Sachbeweise fehlen, ist in Fällen eines für den Beschuldigten günstigen Untersuchungsausgangs ein Geständnis kaum zu erwarten. Ein Außenkriterium, also ein Umstand, der die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des gefundenen Testergebnisses unabhängig von diesem verläßlich bestätigt, liegt dann kaum einmal vor. Gleiches gilt aber auch, wenn ein Beschuldigter nicht gesteht, obwohl er ein negatives Untersuchungsergebnis erzielt hat. Beide Fallgruppen werden dann regelmäßig keinen Eingang in das von einer Feldstudie berücksichtigte Material finden und damit die Anzahl „kritischer” Konstellationen senken.
(b) Es gibt indes kaum Kriterien, die die Richtigkeit des Polygraphentests beweisen und damit einen brauchbaren Prüfungsmaßstab abgeben könnten. Denn da das an sich maßgebliche Kriterium der „tatsächlichen Wahrheit” nicht bekannt ist (Tent a.a.O. 233), können nur post-hoc-Klassifikationen herangezogen werden. Diese bestehen üblicherweise aus Geständnissen (nur ausnahmsweise zuzüglich „klarer” Sachbeweise), Gerichtsurteilen oder Entscheidungen von Expertengruppen, die ausschließlich für die Untersuchung zusammengestellt wurden (panel-Entscheidungen). Diese Kriterien sind schon für sich genommen als Beweis für die Wahrheit von ganz unterschiedlicher Qualität. Ein Geständnis allein beweist nicht die Schuld des Betroffenen (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 1998 – 2 StR 156/98; vgl. auch Peters Strafprozeß 4. Aufl. S. 398) und damit die Richtigkeit eines entsprechenden Testergebnisses. Gerichtsurteile oder panel-Entscheidungen mögen der Wahrheit näher kommen, wenn sie auf einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung beruhen. Mehr als eine mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeit für die Wahrheit bieten aber auch sie nicht (zu den methodischen Mängeln dieser Kriterien s. Eisenberg a.a.O. Rdn. 694; Frister a.a.O. 309; Rill/Vossel a.a.O. 483).
Die beschriebene Selektion des berücksichtigten Verfahrensmaterials und die Mängel der genannten zur Überprüfung der Richtigkeit herangezogenen Kriterien schließen allerdings nicht grundsätzlich aus, daß den in den Feldstudien „verifizierten” Fällen gleichwohl ein geringer Aussagewert hinsichtlich des Funktionierens des Kontrollfragenverfahrens zukommen könnte. Einen solchen Aussagewert gibt es indes deshalb nicht, weil die in den Feldstudien verwendeten Außenmaßstäbe (Geständnis, Urteil oder panel-Entscheidungen) ihrerseits mit hoher Wahrscheinlichkeit durch das Ergebnis der polygraphischen Untersuchung beeinflußt worden sind.
In der Regel läßt es sich schon nicht ausschließen, daß eine für den untersuchten Beschuldigten negativ verlaufene polygraphische Untersuchung für ein von ihm im Anschluß abgelegtes (eventuell falsches) Geständnis, für die Intensität weiterer Ermittlungen und auch für die gerichtliche Entscheidung mitursächlich war. Entsprechendes gilt für positive Testergebnisse, wenn dem Polygraphen Beweiswert zugesprochen wird. In diesen Fällen wird das Testergebnis zum Abbruch weiterer Ermittlungen führen.
Diese Abhängigkeit der angezogenen Maßstäbe vom Ergebnis der polygraphischen Untersuchung besteht wegen der Praxis des „plea bargaining” in besonderem Maße für den anglo-amerikanischen Strafprozeß, auf den sich die bisherigen Feldstudien nahezu ausnahmslos beziehen (vgl. Volckart a.a.O. 140; zum „plea bargaining” Weigend, Absprachen im ausländischen Strafverfahren 1990 S. 33 ff.). Eine Überprüfung der in Deutschland unter Einsatz eines Polygraphen in gerichtlichen Verfahren erzielten Ergebnisse hat bislang nicht stattgefunden.
Die aufgezeigten, im einzelnen weder vom Untersucher noch vom Gericht überprüfbaren Wechselwirkungen von Prüfungsgegenstand und -maßstab nehmen den in den vorliegenden Feldstudien erzielten „Trefferquoten” jegliche Aussagekraft und machen sie statistisch wertlos (Gutachten Prof. Dr. Fiedler).
(4) Einen statistischen Beweiswert der mit den Feldstudien erzielten Ergebnisse unterstellt, kommen die generellen Schwierigkeiten bei deren Übertragung auf eine individuelle Anwendung der Kontrollfragenmethode hinzu (z.B. Vergleichbarkeit des konkreten Einzelfalls mit dem „Durchschnittsfall” der verfügbaren Untersuchungen, Anwendung statistischer Werte auf einen konkreten Beschuldigten).
Darüber hinaus ist zu beachten, daß es sich bei den in Feldstudien erzielten Resultaten lediglich um Daten bezogen auf eine bestimmte Untersuchungsgruppe handelt. Die Ergebnisse geben also nur eine bestimmte Gruppenwahrscheinlichkeit an, die mit dem untersuchten Einzelfall nichts zu tun hat. Das bedeutet, daß sich für die Richtigkeit des Ergebnisses einer konkreten Untersuchung aus den statistischen Daten nichts herleiten läßt. Das im Einzelfall erzielte Ergebnis bleibt davon unberührt. Es kann beispielsweise negativ ausfallen, obwohl sich innerhalb einer vergleichbaren Gruppe die Wahrscheinlichkeit eines positiven Ergebnisses als ausgesprochen hoch erwiesen hat.
Eine derartige – unter Umständen zu negativer Validität führende – Abweichung im konkreten Einzelfall kann nicht zuletzt auch auf bewußten Manipulationen seitens des Beschuldigten beruhen (Gutachten Prof. Dr. Steller und Prof. Dr. Fiedler). Insoweit kommen neben physischen (z.B. Beißen auf die Zunge) vor allem auch mentale Aktivitäten wie etwa von den gestellten Fragen thematisch abweichende Gedankenarbeit in Frage, z.B. das Lösen von Rechenaufgaben (s. auch Berning a.a.O. 248 f.; Holstein a.a.O. 157). Diese manipulierenden Maßnahmen sind in kurzer Zeit erlernbar und können gezielt auf den Einsatz bei polygraphischen Messungen trainiert werden (vgl. Honts/Perry Law and Human Behavior 1992, 357, 373 ff.; Kircher/Raskin a.a.O. 299; Tent a.a.O. 231, 240: „beating the machine”). Sie sind für den Untersucher nicht zu erkennen.
Ihre Effektivität läßt sich zudem durch psychologische Techniken steigern, z.B. Im Wege instrumentellen Lernens der Veränderung physiologischer Reaktionen durch kontinuierliche Rückmeldung der aktuellen Meßwerte (Biofeedback). Eine Methode, das hieraus entstehende Manipulationsrisiko auszuschließen oder auch nur zu senken, existiert nicht (vgl. Honts/Raskin/Kircher a.a.O. 258).
b) Das Funktionieren des Tatwissenverfahrens setzt zwingend voraus, daß vor dessen Durchführung dem Beschuldigten als Antworten vorgeschlagene Tatdetails nicht bekannt geworden sind, weil anderenfalls die ausschlaggebenden Orientierungsreaktionen auch bei einem Nichttäter zu erwarten sind (Gutachten Prof. Dr. Steller und Prof. Dr. Fiedler). Daraus folgt, daß diese Untersuchungsmethode i.S.d. § 244 Abs. 3 Satz 2 4. Alt. StPO völlig ungeeignet ist, wenn der Beschuldigte bereits von dem gegen ihn erhobenen Vorwurf und den darauf bezogenen Ermittlungsergebnissen Kenntnis erlangt hat.
Eine Verwendung des Tatwissenverfahrens erst zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung scheidet daher nach allgemeiner Ansicht aus. Dementsprechend war es zum Zeitpunkt der Stellung des vom Landgericht abgelehnten Beweisantrages ausgeschlossen, daß die vom Angeklagten – unspezifiziert – begehrte Beweiserhebung „mittels der Durchführung einer Untersuchung mit dem Polygraphen” im Wege des Tatwissenverfahrens noch ein brauchbares Ergebnis erbringen konnte, weil er bereits auf mehrfache Weise konkrete Kenntnisse über die gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe erhalten hatte.
c) Da die vom Angeklagten beantragte polygraphische Untersuchung somit zu einem Beweisergebnis ohne jeden Beweiswert geführt hätte, kann auf der unzutreffend begründeten Ablehnung des Beweisantrages das Urteil nicht beruhen.
Unterschriften
Schäfer, Maul, Granderath, Brüning, Landau
Fundstellen
Haufe-Index 1481262 |
BGHSt |
BGHSt, 308 |
NJW 1999, 657 |
FamRZ 1999, 587 |
JR 1999, 379 |
Nachschlagewerk BGH |
NJ 1999, 153 |
RDV 1999, 116 |
StV 1999, 74 |
LL 1999, 237 |
Polizei 1999, 59 |
R&P 1999, 132 |
ZFIS 1999, 170 |