Entscheidungsstichwort (Thema)
Unterhaltsanspruch des erwachsenen Kinds. Erhöhter angemessener Selbstbehalt. Elternunterhalt. Tatsächliches Renteneinkommen. Abzug krankheits- und alterbedingter Mehrkosten. Pauschaler Selbstbehalt. Enkelunterhalt. Erwerbsminderungsrente. Eingliederungshilfe für behinderte Menschen
Leitsatz (amtlich)
Es ist nicht zu beanstanden, einem Elternteil gegenüber dem Unterhaltsanspruch seines erwachsenen Kindes, das seine bereits erlangte wirtschaftliche Selbständigkeit wieder verloren hat, einen ebenso erhöhten angemessenen Selbstbehalt zu belassen, wie ihn die unterhaltsrechtlichen Tabellen und Leitlinien für den Elternunterhalt vorsehen.
Normenkette
BGB § 1603 Abs. 1; SGB XII § 94 Abs. 2
Verfahrensgang
OLG Köln (Urteil vom 19.01.2010; Aktenzeichen II-25 UF 48/09) |
AG Köln (Entscheidung vom 03.02.2009; Aktenzeichen 321 F 121/08) |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des 25. Zivilsenats des OLG Köln vom 19.1.2010 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger, ein überörtlicher Träger der Sozialhilfe, gewährt der 1958 geborenen, inzwischen erwerbsunfähigen Tochter des Beklagten seit Februar 2007 fortlaufend Eingliederungshilfe. Er nimmt den 1935 geborenen Beklagten, der als Rentner über Einkünfte von 1.372,24 EUR und seit Juli 2009 von 1.408,21 EUR verfügt, aus übergegangenem Recht gem. § 94 Abs. 2 SGB XII auf rückständigen und laufenden Unterhalt i.H.v. monatlich 26 EUR seit 1.3.2007 und i.H.v. 27,69 EUR seit 1.1.2009 in Anspruch.
Rz. 2
Die Vorinstanzen haben die Klage unter der Annahme abgewiesen, dass dem Beklagten ein angemessener Selbstbehalt von 1.400 EUR verbleiben müsse. Dagegen wendet sich der Kläger mit der zugelassenen Revision, mit der er den Unterhaltsanspruch weiter verfolgt.
Entscheidungsgründe
Rz. 3
Die zulässige Revision hat keinen Erfolg.
Rz. 4
Für das Verfahren ist gem. Art. 111 Abs. 1 FGG-RG noch das bis Ende August 2009 geltende Prozessrecht anzuwenden, weil der Rechtsstreit vor diesem Zeitpunkt eingeleitet wurde (vgl. BGH v. 3.11.2010 - XII ZB 197/10, FamRZ 2011, 100).
I.
Rz. 5
Das OLG hat zur Begründung seiner in FamRZ 2010, 1739 veröffentlichten Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt: Ein Unterhaltsanspruch scheitere jedenfalls daran, dass der Beklagte nicht leistungsfähig i.S.v. § 1603 Abs. 1 BGB sei. Zwar ergebe sich die Leistungsunfähigkeit nicht schon aus dem konkreten Bedarf des Beklagten. Auch ergebe sich bei Ansatz eines angemessenen Selbstbehalts von 1.100 EUR gegenüber volljährigen Kindern gemäß der Düsseldorfer Tabelle bzw. den Leitlinien des OLG Köln und dem tatsächlichen Renteneinkommen des Beklagten selbst bei Abzug krankheits- und altersbedingter Mehrkosten immer noch eine Differenz von rund 100 EUR, so dass der Beklagte die verlangten Unterhaltsbeträge durchaus zahlen könnte. In Fällen wie dem vorliegenden - der Unterhaltspflichtige befinde sich seit mehreren Jahren im Rentenalter - sei jedoch ein pauschaler Selbstbehalt von 1.400 EUR anzusetzen, wie er auch im Rahmen des Elternunterhalts Anwendung finde.
Rz. 6
§ 1603 Abs. 1 BGB gewährleiste jedem Unterhaltspflichtigen vorrangig die Sicherung seines eigenen angemessenen Unterhalts; ihm sollten grundsätzlich die Mittel belassen bleiben, die er zur Deckung des seiner Lebensstellung entsprechenden allgemeinen Bedarfs benötige. Die Bemessung im konkreten Einzelfall obliege dem Tatrichter, der sich dabei an den in den Tabellen und Leitlinien angeführten Erfahrungswerten orientieren könne. Die Düsseldorfer Tabelle sowie die Leitlinien des erkennenden OLG Köln und anderer OLG wiesen den Selbstbehalt eines Elternteils gegenüber seinem dem Grunde nach unterhaltsberechtigten Kind in unterschiedlicher Höhe aus. Er betrage gegenüber minderjährigen sowie volljährigen privilegierten Kindern bei nicht erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen 770 EUR, bei Erwerbstätigen 900 EUR (notwendiger Selbstbehalt), gegenüber den übrigen Kindern jedoch in der Regel mindestens 1.100 EUR (angemessener Selbstbehalt). Demgegenüber betrage der angemessene Selbstbehalt des Unterhaltspflichtigen gegenüber unterhaltsberechtigten Eltern mindestens 1.400 EUR monatlich zzgl. der Hälfte des darüber hinausgehenden Einkommens. Diese Regelung gehe zurück auf die Rechtsprechung des BGH, wonach beim Elternunterhalt andere Lebensverhältnisse zugrunde lägen als in den übrigen Selbstbehaltsfällen. Zwar müssten Eltern damit rechnen, ihren Kindern auch über das 18. Lebensjahr hinaus bis zum Abschluss einer Berufsausbildung bzw. der wirtschaftlichen Selbständigkeit Unterhalt zu gewähren. Danach gelte das jedoch nicht mehr, weil das Kind eine eigene Lebensstellung erlangt habe, also nicht mehr - wie das seine Ausbildung betreibende Kind - seine Lebensstellung noch von der des Pflichtigen ableite. Das entspreche auch der Rechtsprechung des BGH zum Enkelunterhalt. Auch in solchen Fällen sei die Lebenssituation eine andere als sie den Tabellen und Leitlinien im Übrigen zugrunde liege. Der Unterhaltspflichtige befinde sich selbst bereits in einem höheren Lebensalter, so dass er seine Lebensverhältnisse demzufolge bereits längerfristig seinem Einkommensniveau angepasst habe. Wenn er nicht mehr im Arbeitsleben stehe, könne er die Inanspruchnahme auf Unterhalt auch nicht durch zusätzliche Erwerbstätigkeit ausgleichen.
Rz. 7
Diese Grundsätze seien mit dem vorliegenden Fall vergleichbar. Von daher sei es gerechtfertigt, den allgemein gegenüber volljährigen Kindern geltenden Selbstbehalt angemessen zu erhöhen, wobei der für den Elternunterhalt geltende Betrag insoweit als angemessen erscheine.
Rz. 8
Dem stehe nicht entgegen, dass nach der sozialhilferechtlichen Regelung des § 94 Abs. 2 Satz 2 SGB XII eine Vermutung dafür bestehe, dass der Anspruch in Höhe der in Satz 1 der Vorschrift genannten Beträge übergeht und mehrere Unterhaltspflichtige zu gleichen Teilen haften. Denn diese Vermutung sei aufgrund der dargelegten konkreten Umstände im vorliegenden Fall widerlegt.
Rz. 9
Soweit das Einkommen des Beklagten seit dem 1.7.2009 geringfügig über dem Selbstbehalt von 1.400 EUR liege, sei die an sich als Unterhalt geschuldete Hälfte des Mehrbetrages - hier 4,11 EUR - als Bagatellbetrag außer Ansatz zu lassen.
II.
Rz. 10
Diese Ausführungen halten einer revisionsgerichtlichen Überprüfung im Ergebnis stand.
Rz. 11
1. Nach § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII geht der zivilrechtliche Unterhaltsanspruch eines Sozialhilfeberechtigten bis zur Höhe der geleisteten Aufwendungen auf den Träger der Sozialhilfe über. § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII sieht eine Ausnahme von diesem generellen Anspruchsübergang für Eltern behinderter oder pflegebedürftiger volljähriger Kinder vor. Danach geht der Anspruch einer volljährigen unterhaltsberechtigten Person, die behindert i.S.v. § 53 SGB XII oder pflegebedürftig i.S.v. § 61 SGB XII ist, gegenüber ihren Eltern wegen geleisteter Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege nur bis zur Höhe von 26 EUR monatlich, wegen Hilfe zum Lebensunterhalt nur bis zur Höhe von 20 EUR monatlich auf den Träger der Sozialhilfe über.
Rz. 12
Nach § 94 Abs. 2 Satz 2 SGB XII wird vermutet, dass ein Anspruch in dieser Höhe übergeht und dass mehrere Unterhaltspflichtige zu gleichen Teilen haften. Diese gesetzliche Vermutung ist widerlegbar (BGH, Urt. v. 23.6.2010 - XII ZR 170/08, FamRZ 2010, 1418 Rz. 22). Das setzt allerdings einen Vortrag des unterhaltspflichtigen Elternteils zur Leistungsunfähigkeit oder zur abweichenden anteiligen Haftung voraus (BGH, Urt. v. 23.6.2010 - XII ZR 170/08, FamRZ 2010, 1418 Rz. 25 m.w.N.; Wendl/Klinkhammer Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis 8. Aufl., § 8 Rz. 86). Entgegen der Revision lässt § 94 Abs. 2 Satz 2 SGB XII nicht die Prüfung entfallen, dass ein Unterhaltsanspruch dem Grunde und der Höhe nach mindestens in Höhe des beanspruchten Betrages nach den allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen bestehen muss. § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII beinhaltet nur - zugunsten des Unterhaltspflichtigen - eine sozialstaatlich begründete Ausnahme von dem umfassenden Anspruchsübergang nach § 94 Abs. 1 SGB XII. Dagegen enthält § 94 Abs. 2 Satz 2 SGB XII eine die Darlegungs- und Beweislast umkehrende Vermutungsregelung, die der Verwaltungsvereinfachung dient. In diesen Regelungen erschöpft sich die Vorschrift; eine Außerkraftsetzung der unterhaltsrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen enthält sie nicht.
Rz. 13
2. Danach ist der Beklagte seiner Tochter nicht unterhaltspflichtig.
Rz. 14
a) Zwar erreichte der Unterhaltsbedarf der Tochter (§ 1602 Abs. 1 BGB) wenigstens den geltend gemachten Betrag von monatlich 26 EUR bzw. 27,69 EUR, weil sie als Volljährige wegen ihrer Erkrankung erwerbsunfähig ist und weil sie einen über die von ihr bezogene Erwerbsminderungsrente hinaus gehenden konkreten Lebensbedarf hat, den der Kläger in der Form von Eingliederungshilfe für behinderte Menschen i.H.v. mindestens 926 EUR monatlich abdeckt. Wegen der Subsidiarität der Sozialhilfe sind die Leistungen des Klägers jedenfalls im Umfang des in § 94 Abs. 2 SGB XII geregelten Anspruchsübergangs nicht bedarfsdeckend (vgl. BGH, Urt. v. 23.6.2010 - XII ZR 170/08, FamRZ 2010, 1418 Rz. 12 m.w.N.).
Rz. 15
b) Der Beklagte ist jedoch nicht leistungsfähig.
Rz. 16
§ 1603 Abs. 1 BGB gewährleistet jedem Unterhaltspflichtigen vorrangig die Sicherung seines eigenen angemessenen Unterhalts; ihm sollen grundsätzlich die Mittel verbleiben, die er zur angemessenen Deckung des seiner Lebensstellung entsprechenden allgemeinen Bedarfs benötigt (BGH, Urt. v. 26.2.1992 - XII ZR 93/91, FamRZ 1992, 795, 797 und vom 7.12.1988 - IVb ZR 15/88, FamRZ 1989, 272). In welcher Höhe dieser Bedarf des Verpflichteten zu bemessen ist, obliegt der tatrichterlichen Beurteilung des Einzelfalls. Das dabei gewonnene Ergebnis ist revisionsrechtlich nur darauf zu überprüfen, ob es den anzuwendenden Rechtsgrundsätzen Rechnung trägt und angemessen ist (vgl. BGH, Urt. v. 27.4.1983 - IVb ZR 372/81, FamRZ 1983, 678; v. 6.11.1985 - IVb ZR 45/84, FamRZ 1986, 151). Das ist hier der Fall.
Rz. 17
Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass den in den Unterhaltstabellen angesetzten Selbstbehaltsbeträgen, die ein Unterhaltsverpflichteter grundsätzlich gegenüber einem minderjährigen oder einem volljährigen Kind verteidigen kann, andere Lebensverhältnisse zugrunde liegen, als im vorliegenden Fall zu beurteilen sind. Zwar müssen Eltern regelmäßig damit rechnen, ihren Kindern auch über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus zu Unterhaltsleistungen verpflichtet zu sein, bis diese ihre Berufsausbildung abgeschlossen haben und wirtschaftlich selbständig sind. Haben die Kinder danach eine eigene Lebensstellung erlangt, in der sie auf elterlichen Unterhalt nicht mehr angewiesen sind, kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass sie diese Elternunabhängigkeit auch behalten. Darauf dürfen sich, wenn nicht bereits eine andere Entwicklung absehbar ist, grundsätzlich auch die Eltern einstellen.
Rz. 18
Verliert das erwachsene Kind zu einem späteren Zeitpunkt wieder seine wirtschaftliche Selbständigkeit, wie hier durch den Eintritt einer Behinderung, findet die Inanspruchnahme des Unterhaltspflichtigen in der Regel erst statt, wenn dieser sich selbst bereits in einem höheren Lebensalter befindet, seine Lebensverhältnisse demzufolge bereits längerfristig seinem Einkommensniveau angepasst hat oder wie hier sogar bereits Rente bezieht und sich dann einer Unterhaltsforderung ausgesetzt sieht, mit der er nach dem regelmäßigen Ablauf nicht mehr zu rechnen brauchte.
Rz. 19
In tatsächlicher Hinsicht würde die Notwendigkeit, nicht unerhebliche Abstriche von dem derzeitigen Lebensstandard hinzunehmen, auf eine übermäßige Belastung des Unterhaltspflichtigen hinauslaufen. Das gilt insb., wenn er seinen Abkömmling im Falle eigener Bedürftigkeit nicht seinerseits auf Zahlung von Elternunterhalt wird in Anspruch nehmen können (vgl. BGH, Urt. v. 8.6.2005 - XII ZR 75/04, FamRZ 2006, 26, 28).
Rz. 20
Mit Rücksicht darauf ist es gerechtfertigt, dass der Selbstbehalt des Unterhaltspflichtigen gegenüber seinem erwachsenen Kind, das seine bereits erlangte wirtschaftliche Selbständigkeit wieder verloren hat, mit einem erhöhten Betrag, wie er in den Tabellen und Leitlinien insoweit als Mindestbetrag vorgesehen ist, angesetzt und ggf. noch dadurch erhöht wird, dass dem Unterhaltspflichtigen ein etwa hälftiger Anteil seines für den Elternunterhalt einsetzbaren bereinigten Einkommens zusätzlich verbleibt (ebenso OLG Koblenz FamRZ 2004, 484; OLG Karlsruhe FamRZ 1999, 1532; Wendl/Klinkhammer Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis 8. Aufl., § 2 Rz. 552; a.A.: Schellhorn in Schellhorn/Schellhorn/Hohm SGB XII 18. Aufl., § 94 Rz. 93).
Rz. 21
Der Senat hat mit ähnlichen Erwägungen bereits die Auffassung gebilligt, dass Abkömmlingen, die ihren Eltern Unterhalt schulden, ein erhöhter Selbstbehalt zu belassen sei (BGH, Urt. v. 26.2.1992 - XII ZR 93/91, FamRZ 1992, 795, 797; v. 23.10.2002 - XII ZR 266/99, FamRZ 2002, 1698, 1700 ff.). Dem ist auch die Düsseldorfer Tabelle gefolgt, die den angemessenen Selbstbehalt beim Elternunterhalt für den streitigen Unterhaltszeitraum auf 1.400 EUR festlegt (seit 2011: 1.500 EUR).
Rz. 22
c) Somit ist das OLG zu Recht davon ausgegangen, dass das vor Juli 2009 vorhandene bereinigte Nettoeinkommen von 1.372,24 EUR den zugrunde zu legenden angemessenen Selbstbehaltsbetrag von 1.400 EUR nicht überstieg und deshalb der Beklagte nicht leistungsfähig war.
Rz. 23
Für die Zeit ab Juli 2009 hat das OLG ein bereinigtes Nettoeinkommen von 1.408,21 EUR zugrunde gelegt, das den erhöhten angemessenen Selbstbehalt für sich genommen um 8,21 EUR übersteigt. Vor dem Hintergrund der vom OLG festgestellten krankheits- und altersbedingten eigenen Mehrkosten des Beklagten für Medikamente, Hilfsmittel usw. ist es revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, auch diesen Mehrbetrag nicht für Unterhaltsleistungen an die Tochter heranzuziehen.
Fundstellen
NJW 2012, 6 |
NJW 2012, 926 |
FamRZ 2012, 530 |
FuR 2012, 255 |
FPR 2012, 6 |
MDR 2012, 287 |
NJ 2012, 4 |
ZfSH/SGB 2012, 279 |
FF 2012, 173 |
FamFR 2012, 127 |
FamRB 2012, 104 |
NJW-Spezial 2012, 165 |
FK 2012, 85 |
info-also 2012, 240 |