Leitsatz (amtlich)
›Es gibt keinen Beweis des ersten Anscheins für einen Freitod.‹
Verfahrensgang
OLG Stuttgart |
LG Stuttgart |
Tatbestand
Der 1964 geborene Sohn der Kläger, B, hatte bei der Beklagten eine Unfallversicherung abgeschlossen. Danach waren im Falle seines unfallbedingten Todes 15.000 DM an seine Erben zu zahlen. B verstarb am 9. Juni 1983 an inneren Blutungen als Folgen eines aufgesetzten Schusses ins Herz mit einem Kleinkalibergewehr. Er wurde von den Klägern beerbt.
Die Beklagte hat die Auszahlung der Versicherungssumme verweigert, weil B Selbstmord begangen habe. Der Klage auf Zahlung von 15.000 DM nebst Zinsen haben die Vorinstanzen stattgegeben. Mit ihrer - zugelassenen - Revision erstrebt die Beklagte die Abweisung der Klage.
Entscheidungsgründe
Das Berufungsgericht hält die Vermutung des § 180 a Abs. 1 VVG für nicht widerlegt. Es hat sich nicht davon überzeugen können, daß B sich vorsätzlich selbst getötet hat: Er habe zwar unstreitig den tödlichen Schuß ausgelöst. Für einen vorsätzlichen Freitod spreche, daß der tödliche Schuß in der Herzgegend aufgesetzt gewesen sei. Es könne ausgeschlossen werden, daß sich der Schuß beim Reinigen der Waffe gelöst habe, weil sich die zum Reinigen der Waffe benötigten Hilfsmittel in einem anderen Raum befunden hätten. Darauf lasse sich eine einigermaßen sichere Überzeugung von einem Selbstmord aber nicht stützen. B sei zwar mit der Waffe vertraut gewesen. Der Druckpunkt des Kleinkalibergewehrs sei aber nicht so groß gewesen, daß sich ein Schuß nur infolge einer bewußten Betätigung des Abzugs hätte lösen können oder daß eine versehentliche Betätigung des Abzugs höchst unwahrscheinlich erschiene. Aussagekräftige Umstände, die für oder gegen ein Motiv zum Selbstmord sprächen, hätten sich nicht ergeben. Der Verstorbene werden zwar als etwas kontaktarm geschildert; auch sei er offenbar mit seiner Lehrstelle unzufrieden gewesen und habe sich einige Zeit vor seinem Tod gegenüber seinem Vater insgesamt sehr unzufrieden über seine Lebensumstände geäußert. Andererseits habe er noch am Vormittag seines Todestages erfahren, daß er auf Kosten der Versicherung Ersatz für sein bei einem unverschuldeten Unfall beschädigtes Motorrad erhalten werden; er habe sich darüber gefreut und einem Freund mitgeteilt, daß am Wochenende ein Motorradausflug statt finden könne; er sei unmittelbar vor dem tödlichen Schuß mit der Waffe im Jagdgebiet unterwegs gewesen und habe kurz vor dem Unglücksfall seinen Bruder noch gebeten, ihm einen Leitzordner aus der Stadt mitzubringen.
Einen Anscheinsbeweis für einen Freitod hält das Berufungsgericht nicht für angängig.
Die Revision erachtet dagegen die Anwendung der Regeln über den Anscheinsbeweis für angebracht. Es gebe in den Fällen der Selbsttötung Handlungsabläufe, bei deren Feststehen der Schluß auf das Wollen der Tötung nach der praktischen Erfahrung des Lebens unabweislich sei. Dazu gehöre der Schuß mit einem aufs Herz aufgesetzten Gewehr.
Dem vermag der Senat indessen nicht zu folgen. Ob ein Beweis des ersten Anscheins für einen Freitod möglich ist, ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nicht ganz einheitlich beurteilt worden. Der II. Zivilsenat hat in seinem Urteil vom 10. Januar 1955 (II ZR 151/53 = VersR 1955, 99) beim Schuß mit einem auf die Stirn aufgesetzten Bolzenschußapparat einen Anscheinsbeweis für möglich gehalten, weil ein derartiger Schuß nach der Lebenserfahrung in der Absicht abgegeben zu werden pflege, sich selbst zu töten. In späteren Entscheidungen ist entweder ein Anscheinsbeweis abgelehnt (Urteil vom 8. Juli 1965 - II ZR 162/63 VersR 1965, 797; vom 19. Januar 1967 - II ZR 138/64 = VersR 1967, 269) oder die Möglichkeit eines Anscheinsbeweises offengelassen worden (Urteil vom 19. Februar 1981 - IV a ZR 98/80 = VersR 1981, 452 = LM ZPO § 286 C Nr. 72). Die Anwendung der Grundsätze über den Anscheinsbeweis ist deshalb problematisch, weil es sich um die Feststellung eines individuellen Willensentschlusses handelt. Die höchstrichterliche Rechtsprechung geht grundsätzlich davon aus, daß es keinen Anscheinsbeweis für individuelle Verhaltensweisen von Menschen in bestimmten Lebenslagen gibt (BGH Urteil vom 7. Oktober 1980 - VI ZR 177/79 = VersR 1981, 1153; ebenso BGH Urteil vom 26. Januar 1983 - IV b ZR 344/81 = NJW 1983, 1548, 1551).
Nach Auffassung des Senats Ein Anscheinsbeweis kommt für eine vorsätzliche Selbsttötung nicht in Betracht. Ein Beweis des ersten Anscheins ist dann möglich, wenn im Einzelfall ein typischer Geschehensablauf vorliegt, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache hinweist und so sehr das Gepräge des gewöhnlichen und üblichen trägt, daß die besonderen individuellen Umstände im ihrer Bedeutung zurücktreten (BGH, VersR 1978, 74, 75 m.w.N. ). Der Freitod eines Menschen ist meist so sehr von seinen besonderen Lebensumständen, seiner Persönlichkeitsstruktur und seiner augenblicklichen Gemütslage, insbesondere aber auch von seiner subjektiven Sicht seiner Situation, die wiederum von irrationalen Momenten beeinflußt sein kann, abhängig, daß von einem typischen Geschehensablauf gesprochen werden kann. Es mag allerdings so eindeutige Todesumstände geben, daß der Schluß von diesen Todesumständen auf einen Freitod naheliegend oder gar zwingend ist. Dann wird sich jedoch der Tatrichter meist auch ohne die Beweiserleichterung des Anscheinsbeweises die Überzeugung verschaffen können, daß ein Freitod vorliegt und damit die Vermutung des § 180 a Abs. 1 VVG widerlegt ist. Dazu gehört keine unumstößliche Gewißheit, vielmehr ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewißheit, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BGHZ 53, 245, 256). Für einen Anscheinsbeweis bleibt danach aber kein Raum.
Daß der Tatrichter sich nach den Regeln des Strengbeweises nicht von einem Freitod überzeugen konnte, begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Er hat weder die gebotene Gesamtwürdigung der Umstände unterlassen, noch zu hohe Anforderungen an die Beweisführung gestellt oder von den Parteien vorgetragene Umstände nicht gewürdigt. Das Gutachten eines Waffensachverständigen oder eines Gerichtsmediziners brauchte er nach Lage der Dinge nicht zu erheben. Beantragt war ein derartiges Gutachten in der Berufungsinstanz im erster Linie dafür, daß der Schuß vom Getöteten selbst abgegeben wurde. Das ist aber zwischen den Parteien unstreitig. die weitere unter Sachverständigenbeweis gestellte Frage, ob der Verstorbene den Schuß unter Berücksichtigung seiner Position auf dem Bett vorsätzlich gelöst hatte, konnte der Tatrichter ohne Sachverständigen entscheiden.
Die sonstigen Verfahrensrügen hat der Senat geprüft. Sie greifen nicht durch. Von einer Begründung sieht der Senat ab (§ 565 a ZPO).
Fundstellen
Haufe-Index 2992894 |
BGHZ 100, 214 |
BGHZ, 214 |
NJW 1987, 1944 |
BGHR VVG § 180a Abs. 1 Anscheinsbeweis 1 |
DRsp II(230)102f |
DRsp IV(413)199c |
JZ 1987, 735 |
JuS 1987, 829 |
MDR 1987, 649 |
VersR 1987, 503 |
DRsp-ROM Nr. 1992/3210 |