Entscheidungsstichwort (Thema)
versuchter Totschlag
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 5. Juli 1999 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit er wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit unerlaubter Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine halbautomatische Selbstladekurzwaffe verurteilt worden ist.
2. Die Sache wird insoweit sowie zur Festsetzung einer (Einzel-) Strafe hinsichtlich der Verurteilung wegen unerlaubten Erwerbs einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe nebst Munition in Tateinheit mit unerlaubter Ausübung der tatsächlichen Gewalt über die Waffe und mit deren unerlaubtem Führen zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen, die auch über die Kosten des Rechtsmittels zu entscheiden hat.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Von Rechts wegen
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe nebst Munition in weiterer Tateinheit mit unerlaubter Ausübung der tatsächlichen Gewalt über die Waffe und deren unerlaubtem Führen zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge weitgehend Erfolg.
Die Verfahrensbeschwerden greifen nicht durch. Die Besetzungsrüge ist unzulässig, weil der Beschwerdeführer es unterläßt, den vollständigen Wortlaut des Schreibens des entpflichteten Schöffen vom 26. Mai 1999 (SA Bd. V Bl. 88) mitzuteilen, und auch nicht darlegt, daß dieser Schöffe tatsächlich nicht wegen Unzumutbarkeit der Diensthandlung (vgl. dazu Kissel GVG 2. Aufl. § 54 Rdn. 5 ff.) verhindert war (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Im übrigen wäre sie auch unbegründet, weil die Entscheidung des Vorsitzenden über die Entpflichtung des Hauptschöffen nach § 54 Abs. 3 Satz 1 GVG mit der Folge des § 336 Satz 2 StPO unanfechtbar ist. Auf die Rüge der Verletzung des § 244 StPO kommt es nicht an. Sie betrifft nur das als versuchter Totschlag gewertete Geschehen; insoweit ist das Urteil schon auf die Sachrüge hin aufzuheben.
1. Das Landgericht hat festgestellt:
Der Angeklagte gehörte zumindest in den Jahren 1995 und 1996 „der Drogenszene im Raum Schönebeck und Calbe” an. Seit er sich auf Veranlassung seiner Verlobten Steffi G. daraus gelöst hatte, lebte er „in Angst vor Repressalien aus der Szene” in einer „latenten Bedrohungssituation”. Am 9. Oktober 1998 fand er am Stellplatz seines Pkw eine anonyme Nachricht „Andor, melde dich, wir wissen Bescheid”, die er als Drohung auffaßte. Daraufhin kaufte er noch am selben Tag eine Pistole Walther mit zwei mit Patronen gefüllten Magazinen, die er fortan in geladenem und entsichertem Zustand bei sich führte, „um dadurch zu jedem Zeitpunkt Angriffen der ihn bedrohenden Personen wirkungsvoll begegnen zu können”. Diese Waffe hatte der Angeklagte bei sich, als er am Abend des folgenden Tages seinen Bekannten Norman L. aufsuchte. Dort kam es zu einer tätlichen Auseinandersetzung mit einer gegnerischen Gruppe, von der Silvio H. und Michael K. lebensgefährlich verletzt wurden. Hintergrund der Auseinandersetzung war, daß die Gruppe um die Geschädigten von einem Bekannten des Angeklagten „offenbar … Geldschulden eintreiben” wollte.
In der Nacht zum 12. Oktober 1998 legte der Angeklagte die Pistole neben sein Kopfkissen, als er sich auf der Couch im Wohnzimmer seiner Wohnung zusammen mit seiner Verlobten zum Schlafen legte. Die Waffe war geladen und entsichert, aber nicht durchgeladen. Gegen 4.20 Uhr stürmte ein Sondereinsatzkommando (SEK) der Polizei die Wohnung, in der die Polizei den Freund des Angeklagten, Klaus-Dieter H., vermutete. Dieser stand in Verdacht, an der tätlichen Auseinandersetzung zwei Tage zuvor aktiv beteiligt gewesen „und im Besitze scharfer Waffen, u.a. Handgranaten” zu sein.
Zunächst wurde durch das SEK die Wohnungstür aufgebrochen, wobei erheblicher Lärm entstand. Beim Betreten der Wohnung rief einer der Polizeibeamten „laut und vernehmlich” das Wort „Polizei”. Sodann trat der Polizeibeamte Ulf G. die vier Meter von der Wohnungseingangstür entfernte Tür zum Wohnzimmer auf. Während er mit seiner an der vorgehaltenen Dienstwaffe befindlichen Taschenlampe das Zimmer ausleuchtete, rief er noch einmal laut und vernehmlich „Polizei”. Bis zu diesem Zeitpunkt waren „nur wenige Sekunden” vergangen. Der Angeklagte war durch die lauten Geräusche beim Aufbrechen der Wohnungstür „sofort erwacht”. Er nahm an, daß ihn „nunmehr die Personen, die ihn bedrohten”, überfielen. In „panische(r) Angst” lud er die neben ihm liegende Pistole durch und gab „in seiner Erregung und Furcht” aus ca. 90 cm Entfernung einen gezielten Schuß auf den Oberkörper des „für ihn sichtbaren Beamten G.” ab, und zwar zeitgleich mit der letzten Silbe des von Ulf G. ausgesprochenen Wortes „Polizei”. Diesen sowie den vorangehenden Ausruf „Polizei” hatte der Angeklagte gehört. Die vom Angeklagten abgefeuerte Kugel blieb in der Schutzweste des Polizeibeamten hängen, der dem Angeklagten die Waffe entwinden und ihn überwältigen konnte.
2. Der Angeklagte räumt den äußeren Sachverhalt ein. Er beruft sich jedoch darauf, er sei bis zur Schußabgabe davon ausgegangen, daß es sich „bei den eingedrungenen Personen um Angreifer handeln würde, die ihm und Steffi G. nach dem Leben trachteten”, die Rufe „Polizei” habe er nicht gehört. Die Beweiswürdigung, mit der das Landgericht diese Einlassung für widerlegt erachtet, weist keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Das Landgericht geht zwar davon aus, daß der Angeklagte „zunächst tatsächlich glaubte, daß es sich um einen nächtlichen Angriff der ihn bedrohenden Person handelte”. Es hat aber aufgrund des nach den überstimmenden Bekundungen der vernommenen Polizeibeamten jeweils lauten und vernehmlichen Ausrufs „Polizei” und des Umstands, daß der Angeklagte – wie er selbst eingeräumt hat – „in dem Moment, als der Schuß fiel, … gesehen (hat), daß die ihm gegenüberstehende Person ein Polizist sei”, die Überzeugung gewonnen, daß der Angeklagte auch die „vorausgegangenen ‚Polizei’-Rufe vernommen hat”. Dies ist ein möglicher, und deshalb vom Revisionsgericht hinzunehmender Schluß. Hiervon ausgehend hat das Landgericht zu Recht angenommen, daß „aus der Sicht des Angeklagten bei Abgabe des Schusses keine Putativnotwehrsituation mehr gegeben” war.
3. Gleichwohl kann die Verurteilung keinen Bestand haben, weil die Beweiswürdigung – wie die Revision und der Generalbundesanwalt übereinstimmend beanstanden – zur subjektiven Tatseite und zur Schuldfähigkeit lückenhaft ist und an einem unauflösbaren Widerspruch leidet.
Das Landgericht folgt den Ausführungen des Sachverständigen Dr. Sch., bei der Tat sei die Fähigkeit des Angeklagten, „das Unrecht seiner Tat einzusehen bzw. nach dieser Einsicht zu handeln, weder aufgehoben noch erheblich vermindert” gewesen. Es hat die Schuldfähigkeit aber nur unter dem Gesichtspunkt „des vorherigen Drogenkonsums des Angeklagten (‚Joint’)” geprüft. Dies genügte hier nicht, weil das Landgericht dabei das Gewicht des festgestellten affektiven Ausnahmezustands beim Angeklagten zur Tatzeit außer Betracht gelassen hat.
Das Landgericht ist davon ausgegangen, daß der Angeklagte den Schuß „aus Angst und in großer Erregung abgegeben hat”. Daß er dabei – wie das Landgericht festgestellt hat – „wußte”, daß es sich bei der Person um einen Polizeibeamten handelte, beschreibt nur die Wissensseite, belegt aber nicht auch das Willenselement. Darauf kommt es hier aber an; denn das Landgericht nimmt selbst an, die Abgabe des Schusses sei eine „Fehlreaktion” des Angeklagten gewesen. Insoweit geht es aber nicht nur davon aus, daß der Angeklagte „mit der konkreten Situation … offensichtlich überfordert war”; vielmehr stellt es fest, „aufgrund der kurzen Zeitspanne von dem ersten ‚Polizei’-Ruf bis zur Schußabgabe, nämlich ca. zwei bis drei Sekunden, (sei) es dem Angeklagten unter Berücksichtigung seines Angst- und Erregungszustandes nicht möglich (gewesen), seine Handlungsweise auf den neuen Erkenntnisstand abzustellen” (Hervorhebung durch den Senat). Ob sich das Landgericht hierbei allein auf die eigene Sachkunde gestützt oder auch insoweit sachverständige Hilfe in Anspruch genommen hat, kann den Urteilsgründen nicht entnommen werden. Jedenfalls hat es damit Umstände beschrieben, die auf ein für die Beurteilung der – von der Handlungsfähigkeit abzugrenzenden (vgl. BGH StV 1994, 229) – Schuldfähigkeit bedeutsames tiefgreifendes Schreckerleben hindeuten. Dies wird im psychiatrischen Schrifttum beschrieben als „Erleben eines Affektzustandes bei plötzlicher Bedrohung … oder plötzlichem und starkem Sinnesreiz …, welche einen überfallen, ohne daß man darauf vorbereitet ist, so daß man nicht in der Lage ist, sich zu schützen oder die Situation zu beherrschen (…) Schreck kann das psychische Leben für eine Weile lahmlegen und eine adäquate Verarbeitung des Erlebten … verhindern” (Peters Wörterbuch Psychiatrie 5. Aufl. S. 501). Eine Auseinandersetzung mit der Auswirkung dieses sog. asthenischen Affekts, der unter den Voraussetzungen des § 33 StGB – von planmäßigem Verhalten abgesehen (vgl. BGHSt 39, 133, 139 f.) – zur Straflosigkeit führt, wäre hier unter dem Gesichtspunkt tiefgreifender Bewußtseinsstörung im Sinne der §§ 20, 21 StGB auch deshalb veranlaßt gewesen, weil der Angeklagte noch am Tatort gegenüber den Polizeibeamten äußerte: „Wenn ich gewußt hätte, daß ihr das seid, hätte ich nicht geschossen”, und das Vorgehen des Angeklagten angesichts der offensichtlichen Überzahl der Polizeibeamten auch nach Auffassung des Schwurgerichts „völlig sinnlos” war.
4. Der aufgezeigte Rechtsfehler nötigt zur Aufhebung des Urteils hinsichtlich der Verurteilung wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit unerlaubter Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine halbautomatische Selbstladekurzwaffe (vgl. BGH NStZ 1981, 299 mit krit.Bspr. Maatz MDR 1985, 881; BGH NStZ 1999, 347). Demgegenüber kann die Verurteilung wegen unerlaubten Erwerbs einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe nebst Munition in Tateinheit mit unerlaubtem Ausüben der tatsächlichen Gewalt über die Waffe und mit deren unerlaubtem Führen (Tat vom 9./10. Oktober 1998) bestehen bleiben. Insoweit hat das Landgericht allerdings zu Unrecht das Vorliegen einer Tat mit dem Geschehen vom 12. Oktober 1998 angenommen (vgl. BGHSt 36, 151; BGH NStZ 1999, 347). Für diese Straftat ist deshalb eine gesonderte Strafe festzusetzen, wobei im Falle einer erneuten Verurteilung wegen versuchten Totschlags (in Tateinheit mit dem Verstoß gegen das Waffengesetz) die neu zu bildende Gesamtstrafe fünf Jahre nicht übersteigen dürfte (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO). Der Senat weist aber darauf hin, daß – sollte der neue Tatrichter in Bezug auf den Einsatz der Schußwaffe wiederum voll schuldfähiges vorsätzliches und rechtswidriges Handeln des Angeklagten annehmen – die Bemessung der Strafe eingehenderer Begründung bedarf. Angesichts der psychischen Ausnahmesituation, in der sich der Angeklagte nach den bisherigen Feststellungen im Tatzeitpunkt befand, kommt der Warnfunktion der Vorverurteilung jedenfalls hinsichtlich des versuchten Tötungsdelikts (entgegen den Erwägungen des Schwurgerichts auf UA 25) nur geringe Bedeutung zu. Schon deshalb ist nicht ohne weiteres nachzuvollziehen, daß die im oberen Bereich des angewandten Strafrahmens liegende Strafe „tat- und schuldangemessen” ist.
Unterschriften
Meyer-Goßner, Maatz, Athing, Solin-Stojanovi[cacute], Ernemann
Fundstellen