Leitsatz (amtlich)
Auch bei einer durch die Natur der Sache bedingt im Tatsächlichen ungenauen Fassung der Anklageschrift (vgl. BGHSt 40, 44) ist ein Hinweis entsprechend § 265 StPO grundsätzlich nicht vorgeschrieben, wenn sich im Laufe der Hauptverhandlung nähere Konkretisierungen von Einzelfällen durch genauere Beschreibungen von Tatmodalitäten oder Begleitumständen ergeben (Abgrenzung zu BGHSt 44, 153). Ein Hinweis kann nur ausnahmsweise geboten sein, etwa um das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör oder den Schutz vor Überraschungsentscheidungen zu gewährleisten.
Wird ein Zeuge in einem späteren Abschnitt einer Hauptverhandlung noch einmal vernommen, bedarf es einer neuen Entscheidung über die Vereidigung. Diese umfaßt grundsätzlich die gesamte bisherige Aussage des Zeugen.
War der Angeklagte, der für die Dauer der Vernehmung eines Zeugen nach § 247 StPO ausgeschlossen war, bei der Verhandlung und Entscheidung über dessen Vereidigung verfahrensfehlerhaft nicht anwesend, so wird der Verfahrensfehler regelmäßig geheilt, wenn die Verhandlung und Entscheidung über die Vereidigung desselben Zeugen nach einer erneuten Vernehmung in Anwesenheit des Angeklagten stattfindet.
Normenkette
StPO §§ 200, 265 Abs. 1, 4, §§ 59, 61 Nr. 2, § 247
Verfahrensgang
LG Mönchengladbach (Urteil vom 22.10.2001) |
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 22. Oktober 2001 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägerinnen im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in drei Fällen und sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt und ihn im übrigen freigesprochen. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Sie bleibt ohne Erfolg.
I. Entgegen der Auffassung der Revision liegt eine wirksame Anklage vor; ein Verfahrenshindernis besteht deshalb nicht. Lassen sich – wie hier – wegen der Gleichförmigkeit der Begehungsweise und der lange zurückliegenden Tatzeiten aufgrund der Angaben der Geschädigten im Ermittlungsverfahren keine konkreten Einzelfälle im Anklagesatz darstellen, so wird den Anforderungen an die gebotene Individualisierung der Taten dadurch genügt, daß in der Anklage das Tatopfer, die Art und Weise der Tatbegehung in ihren Grundzügen, ein bestimmter Tatzeitraum und die Zahl der den Gegenstand des Vorwurfs bildenden Straftaten mitgeteilt werden (vgl. BGHSt 40, 44, 46 f.). Diesen Anforderungen entspricht die Anklage. Daß das Tatgeschehen bei einem Teil der Fälle lediglich als Geschlechtsverkehr des Angeklagten mit dem Opfer beschrieben wird, ist ersichtlich Folge des dort immer wieder gleich oder sehr ähnlich ablaufenden Geschehens.
II. Die Rüge, das Landgericht habe § 265 StPO verletzt, weil es angesichts der in den Tatkomplexen II 7 und 8 ungenau gefaßten Anklageschrift den Angeklagten hätte unterrichten müssen, welchen genaueren Geschehensablauf es dem weiteren Verfahren zugrunde legen wolle, ist unbegründet.
1. In der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklageschrift wurde dem Angeklagten zur Last gelegt, in der Zeit zwischen Anfang 1994 und dem 14. Geburtstag seiner Tochter am 30. September 1996 in mindestens 33 Fällen mit ihr den Geschlechtsverkehr vollzogen (Komplex II 7 der Anklage) sowie dieses Verhalten vom September 1996 bis Mai 1997 in mindestens acht weiteren Fällen fortgesetzt zu haben (Komplex II 8 der Anklage).
Das Landgericht hat den Angeklagten im Komplex II 7 der Anklage unter Freisprechung im übrigen wegen eines sexuellen Mißbrauchs verurteilt (Fall II 2 c der Urteilsgründe) und hierzu festgestellt, der Angeklagte habe seine 12 oder 13 Jahre alte Tochter Jessica ins Schlafzimmer gerufen, wo er sie unter dem Vorwand, er müsse ein etwaiges Übergewicht feststellen, veranlaßt habe, sich auszuziehen. Sodann habe er den Körper des Kindes mit einem Maßband vermessen, es aufgefordert, sich auf das Bett zu knien, von hinten mit ihm den Geschlechtsverkehr durchgeführt und in ein mitgebrachtes Handtuch ejakuliert. Zum Komplex II 8 der Anklage hat das Landgericht den Angeklagten in drei Einzelfällen des sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen schuldig gesprochen. Nach den Feststellungen zum Fall II 2 d der Urteilsgründe vollzog der Angeklagte mit seiner etwa 14 Jahre alten Tochter den Geschlechtsverkehr, nachdem er sie auf ihrem Bett eine Zeitschrift lesend angetroffen und sie gefragt hatte, ob sie wisse, wo der „G-Punkt” sei. Im Fall II 2 e der Urteilsgründe kürzte der Angeklagte als Belohnung für das Stillhalten seiner Tochter beim festgestellten Geschlechtsverkehr einen zuvor verhängten vierwöchigen Stubenarrest ab. Im Fall II 2 g der Urteilsgründe kam es zum Geschlechtsverkehr mit der etwa 14 Jahre alten Tochter, als diese in der Badewanne unter dem Angeklagten lag und dabei wegen des ihr bis zum Kinn stehenden Wassers Beklemmungsgefühle verspürte; der Angeklagte ejakulierte ins Wasser und forderte seine Tochter auf, die Badewanne umgehend zu verlassen.
2. Bei dieser Sachlage beanstandet der Beschwerdeführer zu Unrecht, daß ihm ein gebotener Hinweis nicht erteilt worden sei und er deswegen nicht habe erkennen können, daß das Gericht beabsichtige, die in den Ziffern II 7 und 8 enthaltenen Anklagevorwürfe, soweit er verurteilt worden ist, wie geschehen zu konkretisieren.
a) Zutreffend ist allerdings, daß der Bundesgerichtshof in seiner jüngeren – von der Literatur durchweg zustimmend wiedergegebenen (vgl. u. a. Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 265 Rdn. 79; Meyer-Goßner, StPO 46. Aufl. § 265 Rdn. 22 f.) – Rechtsprechung in einer Reihe von Entscheidungen, auf die sich der Beschwerdeführer für seinen Standpunkt beruft, ausgeführt hat, im Falle einer nach der Natur der angeklagten Taten im Tatsächlichen notwendigerweise ungenauen Fassung der Anklageschrift (vgl. BGHSt 40, 44) sei das Gericht verpflichtet, den Angeklagten zu unterrichten, welchen genauen Tatablauf es dem weiteren Verfahren zugrunde legen wolle (BGHSt 40, 44, 48; 44, 153; BGH NStZ 1999, 42). Dem entspricht die Forderung, daß Mängel in der Informationsfunktion der Anklage durch entsprechende Hinweise in der Hauptverhandlung zu beheben seien (BGH NStZ 1996, 95).
Zu den näheren Voraussetzungen der Hinweispflicht in diesen Fallkonstellationen wie auch zu den Anforderungen an die Art und Weise der Erteilung des Hinweises finden sich unterschiedliche Aussagen:
aa) Es gibt Entscheidungen, die schlicht feststellen, daß das Gericht, wenn sich die in der Anklage im Tatsächlichen nicht oder wenig konkret beschriebenen Vorwürfe in der Hauptverhandlung konkretisieren, mit Hinweisen nach oder entsprechend § 265 StPO zu reagieren hat (vgl. u. a. BGHSt 40, 44; 43, 293, 299; 44, 153; BGH NStZ 1996, 95). Entsprechende Äußerungen sind aber nicht dahin zu verstehen, daß jede Konkretisierung – und sei sie auch noch so unbedeutend – die Verpflichtung zur Erteilung eines Hinweises begründet. Kernaussage der zitierten Entscheidungen ist vielmehr, daß eine Anklage ungeachtet ihrer Konkretisierungsdefizite im Tatsächlichen wirksam ist, wenn (und weil) die eigentlich gebotene Konkretisierung mit Blick auf Besonderheiten der Sache nicht geleistet werden kann. Soweit zur Kompensation solcher Anklagemängel eine Hinweispflicht statuiert wird, sind die Erwägungen in diesen Entscheidungen nicht tragend. Dementsprechend sind ihnen auch keine Anhaltspunkte zu entnehmen, welchen Grad die Konkretisierung in der Hauptverhandlung erreichen und welche Umstände (Tatzeit, Tatort, Begleitumstände oder Ablauf der Tat) sie betreffen muß, damit die Hinweispflicht entsteht. Das gilt auch für das Urteil BGHSt 44, 153, das sich der Hinweispflicht in zentralen – allerdings nicht entscheidungstragenden – Aussagen, auch leitsatzmäßig, widmet und deren Entstehen daran knüpft, daß sich „die Möglichkeit der genaueren Beschreibung des Tatablaufs ergibt”.
Eine nähere Beschreibung der Voraussetzungen der Hinweispflicht enthält der Beschluß BGH NStZ 1996, 295 f.. Danach hat „das Gericht, wenn es bei einer zwar noch zulässigen, aber ungenauen Fassung der Anklage – anders als diese – von nach Ort, Zeit und Tatbegehung konkret bestimmten Taten ausgehen will, den Angeklagten entsprechend § 265 StPO darauf hinzuweisen”. Ob diese Wendung wörtlich verstanden werden will, die Hinweispflicht also eine Konkretisierung in Bezug auf Ort, Zeit und Tatbegehung voraussetzt oder schon dann entsteht, wenn die Hauptverhandlung konkretere Angaben zu einem dieser Umstände ermöglicht, sich insbesondere etwa der in der Anklage noch unbestimmte Tattag präzise festlegen läßt, kann der Entscheidung auch unter Berücksichtigung ihrer weiteren Ausführungen nicht eindeutig entnommen werden.
Außer Zweifel dürfte aber stehen, daß das Gericht keine Hinweise zu erteilen braucht, wenn sich die Konkretisierung auf Umstände beschränkt, die nicht unmittelbar die Tat betreffen, sondern Feststellungen in Bezug auf die Tatplanung oder -vorbereitung (so – unmittelbar allerdings für den Fall der Veränderung der Sachlage gegenüber der Anklage – BGH NStZ 2000, 48; BGH, Beschl. vom 5. April 2000 – 3 StR 95/00). Keine Hinweispflicht besteht, wenn die neuen Einzelheiten „lediglich den Tatablauf näher kennzeichnen” (BGH StraFo 2003, 95). Dazu, ob die Konkretisierung Tatsachen betreffen muß, in denen die Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes gefunden werden (so – für die Hinweispflicht bei Veränderung der Sachlage gegenüber der Anklage – BGH NStZ 2000, 48; BGH, Beschl. vom 5. April 2000 – 3 StR 95/00), hat sich die Rechtsprechung nicht geäußert.
bb) Hinsichtlich der Anforderungen an die Art und Weise, in der erforderliche Hinweise zu erteilen sind, wird es teilweise für ausreichend erachtet, daß der Angeklagte durch den Gang der Hauptverhandlung unterrichtet wird (vgl. etwa BGH NStZ 1996, 295). Das wird in anderen Entscheidungen dahin präzisiert, daß es nicht ausreicht, wenn die neuen Gesichtspunkte lediglich von einer Beweisperson im Rahmen von Vernehmungen oder der Erstattung von Gutachten angesprochen werden; vielmehr muß das Gericht selbst dem Angeklagten deutlich machen, daß es die in der Anklage nicht enthaltenen neuen tatsächlichen Umstände in seine Erwägungen einbeziehen will (BGH NStZ-RR 1997, 72, 73 m. w. N.). Nach anderen Entscheidungen muß er durch ausdrücklichen Hinweis konkret und eindeutig unterrichtet werden (vgl. BGHSt 44, 153; BGH, Urt. vom 5. November 2002 – 1 StR 254/02). Die vom 1. Strafsenat in der Entscheidung BGHSt 44, 153 (auch im Leitsatz, allerdings obiter dictu) vertretene Auffassung, die Unterrichtung „(müsse) – regelmäßig im Hauptverhandlungsprotokoll – dokumentiert werden” hat sich nicht durchgesetzt und wird auch vom 1. Strafsenat – wie dieser ausdrücklich klargestellt hat – nicht mehr vertreten (BGH, Urt. vom 5. November 2002 – 1 StR 254/02; BGH NJW 1999, 802 f.).
b) Der Senat zweifelt, ob die – auch von ihm (NStZ 1996, 95) vertretene – Auffassung, daß Konkretisierungsdefizite der Anklage, die sich aus der Natur der angeklagten Taten ergeben und ungeachtet ihrer nachteiligen Auswirkungen für eine sachgerechte Verteidigung hinzunehmen sind, in der Hauptverhandlung durch Hinweise nach oder entsprechend § 265 StPO auszugleichen seien, zutrifft und ob die dem entsprechende Rechtsprechung in dieser Allgemeinheit fortgeführt werden kann. Nach erneuter Überprüfung hält er, wenn sich im Laufe der Hauptverhandlung nähere Konkretisierungen von Einzelfällen durch genauere Beschreibungen von Tatmodalitäten oder Begleitumständen ergeben, einen gerichtlichen Hinweis, mit dem die Verfahrensbeteiligten darüber informiert werden, daß auch diese sich durch die Beweisaufnahme ergebenden Präzisierungen in die Urteilsfindung einbezogen werden können, im Grundsatz für nicht geboten. Ein solcher Hinweis, der lediglich Informationsdefizite einer Anklageschrift ausgleichen soll, die hinsichtlich der vorgeschriebenen Umgrenzung des Anklagevorwurfs ihre Funktion erfüllt (anderenfalls wäre sie unwirksam, vgl. BGHSt 40, 44, 45 m. w. N.), ist gesetzlich nicht vorgeschrieben und im Regelfall auch mit Blick auf die Verteidigungsinteressen des Angeklagten nicht geboten.
Für diese Auffassung spricht zunächst § 265 StPO. Die Vorschrift begründet schon nach ihrem Wortlaut eine Hinweispflicht (nur) bei der Veränderung des rechtlichen Gesichtspunkts (§ 265 Abs. 1 StPO) und beim Auftreten straferhöhender oder die Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung rechtfertigender Umstände (§ 265 Abs. 2 StPO). Demgegenüber sieht sie als Rechtsfolge auf bloße Veränderungen der Sachlage, die nicht zugleich zu einer – hinweispflichtigen – Änderung der rechtlichen Bewertung führt, ausschließlich die Aussetzung der Hauptverhandlung vor, die das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen anzuordnen hat (§ 265 Abs. 3 und 4 StPO).
Diese differenzierte Regelung entspricht auch dem Sinn und Zweck des § 265 StPO, der den Angeklagten vor Überraschungen schützen will (Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 265 Rdn. 5). Gelangt das Gericht zu einer gegenüber der Anklage veränderten Einschätzung der Rechtslage, so ist diese Änderung aus der Beweisaufnahme und dem Gang der Hauptverhandlung ohne einen entsprechenden Hinweis nicht ohne weiteres zu erkennen; im Interesse des Angeklagten soll eine solche Änderung der rechtlichen Bewertung, zumal sich auch das Gericht in der Eröffnungsentscheidung festgelegt hat, welche Gesetze es für anwendbar hält, unmißverständlich kundgetan und der Hinweis als wesentliche Förmlichkeit im Protokoll festgehalten werden. Demgegenüber kann es dem Angeklagten und seiner Verteidigung regelmäßig nicht verborgen bleiben, wenn sich – aufgrund dessen Einlassung oder als Ergebnis der Beweisaufnahme – der ihm vorgeworfene Sachverhalt anders oder konkreter darstellt, als in der Anklage beschrieben. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber bei der Formulierung des § 265 Abs. 4 StPO ausdrücklich eine Hinweispflicht bei veränderter Sachlage gegenüber den „erheblichen, in der Anklage nicht aufgeführten Tatsachen” für entbehrlich gehalten, weil der Angeklagte „vermöge seiner ununterbrochenen Anwesenheit in der Verhandlung … ausreichende Gelegenheit hat, sich mit den neuen Ergebnissen der Verhandlung bekanntzumachen” (Hahn, Materialien zur Strafprozeßordnung, Abt. 1 S. 209).
Dementsprechend würde in einem solchen Fall ein gerichtlicher Hinweis darauf, daß es im weiteren von dem näher konkretisierten Sachverhalt ausgehen will, die Verteidigungsposition des Angeklagten nicht stärken, den Gang der Hauptverhandlung aber unnötig und empfindlich stören. Im Regelfall würde der gerichtliche Hinweis in der Sache auf die bloße Wiederholung des Inhalts einer Zeugenaussage, unter Umständen sogar der eigenen, nunmehr geständigen Einlassung des Angeklagten, hinauslaufen und diesem nicht mehr vermitteln, als das, wovon er ohnehin ausgeht, nämlich daß auch das Gericht – wie er selbst – die den Sachverhalt konkreter als die Anklage beschreibenden Bekundungen zur Kenntnis genommen hat und sich mit ihnen auseinandersetzen wird.
Die Annahme einer grundsätzlichen gerichtlichen Hinweispflicht in den hier in Rede stehenden Fällen läßt sich zudem kaum damit in Einklang bringen, daß aus § 265 StPO keine Pflicht zur Unterrichtung folgt, wenn das Gericht die Aussage eines Zeugen etwa anders als die Verteidigung verstanden hat, und daß sich das Gericht auch zu Inhalt und Ergebnis einzelner Beweiserhebungen nicht erklären muß (BGHSt 43, 212). Hinzu kommt schließlich, daß – wie dargelegt – handhabbare Kriterien, bei welchem Grad der Konkretisierung des (zulässigerweise) unbestimmt angeklagten Verhaltens die Hinweispflicht entsteht, bislang nicht gefunden sind (siehe zu a) aa)) und sich auch kaum finden lassen dürften.
All diese Bedenken gegen die Anerkennung einer prinzipiellen Verpflichtung des Gerichts, auf im Vergleich zur Anklage neu hervorgetretene Tatsachen hinzuweisen, schließen freilich nicht aus, daß im Einzelfall ausnahmsweise eine solche Pflicht bestehen kann, um das rechtliche Gehör des Angeklagten zu gewährleisten, ihm eine sachgerechte Einstellung der Verteidigung zu ermöglichen oder ihn vor Überraschungsentscheidungen zu schützen. Sie mag unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens oder der gerichtlichen Fürsorgepflicht begründet sein und etwa dann in Betracht kommen, wenn das Tatgericht durch eine zunächst geäußerte Sacheinschätzung einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat, aber im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung zu anderen Erkenntnissen gelangt (vgl. Julius in HK-StPO, 3. Aufl. § 265 Rdn. 10). Denkbar erscheint dem Senat eine Hinweispflicht auch dann, wenn aus dem Verteidigungsverhalten des Angeklagten offenbar wird, daß dieser nicht erkannt hat, daß sich das ihm mit der Anklage noch unbestimmt vorgeworfene Verhalten nach Tatzeit, Tatort oder wesentlichen Einzelheiten des Tatablaufs in bestimmter Weise konkretisiert hat.
c) Gemessen daran war das Landgericht nicht verpflichtet, den Angeklagten im Anschluß an die Vernehmung der Geschädigten darauf hinzuweisen, daß es in Erwägung ziehe oder beabsichtige, dem Schuldspruch die im Urteil festgestellten – gegenüber der Anklage in Bezug auf Tatzeiten, Tatorte und Begleitumstände näher konkretisierten – Sachverhalte zugrundezulegen. Eine solche Hinweispflicht besteht im Grundsatz nicht. Eine Ausnahmekonstellation, in der sie begründet sein könnte, hat die Revision nicht geltend gemacht und ist dem Revisionsvorbringen auch sonst nicht zu entnehmen.
d) Die Sache gibt zu einer Anfrage bei den anderen Strafsenaten des Bundesgerichtshofs gemäß § 132 Abs. 3 GVG keinen Anlaß. Mit seiner Entscheidung weicht der Senat von entscheidungserheblich geäußerten Auffassungen der anderen Senate nicht ab. Die Ansicht, daß das Gericht Mängel der (gleichwohl wirksamen) Anklage in der Form von ungenauen Beschreibungen der Tat zum Anlaß für Hinweise nehmen muß, wenn sich in der Hauptverhandlung Möglichkeiten der Konkretisierung ergeben, ist durchweg nur in nicht entscheidungstragenden Erwägungen geäußert worden. Zudem sind von der Hinweispflicht ausdrücklich ausgenommen solche Konkretisierungen, die – wie hier – „lediglich den Tatablauf näher kennzeichnen” (BGH, Urt. vom 5. November 2002 – 1 StR 254/02).
Zu einer Aufhebung hat eine entsprechende Verfahrensrüge – soweit ersichtlich – lediglich im Beschluß des 4. Strafsenats vom 19. Dezember 1995 (4 StR 691/95 = BGH NStZ 1996, 295) geführt. Auch in dieser Entscheidung war die Annahme einer Hinweispflicht bei Konkretisierung des unbestimmten Anklagevorwurfs durch neu hervorgetretene Tatsachen aber nicht entscheidungstragend. Wie sich aus der mitgeteilten Verfahrensrüge ergibt, hatte in jener Sache schon die Anklage die dem Angeklagten zur Last gelegten Taten konkret geschildert. In der Hauptverhandlung hat sich dann ein anderer Sachverhalt herausgestellt. Damit handelt es sich aber nicht um einen Fall neuer Tatsachen, die den unbestimmten Anklagevorwurf konkretisieren, sondern um den Fall einer veränderten Sachlage, in dem schon die Anklage den vorgeworfenen Sachverhalt konkret geschildert und die Hauptverhandlung zur Feststellung eines davon abweichenden Sachverhalts geführt hat. Im übrigen lag dem Beschluß des 4. Strafsenats die besondere Fallgestaltung zugrunde, daß der Angeklagte die im Urteil festgestellten tatsächlichen Umstände nicht einmal aus der Aussage des geschädigten Kindes, auf das die tatrichterliche Überzeugung gestützt war, entnehmen und seine Verteidigung darauf einstellen konnte. Für eine solche Sachlage bestehen hier keine Anhaltspunkte.
3. Ob in der Konsequenz der oben zu 2. b) dargelegten Erwägungen die für die Fallgruppe der Veränderung der Sachlage von der Rechtsprechung entwickelte (vgl. dazu Gillmeister in StraFo 1997, 8 ff.) – ebenfalls über § 265 StPO hinausgehende, der älteren Rechtsprechung und Literatur noch unbekannte (vgl. etwa die Kommentierung zu § 265 StPO bei Eb. Schmidt Lehrkommentar Teil II) – Verpflichtung des Gerichts zur Erteilung von Hinweisen im hier nicht gegebenen Fall einer Veränderung der Sachlage gegenüber dem in der Anklage beschriebenen Sachverhalt zwingend geboten erscheint, bedarf hier nicht der Prüfung. Immerhin könnte aber der Umstand, daß eine Anklage mit präzisen Angaben zu Ablauf und Umständen der Tat einen Vertrauenstatbestand schafft, der ausgeräumt werden muß, wenn das Gericht von einem anderen Sachverhalt ausgehen will, eine differenzierende Betrachtung nahelegen.
III. Auch die auf § 338 Nr. 5 StPO gestützte Verfahrensrüge, daß über die Vereidigung der Zeugen Jessica und Natascha B., bei letzterer auch über ihre Entlassung, in Abwesenheit des Angeklagten verhandelt und entschieden worden sei, greift nicht durch.
Folgendes prozessuale Geschehen liegt zugrunde: Im Hauptverhandlungstermin vom 27. August 2001 wurde der Angeklagte für die Dauer der Vernehmung der Zeugin Jessica B. nach § 247 Satz 1 StPO ausgeschlossen. Nach der Vernehmung der Zeugin ordnete der Vorsitzende in Abwesenheit des Angeklagten das Absehen von der Vereidigung nach § 61 Nr. 2 StPO an. Als der Angeklagte wieder anwesend war, wurde die Zeugin entlassen und der Angeklagte über ihre Aussage informiert. Am 12. September und 1. Oktober 2001 kam es – jetzt in Anwesenheit des Angeklagten – zu weiteren Vernehmungen der Zeugin, die jeweils, ohne daß der Angeklagte dem widersprochen hätte, auf Anordnung des Vorsitzenden nach § 61 Nr. 2 StPO unvereidigt blieb und im allseitigen Einverständnis entlassen wurde.
Auch während der Vernehmung der Zeugin Natascha B. am 27. August 2001 wurde der Angeklagte nach § 247 Satz 1 StPO aus dem Sitzungssaal entfernt. Nach der Vernehmung traf der Vorsitzende eine Verfügung nach § 61 Nr. 2 StPO in Abwesenheit des Angeklagten. Auch bei der Entscheidung über die Entlassung der Zeugin war der Angeklagte nicht zugegen. In der Sitzung vom 1. Oktober 2001 wurde die Zeugin erneut, nun in Anwesenheit des Angeklagten, vernommen. Die Anordnung des Vorsitzenden, nach der die Zeugin nach § 61 Nr. 2 StPO unvereidigt blieb, stieß auch hier nicht auf den Widerspruch des Angeklagten.
1. Die Verhandlung und Entscheidung über die Vereidigung der Zeuginnen Jessica und Natasche B. nach deren Vernehmung am 27. August 2001 in Abwesenheit des aus der Sitzung entfernten Beschwerdeführers verstieß gegen dessen Anwesenheitsrecht. § 247 Satz 1 und Satz 2 StPO läßt die Entfernung des Angeklagten nur während der Vernehmung eines Zeugen zu. Die Verhandlung und Entscheidung über die Vereidigung eines Zeugen gehören nicht zur Vernehmung im Sinne des § 247 StPO und bilden einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung (BGHR StPO § 338 Nr. 5 Angeklagter 23 m. w. N.).
In der Regel erfüllt ein Verstoß gegen das Anwesenheitsrecht des Angeklagten während dieses Verfahrensteils die Voraussetzungen des unbedingten Revisionsgrundes nach § 338 Nr. 5 StPO (BGH NStZ 2000, 440). Hier greift dieser Revisionsgrund jedoch nicht ein. War nämlich ein Angeklagter, der für die Dauer der Vernehmung eines Zeugen nach § 247 StPO ausgeschlossen war, bei der Verhandlung und Entscheidung über dessen Vereidigung verfahrensfehlerhaft nicht anwesend, so wird der Verfahrensfehler regelmäßig geheilt, wenn die Verhandlung und Entscheidung über die Vereidigung desselben Zeugen nach einer erneuten Vernehmung, wie hier in den Terminen vom 12. September und 1. Oktober 2001, in Anwesenheit des Angeklagten stattfindet; jedenfalls kann in einem solchen Fall die Verhandlung und Entscheidung über die Vereidigung des Zeugen nach dessen erster Vernehmung nicht als ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung angesehen werden.
Hinsichtlich der Vereidigung eines mehrfach vernommenen Zeugen ist von folgenden Grundsätzen auszugehen:
Wird ein Zeuge in einem späteren Abschnitt der Hauptverhandlung nochmals vernommen, bedarf es einer neuen Entscheidung über die Vereidigung (BGHSt 1, 346, 348 f.; BGH bei Spiegel DAR 1981, 195). Diese bezieht sich grundsätzlich auf die gesamte bis dahin erstattete Aussage. Denn der Tatrichter kann – etwa bei einem Verletzten im Sinne des § 61 Nr. 2 StPO – frühestens nach dem Abschluß der gesamten Aussage alle diejenigen Umstände überblicken, die für die Ausübung seines Ermessens von Bedeutung sein können. Dabei bindet ihn die Vorentscheidung nicht, vielmehr kann der zunächst unvereidigt gebliebene Zeuge nach einer erneuten Vernehmung wiederum unvereidigt bleiben oder vereidigt werden (Dahs in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 61 Rdn. 42).
Eine unterschiedliche Entscheidung über die Vereidigung eines Zeugen kommt – auch bei einer wiederholten Vernehmung – nur für Teile einer Aussage in Betracht, die verschiedene Taten betreffen. Dies gilt etwa, wenn ein Zeuge nur durch eine von mehreren Taten, zu denen er berichtet, im Sinne des § 61 Nr. 2 StPO verletzt worden ist (BGHSt 17, 248, 249). Selbst dabei ist aber zu beachten, daß eine Teilvereidigung dann nicht statthaft ist, wenn die Taten in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen, insbesondere ein nicht oder nur schwer trennbares Gesamtgeschehen bilden (st. Rspr., vgl. BGHR StPO § 60 Nr. 2 Teilvereidigung 1, 3 und 5 m. w. N.). Ebenso kann ein Eid weder auf einzelne Bekundungen noch auf zeitlich getrennte Abschnitte eines Tatsachenkomplexes beschränkt werden (Senge in KK 4. Aufl. § 59 Rdn. 4).
Ausgehend hiervon war das Recht des Angeklagten auf Anwesenheit bei der Verhandlung und Entscheidung über die Vereidigung der gemäß § 247 StPO in seiner Abwesenheit vernommenen Zeuginnen – ungeachtet seiner verfahrensfehlerhaften Abwesenheit während dieses Verfahrensabschnitts im Hauptverhandlungstermin vom 27. August 2001 – im Ergebnis dadurch gewahrt, daß er wiederholt, nämlich in den Terminen vom 12. September und 1. Oktober 2001, anwesend war, als über die Vereidigung der Zeuginnen nach ihrer nochmaligen Vernehmung erneut verhandelt wurde. Dadurch hatte er auch Gelegenheit, auf die Entscheidung über die Vereidigung der Zeuginnen auf ihre gesamte Aussage, einschließlich ihrer Bekundungen am 27. August 2001, Einfluß zu nehmen. Anhaltspunkte dafür, daß das Landgericht bei seinen Entscheidungen über die Vereidigung der Zeuginnen in den Terminen vom 12. September und 1. Oktober 2001 nur hinsichtlich der an diesen Terminen gemachten Angaben von einer Vereidigung absehen wollte, sind nicht ersichtlich. Eine solche Teilentscheidung wäre im übrigen nach den aufgezeigten Maßstäben nicht zulässig gewesen, weil die weiteren Vernehmungen der Zeuginnen denselben Taten galten und deren näherer Aufklärung, insbesondere durch Feststellungen zur Aussagegenese und Glaubwürdigkeit der Zeuginnen, dienten (UA S. 30 ff.).
2. Die Rüge, auch über die Entlassung der Zeugin Natascha B. sei im Termin vom 27. August 2001 verfahrensfehlerhaft in Abwesenheit des aus dem Sitzungssaal entfernten Beschwerdeführers verhandelt und entschieden worden, kann wegen Heilung des Fehlers keinen Erfolg haben. Insofern ist im übrigen anerkannt, daß die Entlassung eines Zeugen dann nicht als wesentlicher Teil der Hauptverhandlung zu bewerten ist, wenn der Angeklagte – wie hier der Beschwerdeführer – nach Unterrichtung über den Inhalt der Aussage auf Fragen an den Zeugen verzichtet (BGH NStZ 1998, 425; BGH StV 2000, 240; BGH StraFo 2001, 128).
IV. Im übrigen hat die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Auch die Sachrüge bleibt erfolglos. Zur Strafrahmenwahl in den Fällen des sexuellen Mißbrauchs von Kindern bemerkt der Senat, daß das Landgericht zu Recht § 176 Abs. 3 StGB aF herangezogen hat. Da die Annahme eines minder schweren Falles fern lag, handelt es sich nach der gebotenen konkreten Betrachtungsweise bei § 176 Abs. 3 StGB aF gegenüber § 176 a Abs. 1 Nr. 1 StGB nF um das mildere Recht (vgl. BGH bei Pfister NStZ-RR 1999, 323).
Unterschriften
Tolksdorf, Miebach, Winkler, Pfister, Hubert
Fundstellen
Haufe-Index 2558883 |
BGHSt 2004, 221 |
BGHSt |
NJW 2003, 2107 |
NStZ 2003, 559 |
NStZ 2003, 674 |
Nachschlagewerk BGH |
StV 2003, 320 |