Leitsatz (amtlich)
Wer infolge einer Täuschung durch das Opfer vorsatzlos aktive Sterbehilfe leistet, nimmt nicht an einer tatbestandslosen Selbstgefährdung teil.
Normenkette
StGB § 222
Verfahrensgang
LG Hamburg (Urteil vom 10.10.2002) |
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 10. Oktober 2002 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Tatbestand
Das Landgericht hat den Angeklagten von dem Vorwurf freigesprochen, einen Schwerstbehinderten getötet zu haben, den er als Zivildienstleistender betreut hatte. Die dagegen mit der Sachrüge geführte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat Erfolg.
I.
Die Jugendkammer hat festgestellt:
Der 20 Jahre alte Angeklagte übernahm als Zivildienstleistender am 13. Februar 2001 ohne besondere Vorbereitung für die Dauer von zwei Wochen in der Z. in Hamburg die Tagesbetreuung (10.00 bis 16.30 Uhr) des 28 Jahre alten. S. Dieser litt an stark ausge- prägter progressiver Muskeldystrophie vom Typus Duchenne und vermochte neben einzelnen Fingern – diese aber ohne Kraft – nur noch Mund und Zunge zu bewegen. Seine Arme und Beine waren in Beugestellung fixiert. Deformationen des Brustkorbes und der Wirbelsäule und eine starke Reduzierung der Atemmuskulatur ließen nur noch eine Atmungskapazität von zehn Prozent eines Gesunden zu. Der Ausstoß von Kohlendioxyd wurde durch ein zeitweise an die Nase angeschlossenes Beatmungsgerät gefördert. … S. verfügte über einen herausragenden Intellekt. Er konnte seine Vorstellungen genau artikulieren und dank seiner guten Menschenkenntnis einschätzen, an welche der Pflegekräfte er sich zu wenden hatte, um auch ausgefallene Wünsche zu verwirklichen. Schon im Dezember 1999 hatte er in einem elektronischen Brief einer ihm nahe stehenden Pflegehilfe eine Selbsttötungsphantasie mitgeteilt. Er hatte geschildert, dadurch sexuell erregt zu werden, daß er in zwei miteinander verklebten Müllsäcken verpackt mit zugeklebtem Mund in einen Behälter geworfen würde, um sodann – mit weiteren Müllsäcken bedeckt – anschließend durch die Müllabfuhr in die Verbrennungsanlage gebracht und dort verbrannt zu werden.
Er griff im Februar 2001 diese Gedanken auf und wollte sie mit Hilfe des Angeklagten verwirklichen. Zunächst hatte er diesen gebeten, ihm statt einer Hose eine Plastiktüte über den Unterleib bis zur Hüfte zu ziehen. Nachdem er dem Angeklagten erläutert hatte, gern Plastik auf der Haut zu spüren, kam der Angeklagte diesem Verlangen nach. Am 22. Februar 2001 gegen 12.15 Uhr äußerte S. den Wunsch, ihn in Müllsäcke verpackt in einen Müllcontainer zu legen. Auf Nachfragen des Angeklagten versicherte er, dies schon öfter gemacht zu haben, und daß seine Bergung aus dem Container am Nachmittag sicher sei. Der Angeklagte erfüllte in dem Bestreben, dem ihm anvertrauten Schwerstbehinderten so gut wie möglich zu helfen, alle bestimmt vorgebrachten Anweisungen, ohne sie kritisch zu hinterfragen. Er packte S. nackt in zwei Müllsäcke, schnitt eine Öffnung für den Kopf in den oberen Müllsack und verklebte beide Säcke. Bis auf eine kleine Öffnung verschloß er ferner – auf besonderen Wunsch S. – des- sen Mund mit Klebeband und legte ihn bei Außentemperaturen um den Gefrierpunkt in einen teilweise gefüllten Container. Weisungsgemäß stellte der Angeklagte den Rollstuhl in den Abstellraum, räumte die Wohnung auf und verließ die Pflegeeinrichtung durch einen Seiteneingang. Diese Maßnahmen hatte S. angeordnet, um eine gegenüber anderen Pflegekräften wahr- heitswidrig mitgeteilte Abwesenheit zu belegen. Eine deshalb erst am Abend erfolgte Suche nach ihm blieb ergebnislos. Am nächsten Morgen wurde sein Leichnam im Container entdeckt. Der Tod war durch Ersticken, möglicherweise in Kombination mit Unterkühlung eingetreten. Entweder hatte der obere Müllsack die Atemwege verlegt oder die ohnehin nur flache Atmung war durch einen auf den Brustkorb gelangten weiteren Müllsack unmöglich geworden.
Entscheidungsgründe
II.
In der rechtlichen Würdigung führt die Jugendkammer aus:
Das zu Tode führende Geschehen sei wegen der gemeinschaftlichen Tatherrschaft des Angeklagten und des Opfers nicht mehr als Beteiligung an einer Selbstgefährdung, sondern als einverständliche Fremdgefährdung zu werten. Die Gefährdung sei ausschließlich von dem Angeklagten, wenn auch auf alleinige Veranlassung des Geschädigten, ausgegangen, der sich dieser im Ergebnis lediglich ausgesetzt habe. Allerdings ergebe eine wertende Betrachtung aller Umstände, daß die einverständliche Fremdgefährdung entsprechend der Auffassung von Roxin (NStZ 1984, 411, 412) „unter allen relevanten Aspekten” einer Selbstgefährdung gleichstehe. Dafür spreche die umfassende und sorgsame Planung des Geschehens durch das Opfer, die besondere, von Überforderung, Naivität, Vertrauensseligkeit und unzureichender Vorbereitung geprägte Situation des Angeklagten und dessen vorherrschendes Bestreben, alle Wünsche des Schwerstbehinderten zu erfüllen. Der Angeklagte sei letztendlich dazu benutzt worden, den Selbsttötungsplan zu verwirklichen, ohne darüber informiert gewesen zu sein. Damit sei die Zurechnung des Handelns des Angeklagten zum objektiven Tatbestand ausgeschlossen.
III.
Der Freispruch hält der sachlichrechtlichen Prüfung nicht stand. Die Feststellungen des Landgerichts tragen nicht dessen Wertung, der Angeklagte habe im Ergebnis an einer straflosen Selbstgefährdung teilgenommen.
1. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist als Folge des Grundsatzes der Selbstverantwortung des sich selbst eigenverantwortlich gefährdenden Tatopfers anerkannt, daß gewollte und verwirklichte Selbstgefährdungen nicht dem Tatbestand eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts unterfallen, wenn das mit der Gefährlichkeit bewußt eingegangene Risiko sich realisiert. Wer lediglich eine solche Selbstgefährdung veranlaßt, ermöglicht oder fördert, macht sich nicht wegen eines vorsätzlichen oder fahrlässigen Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts strafbar (BGHSt 32, 262, 263 f.; BGH NStZ 1985, 25, 26 und 319, 320; 1986, 266, 267; 1987, 406; BGH NJW 2000, 2286; BGHSt 46, 279, 288). Diese Rechtsprechung gründet in erster Linie auf Sachverhalte, denen gemein ist, daß die den Verletzungs- oder Tötungserfolg verursachende schädi- gende Handlung – die Einnahme von Betäubungsmitteln (BGHSt 32, 262 f.; BGH NStZ 1985, 319; BGH NJW 2000, 2286; BGHSt 46, 279, 283), Stechapfeltee (BGH NStZ 1985, 25) oder Alkohol (BGH NStZ 1986, 266; 1987, 406) – durch das Opfer selbst erfolgt und erfährt dann eine Ausnahme, wenn der sich Beteiligende etwa kraft überlegenen Sachwissens das Risiko besser erfaßt als der sich selbst Gefährdende (BGHSt 32, 262, 265; BGH NStZ 1985, 25 f.; 1986, 266; 1987, 406; BGH NJW 2000, 2286; vgl. auch BayObLG JZ 1997, 521). Maßgebendes Kriterium zur Abgrenzung strafloser Selbstgefährdung ist in diesen Fällen somit – wie auch bei der Anwendung des § 216 StGB anerkannt (vgl. BGHSt 19, 135, 139 f.; BGH, Beschl. vom 25. November 1986 – 1 StR 613/86 insoweit nicht in NStZ 1987, 365 f. abgedruckt; Eser in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 216 Rdn. 11) – der Sache nach die Trennungslinie zwischen Täterschaft und Teilnahme (vgl. Jähnke in LK 11. Aufl. Vor § 211 Rdn. 22; ders. aaO § 216 Rdn. 11; ders. aaO § 222 Rdn. 21 sub Selbstgefährdung; Tröndle/Fischer, StGB 51. Aufl. Vor §§ 211 bis 216 Rdn. 10; Neumann in NK-StGB 12. Lfg. Vor § 211 Rdn. 45). Deren Grundsätze werden von der Rechtsprechung auch herangezogen, soweit eine ausschließlich von dem Beteiligten ausgehende Gefährdung, wie sie etwa bei einer durch Täuschung bewogenen Vornahme der Tötungshandlung (vgl. BGHSt 32, 38, 41 f.) oder beim Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten mit einem gesunden Menschen entsteht, zu beurteilen ist (vgl. BGHSt 36, 1, 17 f.; BayObLG NStZ 1990, 81 f.).
2. Diese Grundsätze sind auch bei dem hier vorliegenden Fall eines vom Angeklagten verursachten Tötungserfolges bei eigenverantwortlicher Planung und Durchführung nach den Wünschen des sich selbst Gefährdenden zugrundezulegen. Danach ist in wertender Betrachtung zu entscheiden, ob der Angeklagte im Vollzug des Gesamtplans des zum Tode führenden Geschehens über die Gefährdungsherrschaft verfügte oder als Werkzeug des Suizidenten handelte (vgl. BGHSt 19, 135, 140; Jähnke aaO § 216 Rdn. 11; Roxin NStZ 1987, 345, 347; Neumann aaO Rdn. 51). Letzteres wäre angesichts der eigenhändigen Ausführung der Gefährdungshandlungen durch den Angeklagten nur anzunehmen, falls der Lebensmüde den Angeklagten über das zum Tode führende Geschehen getäuscht und ihn mit Hilfe des hervorgerufenen Irrtums zum Werkzeug gegen sich selbst gemacht hätte (vgl. BGHSt 32, 38, 41 zur spiegelbildlichen Situation einer Täuschung des sich selbst Tötenden; vgl. auch OLG Nürnberg NJW 2003, 454 f.).
So liegt es hier aber nicht. Der Angeklagte wurde über die konkreten Umstände der von ihm allein verursachten extremen Gefährdung nicht getäuscht. Zwar hatte der Suizident erklärt, er habe solches Tun schon öfter veranlaßt. Diese Äußerung begründete aber keinen Irrtum des Angeklagten hinsichtlich der konkreten Tatumstände. Der Angeklagte hat seine Gefährdungshandlungen bewußt vorgenommen und dabei in extremer Weise im Widerspruch zu jedem medizinischen Alltagswissen gehandelt, indem er die wesentlich reduzierten Atmungsmöglichkeiten weiter verringerte und das spätere Opfer lediglich mit Plastik eingekleidet gefährlicher Kälte preisgab. Auch die Vorspiegelung des Lebensmüden, von einem (unbekannten) Dritten am Nachmittag gerettet zu werden, begründet keinen die Tatherrschaft des Angeklagten in Frage stellenden Irrtum. Die darin enthaltene Aussicht, es werde alles gut gehen, beseitigt nicht das Bewußtsein von den über Stunden wirksam werdenden Gefährdungen, zu denen der fehlende Einsatz des Beatmungsgeräts und die naheliegende Gefahr einer weiteren Verringerung der Atmungskapazität durch einen auf die Brust des Lebensmüden auftreffenden Müllsack zu zählen waren, auch vor dem Hintergrund eines bewußt herbeigeführten verringerten Entdeckungsrisikos.
3. Allerdings werden im rechtswissenschaftlichen Schrifttum mit den Lehren der Risikoübernahme (vgl. Roxin, Strafrecht AT Bd. 1 3. Aufl. S. 343 f.), der Anerkennung einer „quasi mittäterschaftlichen Herrschaft” (vgl. Neumann in NK-StGB 12. Lfg. Vor § 211 Rdn. 56; Lenckner in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. Vorbemerkung §§ 32 ff. Rdn. 52a und 107 m. w. N. aus der Literatur; BayObLG NStZ 1990, 81, 82; vgl. auch Tröndle/Fischer, StGB 51. Aufl. § 222 Rdn. 3) und des Vorrangs des Willens zur Selbstgefährdung (vgl. Otto in FS für Tröndle S. 157, 171, 175) Auffassungen vertreten, die in einem weiteren Umfang zu einer straflosen Mitwirkung an einem Selbsttötungsgeschehen führen. Indes bestehen hier schon Bedenken, begrifflich noch eine Selbsttötung anzunehmen, falls die Tatherrschaft nicht uneingeschränkt beim Suizidenten verbleibt. Einer Anerkennung strafloser aktiver Sterbehilfe stünde zudem der sich aus der Werteordnung des Grundgesetzes ergebende vorrangige Schutz menschlichen Lebens entgegen (vgl. BGHSt 46, 279, 285 f.), der auch die sich aus § 216 StGB ergebende Einwilligungssperre legitimiert (vgl. BGHSt aaO S. 286). Änderungen des Rechtsgüterschutzes bleiben vor diesem Hintergrund allenfalls dem Gesetzgeber vorbehalten.
Der Senat verkennt nicht, daß die bestehende Rechtslage es einem vollständig bewegungsunfähigen, aber bewußtseinsklaren moribunden Schwerstbehinderten – wie hier – weitgehend verwehrt, ohne strafrechtliche Verstrickung Dritter aus dem Leben zu scheiden, und für ihn dadurch das Lebensrecht zur schwer erträglichen Lebenspflicht werden kann. Dieser Umstand kann aber nicht ein auch in Art. 1 Abs. 1 GG angelegtes Recht auf ein Sterben unter menschenwürdigen Bedingungen begründen (vgl. BGHSt aaO, 285; BGHSt 42, 301, 305). Die dafür erforderlichen Voraussetzungen einer indirekten Sterbehilfe (vgl. BGHSt 42 aaO; Tröndle/Fischer, StGB 51. Aufl. Vor §§ 211 bis 216 Rdn. 18) sind vorliegend nicht gegeben. Ein verfassungsrechtlich verbürgter Anspruch auf aktive Sterbehilfe, der eine Straflosigkeit des die Tötung Ausführenden zur Folge haben könnte, ist dagegen nicht anerkannt (vgl. BVerfGE 76, 248, 252; Tröndle/Fischer aaO Rdn. 17 m. w. N.).
IV.
Der Freispruch kann danach keinen Bestand haben. Sollte der neue Tatrichter zu den gleichen Feststellungen gelangen, werden diese in erster Linie hinsichtlich einer fahrlässigen Todesverursachung gemäß § 222 StGB zu würdigen sein (vgl. BGHSt 36, 1, 9 f.; BGH NStZ 2002, 315, 316 f.). Bei etwaiger Feststellung eines Körperverletzungs- oder Aussetzungsvorsatzes kämen die Vorschriften der §§ 221, 223 ff. StGB in Betracht. Die besondere, von Überforderung, Naivität, Vertrauensseligkeit und unzureichender Vorbereitung geprägte Tatsituation des Angeklagten wird der neue Tatrichter bei der Beurteilung der Gleichstellung des heranwachsenden Angeklagten mit einem Jugendlichen nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG im Hinblick darauf zu würdigen haben, ob in dem Angeklagten noch in größerem Umfang Entwicklungskräfte wirksam waren (vgl. BGHSt 36, 37, 40).
Unterschriften
Harms, Häger, Gerhardt, Brause, Schaal
Fundstellen
Haufe-Index 2559172 |
NJW 2003, 2326 |
FamRZ 2003, 1184 |
NStZ 2003, 537 |
JA 2004, 190 |
JuS 2003, 1137 |
PflR 2004, 222 |