Verfahrensgang
LG München II (Urteil vom 20.03.2007) |
Tenor
1. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 20. März 2007 wird verworfen.
2. Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels und die hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten.
Gründe
Rz. 1
Dem heute 54 Jahre alten, nicht vorbestraften Angeklagten liegt zur Last, in dem Zeitraum von 1995 bis 2006 zahlreiche Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zum Nachteil von vier Jungen begangen zu haben. Nach den Feststellungen des Landgerichts führte er unter Ausnutzung von Vertrauensverhältnissen an den in den meisten Fällen unter 14 Jahre alten Jungen sexuelle aHandlungen durch und ließ solche von den Jungen an sich vornehmen. In den überwiegenden Fällen handelte es sich um Oral- und/oder Analverkehr. Zum Teil stellte er Fotografien von den sexuellen Handlungen her und speicherte diese auf seinem Laptop. Das Landgericht hat ihn wegen
- sexuellen Missbrauchs von Kindern in 156 tatmehrheitlichen Fällen
- schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 84 tatmehrheitlichen Fällen
- Verbreitung pornografischer Schriften
- sexuellen Missbrauchs von Kindern in 100 tatmehrheitlichen Fällen
- Verbreitung pornografischer Schriften in drei tatmehrheitlichen Fällen
- sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen
- schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei tatmehrheitlichen Fällen
- Besitzes kinderpornografischer Schriften
- sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei tatmehrheitlichen Fällen
zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Vom Tatvorwurf der Vergewaltigung in 15 tatmehrheitlichen Fällen hat es ihn freigesprochen.
Rz. 2
Die Staatsanwaltschaft hat ihre zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte und auf die Sachrüge gestützte Revision ausweislich der Revisionsbegründung auf den Teilfreispruch und die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung beschränkt. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
Rz. 3
1. Die Angriffe der Beschwerdeführerin gegen den Teilfreispruch sind unbegründet.
Rz. 4
Das Landgericht hat es nicht als erwiesen erachtet, dass der Angeklagte sein zwischen 14 und 15 Jahre altes Opfer … B. in 15 Fällen unter Androhung von Schlägen zu sexuellen Handlungen veranlasst habe, obwohl der Angeklagte in dem über seinen Verteidiger abgegebenen – im Übrigen glaubhaften – Geständnis auch einräumte, entsprechende Äußerungen gemacht zu haben. Der Geschädigte B. berichtete jedoch weder von sich aus noch auf Nachfrage von Androhungen von Schlägen. Als Erklärung, warum er bei diesen sexuellen Handlungen mitgemacht habe, gab er nachvollziehbar an, das Modellfliegen und das Helfen bei Hausmeistertätigkeiten seien bei dem Angeklagten interessant gewesen; er sei hierdurch „käuflich” gewesen. Der Angeklagte hatte zudem in allen sonstigen Fällen nicht mit Gewalt gedroht und gelegentlich sogar den Geschädigten B. nach Hause gefahren, wenn dieser bei den sexuellen Handlungen nicht mitmachen wollte (UA S. 9). Unter diesen Umständen konnte das Landgericht – zumal angesichts des eher pauschal gehaltenen Geständnisses des Angeklagten – rechtsfehlerfrei von verbleibenden Zweifeln am Vorliegen von Drohungen mit Gewalt ausgehen.
Rz. 5
Dass das Landgericht hinsichtlich des insoweit verbleibenden Sachverhalts eine Strafbarkeit auch wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen gemäß § 182 Abs. 1 Nr. 1 StGB verneint hat, ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Die unter dem Gesichtspunkt „Ausnutzung einer Zwangslage” allein in Betracht kommenden Äußerungen des Angeklagten, er werde den Geschädigten B. oder seine Mutter „schlecht machen”, reicht mangels jeglicher näherer Konkretisierung dieser Äußerung, um die die Kammer sich vergeblich bemüht hat, nicht aus.
Rz. 6
2. Die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung hält rechtlicher Nachprüfung stand.
Rz. 7
Als Grundlage für deren Anordnung kamen § 66 Abs. 2 StGB und § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB in Betracht. Nach beiden Bestimmungen liegt die Unterbringung im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters.
Rz. 8
Bei der Ausübung des Ermessens ist der Tatrichter „strikt an die Wert- und Zweckvorstellungen des Gesetzes” gebunden (BGH NStZ 1985, 261). Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll er die Möglichkeit haben, sich ungeachtet der festgestellten Gefährlichkeit des Täters zum Zeitpunkt der Urteilsfällung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Damit kann der Tatrichter dem Ausnahmecharakter der beiden Vorschriften Rechnung tragen, der sich daraus ergibt, dass Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 – im Gegensatz zu Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 – eine frühere Verurteilung und eine frühere Strafverbüßung des Täters nicht voraussetzen (vgl. Hanack in LK 11. Aufl. § 66 Rdn. 173, 50 f. unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien). Die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs sowie die mit dem Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sind deshalb im Rahmen der § 66 Abs. 2, § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB wichtige Kriterien, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen sind (BGH NStZ 2004, 438 m.w.N.). Es besteht freilich keine Vermutung dafür, dass langjährige Strafverbüßung zu einer Verhaltensänderung führen wird. Die Entscheidung des Tatrichters ist (wie jede Prognose) vom Revisionsgericht nur im begrenzten Umfang nachprüfbar (BGH NStZ 2005, 211, 212).
Rz. 9
Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles rechtsfehlerfrei. Es liegt zwar eine lange Tatserie mit einer Vielzahl einzelner Taten zugrunde. Das Landgericht hat jedoch im Einzelnen dargelegt, dass der Angeklagte keine Erfahrung mit Vorverurteilungen hat, erst Recht nicht mit dem Vollzug einer Freiheitsstrafe, und dass die erstmalige Inhaftierung des sozial voll integrierten Angeklagten im Alter von 53 Jahren eine erhöhte Strafempfindlichkeit nahe legt. Er wird angesichts der langjährigen Gesamtfreiheitsstrafe auch bei einer vorzeitigen Entlassung knapp 60 Jahre alt sein. Ferner steht die von dem Sachverständigen bei dem Angeklagten diagnostizierte partielle Triebstörung einer günstigen Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr einschlägiger Taten nicht entgegen, auch wenn eine Therapie erforderlich ist (UA S. 19). Der Angeklagte ist in der Lage, langjährige sexuelle Beziehungen zu Frauen zu unterhalten, und hat auch während des Zeitraums der abgeurteilten Taten nicht immer seine sexuellen Interessen durchgesetzt. So hat er bei Gelegenheiten wie einem gemeinsamen Urlaub mit einem der Geschädigten von sexuellen Handlungen abgesehen. Aus alldem konnte die Kammer die Erwartung ableiten, dass der Angeklagte nach seiner Entlassung keine vergleichbaren Taten mehr begehen wird. Sie hat sich dabei auf Gesichtspunkte gestützt, die über die bloße Möglichkeit künftiger Besserung oder die Hoffnung auf positive Veränderungen hinausgehen und eine Haltungsänderung durchaus erwarten lassen.
Rz. 10
Zu Unrecht stellt die Beschwerdeführerin eine positive Prognose im Hinblick auf das Aussageverhalten des Angeklagten in Frage, aus dem sie einen fehlenden Gesinnungswandel ableitet. Wenn der Angeklagte etwa erst nach umfangreichen Angaben von Belastungszeugen ein Geständnis abgelegt hat, so handelt es sich um ein zulässiges Verteidigungsverhalten, das nicht zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt werden darf (vgl. BGH, Beschl. vom 25. Juni 2002 – 5 StR 202/02 – m.w.N.).
Rz. 11
3. Mit der Möglichkeit der Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nach § 66a StGB setzt sich das angefochtene Urteil zu Recht nicht auseinander. § 66a StGB setzt voraus, dass eine erhebliche, nahe liegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Täter für die Allgemeinheit im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB gefährlich ist und dies auch zum Zeitpunkt einer möglichen Entlassung aus dem Strafvollzug sein wird (vgl. Tröndle/Fischer, StGB 54. Aufl. § 66a Rdn. 8). Diese zweite Voraussetzung ist hier nicht festgestellt.
Unterschriften
Nack, Wahl, Boetticher, Kolz, Graf
Fundstellen