Verfahrensgang
LG Ellwangen (Urteil vom 08.04.2003) |
Tenor
I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ellwangen vom 8. April 2003 mit den Feststellungen aufgehoben.
II. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorbezeichnete Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben
- soweit der Angeklagte im Fall 2 der Urteilsgründe (Tat zum Nachteil D. P.) verurteilt worden ist und
- im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
III. Im Umfang der Aufhebungen wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung und versuchter Nötigung sowie wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit Raub zu der Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg. Ebenfalls begründet ist die wirksam auf die Verurteilung im Fall 2 der Urteilsgründe sowie den Ausspruch über die Gesamtstrafe beschränkte, zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft.
Nach den Feststellungen des Landgerichts griff der Angeklagte am 11. August 2000 die joggende Zeugin G. W. auf einem Radweg zwi- schen zwei Ortschaften an, packte sie von hinten am Genick und drückte sie zu Boden. Er legte ihr einen Arm um den Hals und drückte ihr mit der anderen Hand den Kopf so gegen den Arm, daß ihr Genick überdehnt wurde und sie dabei erhebliche Schmerzen erlitt. Er drohte, ihr das Genick zu brechen, falls sie schreie, und verklebte ihr den Mund und die Augen mit Klebeband. Sodann versuchte er, der sich heftig wehrenden Zeugin mit einer Schnur die Hände auf dem Rücken festzubinden. Infolge der massiven Gegenwehr der Zeugin gelang ihm dies nicht. Deshalb ließ der Angeklagte nach wenigen Minuten von ihr ab, nachdem er erkannt hatte, daß er sein Ziel – nur dieses hat das Landgericht festgestellt –, „die Geschädigte an einen anderen Ort zu bringen”, nicht erreichen konnte (Fall 1 der Urteilsgründe).
Am 12. Januar 2001 packte der Angeklagte die gegen 6.35 Uhr auf dem Schulweg befindliche 14jährige Schülerin D. P., hielt ihr den Mund zu und befahl ihr, ruhig zu sein und sich nicht umzudrehen. Er hielt ihr einen nicht näher identifizierten spitzen Gegenstand gegen den Hals und die rechte Schläfe, knebelte die Zeugin mittels eines von ihm mitgeführten weißen Stofftuchs und zerrte sie ca. 50 m weit über eine angrenzende Streuobstwiese. Dort stieß er sie zu Boden und befahl ihr, sich auszuziehen. Nachdem die Zeugin auch ihre Hose bis zu den Knien heruntergezogen hatte, fesselte der Angeklagte mit einer von ihm mitgeführten Paketschnur die Arme der vor ihm knienden Zeugin auf den Rücken, wickelte die Schnur um ihre Fußgelenke und anschließend um den Hals, um sie von dort wieder über den Rücken abwärts zur Handfesselung zu führen. Dort verschnürte er sie erneut. Er fragte die Zeugin, ob sie Geld habe. Diese deutete auf ihren Rucksack, in dem der Angeklagte jedoch zunächst nichts fand. Hierüber verärgert schlug er der Zeugin mit der Hand „ins Gesicht gegen das linke Auge”, wodurch das Auge anschwoll und sich ein Hämatom bildete. Schließlich fand der Angeklagte den Geldbeutel der Geschädigten und entnahm hieraus einen Bargeldbetrag in Höhe von 60 DM, den er einsteckte. Er befahl der am Boden knienden Zeugin nun, ihr Gesäß hochzuheben und ihre Beine zu spreizen, durchtrennte schließlich mit einem nicht näher erkannten scharfen Gegenstand ihren Slip, so daß Gesäß und Geschlechtsteil entblößt waren. Darauf stach er mit einem nicht identifizierten spitzen Gegenstand mehrmals in die rechte Gesäßhälfte der Zeugin, „um sich daran sexuell zu erregen”. Die Zeugin hörte ein Reißverschlußgeräusch beim Angeklagten, dann Rascheln seiner Kleidung. Nach wenigen Minuten und ohne daß es zu weiteren sexuellen Handlungen an der Zeugin gekommen wäre, brach der Angeklagte ab und entfernte das weiße Stofftuch aus dem Mund der Zeugin; stattdessen steckte er ihr den Kragen ihrer Strickjacke in den Mund und entfernte sich (Fall 2 der Urteilsgründe).
Die Strafkammer hat den bestreitenden Angeklagten für überführt erachtet und sich dabei insbesondere auf ein DNA-Analyse-Gutachten gestützt. Diesem liegen DNA-Anhaftungen zugrunde, die an dem vom Täter im Falle 1 verwendeten Klebeband und an der im Falle 2 benutzten Schnur gesichert werden konnten.
I. Die Revision des Angeklagten
1. Die Revision beanstandet zu Recht als Verstoß gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit, daß die Strafkammer in ihrer Beweiswürdigung hervorhebt, der Angeklagte habe über einen Zeitraum von sechs Monaten die (freiwillige) Abgabe einer Speichelprobe hinausgezögert, obwohl er gewußt habe, daß ihm ein schweres Verbrechen zur Last gelegt werde und er diesen Vorwurf „bei reinem Gewissen umgehend durch die Abgabe einer Speichelprobe hätte ausräumen können” (UA S. 16). Zuvor hatte der Angeklagte auf Anfrage der Polizei zweimal die freiwillige Abgabe einer Speichelprobe zugesagt, war entsprechenden Bitten jedoch dann nicht nachgekommen. Der mit der Sachrüge geltend gemachte Fehler der Beweiswürdigung des Landgerichts ist durch die Urteilsgründe erwiesen; der Senat vermag nicht sicher auszuschließen, daß die Verurteilung des Angeklagten in beiden Fällen darauf beruhen kann.
a) Die freie richterliche Beweiswürdigung nach § 261 StPO findet ihre Grenze an dem Recht eines jeden Menschen, nicht gegen seinen Willen zu seiner Überführung beitragen zu müssen (Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum prodere” oder „nemo tenetur se ipsum accusare”). Danach ist ein Beschuldigter im Strafverfahren grundsätzlich nicht verpflichtet, aktiv die Sachaufklärung zu fördern. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist deshalb anerkannt, daß ein Beschuldigter nicht gehalten ist, zur eigenen Überführung tätig zu werden und an einer Untersuchungshandlung eines Strafverfolgungsorgans oder eines Sachverständigen aktiv mitzuwirken. Seine Beweisfunktion darf gegen seinen Willen nur durchgesetzt werden, sofern er lediglich passiv Beteiligter bleibt. Er selbst hat darüber zu befinden, ob er an der Aufklärung des Sachverhalts aktiv mitwirken will oder nicht. Demgemäß darf er nicht zu Tests, Tatrekonstruktionen, Schriftproben oder zur Schaffung ähnlicher, für die Erstattung eines Gutachtens notwendiger Anknüpfungstatsachen gezwungen werden. Daraus folgt, daß die Verweigerung der aktiven Mitwirkung dem Beschuldigten auch nicht als belastendes Beweisanzeichen entgegengehalten werden darf. Er hat die Freiheit, sich auch auf diese Weise zu verteidigen; er muß nicht seine Unschuld beweisen (vgl. BGHSt 34, 39, 45, 46; siehe weiter BGHSt 32, 140, 144 f.; 34, 324, 326; 45, 363, 364 m.w.N.). Das Bundesverfassungsgericht hat im Blick auf die Beweisbedeutung der Nichtabgabe einer Speichelprobe in einem Kammerbeschluß ausgeführt, zur Begründung des Tatverdachts dürfe nicht der Umstand herangezogen werden, daß ein Beschuldigter eine freiwillige Teilnahme an einer DNA-Untersuchung abgelehnt habe. Eine solche Erwägung verstoße gegen rechtsstaatliche Grundsätze (BVerfG, Kammer, NJW 1996, 1587, 1588; 1996, 3071, 3072).
b) Der vorliegende Fall weist die Besonderheit auf, daß ein prozessuales Verhalten des Angeklagten im Ermittlungsverfahren in Rede steht, welches eine Mitwirkung an der Erhebung von Anknüpfungstatsachen für ein Sachverständigengutachten zum Gegenstand hat, die mit den Mitteln der Strafprozeßordnung auch erzwingbar ist und hier – nach entsprechender richterlicher Anordnung – letztlich auch erzwungen worden ist (§§ 81a, 81e StPO). Das unterscheidet die Fragestellung etwa von der Ausübung des Schweigerechts, der Nichtentbindung eines Zeugen von der Schweigepflicht und der des gezielten Ablieferns von Sprechproben und Schriften (wenn diese also nicht als Beweismittel anderweit gesichert worden sind); hierbei handelt es sich um prozessuales Verhalten, dem nicht in zulässiger Weise mit Zwang begegnet werden darf. Überdies hatte der Angeklagte hier die Freiheit, selbst über die Frage einer freiwilligen Mitwirkung bei einer Speichelprobe zu befinden: Er hat seine aktive Bereitschaft dazu zweimal gegenüber der Polizei erklärt.
c) Diese Besonderheiten rechtfertigen jedoch keine Abweichung von der bisherigen Spruchpraxis zur indiziell belastenden Verwertung prozessualen Verhaltens eines Beschuldigten. Im Vordergrund stand hier – wie der Senat dem Zusammenhang der Urteilsgründe entnimmt – die tatsächliche Weigerung des Angeklagten, aktiv an der Speichelprobe mitzuwirken. Daß er zuvor – dem entgegenstehend – seine Bereitschaft dazu bekundet hatte, ändert nichts daran, daß er durch sein Verhalten letztlich die freiwillige Teilnahme konkludent abgelehnt hat. Hinzu kommt, daß das Landgericht ihm indiziell nicht nur das Hinauszögern der Probe angelastet hat. Es hat weiter ausgeführt, daß er die Probe doch – wenn er „reinen Gewissens” gewesen sei – zu seiner Entlastung schon früher hätte abgeben können, da er gewußt habe, daß es um den Verdacht eines schweren Verbrechens gehe. Daß er dies jedoch nicht getan hat, war ihm prozeßrechtlich möglich. Er war zur aktiven Teilnahme an der Sachverhaltsaufklärung insoweit nicht verpflichtet. Die Erwägung des Landgericht läuft deshalb darauf hinaus, dem Angeklagten als Hinweis auf seine Täterschaft entgegenzuhalten, daß er nicht aktiv an dem Versuch des Nachweises seiner Unschuld mitgewirkt hat. Dazu ist ein Beschuldigter indessen nicht verpflichtet. Deshalb darf grundsätzlich nicht einmal der späte Zeitpunkt einer Beweisantragstellung für einen Entlastungsbeweis als Beweisanzeichen für seine Schuld gewertet werden (vgl. BGHSt 45, 367). Anderes kann allerdings nach Auffassung des Senats dann gelten, wenn sich der Beschuldigte der Anordnung einer Speichelprobe nach §§ 81a, 81e StPO – durch ein anordnungsbefugtes Organ – entzieht.
Schließlich liegt hier auch keiner derjenigen Fälle vor, in denen das Prozeßverhalten in einem engen und einer isolierten Bewertung unzugänglichen Sachzusammenhang mit dem Inhalt der Einlassung steht und schon deshalb einer Würdigung im Zusammenhang mit den entsprechenden Angaben unterzogen werden muß (siehe dazu BGHSt 45, 367, 369 f.; vgl. auch BGHSt 20, 298, 301). Die Einlassung des Angeklagten auch mit ihren Alibibehauptungen war grundsätzlich unabhängig davon zu würdigen, wie es mit seiner Bereitschaft zur freiwilligen Mitwirkung an einem DNA-Test bestellt war.
d) Nach allem ergibt sich, daß hier der praktischen Verweigerung der aktiven Mitwirkung bei einer Speichelprobe mit der vom Landgericht gegebenen Begründung („reines Gewissen”) keine der Verurteilung des Angeklagten dienende Beweisbedeutung beigemessen werden durfte. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht (NJW 1996, 3071, 3072) den Verstoß einer solchen Erwägung gegen rechtsstaatliche Grundsätze für die Begründung eines Tatverdachts und der Beschuldigten-Stellung angenommen; für die Überzeugungsbildung des erkennenden Gerichts aber kann nichts anderes gelten.
Ob es hingegen im Ermittlungsverfahren einen Tatverdacht im Sinne der Anordnungsvoraussetzungen für die Entnahme einer Speichelprobe verstärken kann, wenn aus einer Menge nach abstrakten Grundsätzen Tatverdächtiger (z.B. die männliche Bevölkerung eines Dorfes zwischen 14 und 45 Jahren) sich ein kleiner Teil zu einer freiwilligen Speichelprobe nicht bereit erklärt, ist eine Frage des Einzelfalles. Wenn andere verdachtsbegründende Kriterien angeführt werden können und sich der Kreis der grundsätzlich Verdächtigen durch die Abgabe einer Vielzahl freiwilliger Speichelproben verdichtet hat, wird auch jemand zur Entnahme einer solchen Probe durch strafprozessuale Anordnung gezwungen werden können, der bis dahin keine abgegeben hat (vgl. BVerfG, Kammer, NJW 1996, 3071).
e) Auf dem Rechtsfehler bei der Beweiswürdigung kann das Urteil beruhen. Das Landgericht hat zwar insbesondere auf die Ergebnisse des DNA-Gutachtens abgehoben. Diese weisen auf den Angeklagten als Spurenverursacher mit einem Häufigkeitswert von 1 zu 22.000 im Fall 1 und von 1 zu 250 Millionen im Fall 2 hin. Die Beweiswürdigung könnte deshalb auch ohne die rechtsfehlerhafte Erwägung tragfähig gewesen sein (neben dem DNA-Gutachten u.a.: modus operandi, Täterbeschreibungen, Tatorte, Taxi in Tatortnähe). Dessen ungeachtet kann der Senat aber ein Beruhen des Urteils auf der rechtsfehlerhaften Erwägung nicht sicher ausschließen, weil das Landgericht neben anderen Umständen ausdrücklich als „weiteres Indiz für die Täterschaft des Angeklagten” nicht nur das sechsmonatige Hinauszögern der angekündigten Abgabe der Speichelprobe anführt, sondern darauf abhebt, daß der Angeklagte „bei reinem Gewissen” den Vorwurf eines schweren Verbrechens umgehend hätte ausräumen können (UA S. 16). Das spricht dafür, daß es meinte, sich für seine Überzeugungsbildung auch hierauf stützen zu müssen. Dies zwingt zur Aufhebung der Verurteilung des Angeklagten in beiden Fällen.
2. Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils auf die auch allgemein erhobene Sachrüge hin deckt weitere rechtliche Mängel auf:
a) Die Strafkammer hat bei der Beweiswürdigung zum Fall 1 im Rahmen einer Gesamtschau aller Indizien unter anderem in dem vom Angeklagten vor der Kriminalpolizei nur sechs Tage nach der ersten Tat vorgebrachten „falschen Alibi” einen belastenden Umstand gesehen (UA S. 13). Das begegnet hier rechtlichen Bedenken, die im Ergebnis jedoch dahingestellt bleiben können.
Der Angeklagte hatte vor der Polizei zunächst behauptet, zur Tatzeit als Taxifahrer mit einem vom Flughafen Stuttgart abgeholten Gast unterwegs gewesen zu sein. Als dies widerlegt werden konnte, hat er in der Hauptverhandlung erklärt, er sei – wohl hinsichtlich des zeitlichen Ablaufs – einem Irrtum unterlegen (UA S. 8).
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann ein objektiv widerlegtes, aber auch ein nachweislich erlogenes Alibi für sich allein und ohne Rücksicht auf Gründe und Begleitumstände seines Vorbringens nicht als Beweisanzeichen für die Überführung des Angeklagten gewürdigt werden. Auch ein Unschuldiger kann meinen, seine Aussichten auf einen Freispruch seien besser, wenn er nicht nur auf die Wahrheit setze, sondern überdies versuche, auf ein unwahres, konstruiertes Alibi zu bauen, also mit dem Mittel der Lüge ein übriges tun zu sollen, um seinen Freispruch gleichsam abzusichern. Ebensowenig ist der lediglich gescheiterte Alibibeweis – bei dem die Lüge nicht erwiesen ist – für sich allein ein Beweisanzeichen für die Täterschaft. Der Angeklagte ist nicht gehalten, sein Alibi zu beweisen. Daß er dies versucht hat, wenn auch im Ergebnis erfolglos, darf ihm nicht ohne weiteres zum Nachteil gereichen.
Freilich muß ein widerlegtes Alibi deshalb bei der Beweisführung nicht stets außer Betracht bleiben. Treten besondere Umstände hinzu, so darf berücksichtigt werden, daß der Angeklagte sich bewußt wahrheitswidrig auf ein Alibi berufen hat (vgl. zu alldem BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 11, 30). Die Gründe und Begleitumstände der Alibibehauptung sind dabei zu bewerten (BGHSt 41, 153; BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 30; BGH StV 1982, 158). Will der Tatrichter eine erlogene Entlastungsbehauptung als zusätzliches Belastungsanzeichen werten, so muß er sich bewußt sein, daß eine wissentlich falsche Einlassung hierzu ihren Grund nicht darin haben muß, daß der Angeklagte die Tat begangen hat, vielmehr auch eine andere Erklärung finden kann. Deshalb hat er in solchen Fällen darzutun, daß eine andere, nicht auf die Täterschaft hindeutende Erklärung im konkreten Fall nicht in Betracht kommt oder – obgleich denkbar – nach den Umständen jedenfalls so fernliegt, daß sie ausscheidet (BGHR StPO § 261 Aussageverhalten 13).
Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht uneingeschränkt gerecht. Es hat nicht ausdrücklich klargestellt, ob es von einem erlogenen oder nur von einem schlicht widerlegten Alibi ausgeht. Der Angeklagte hat sich im Blick auf seine zeitliche Angabe bei der polizeilichen Vernehmung später auf einen Irrtum berufen. Hiermit hat sich das Landgericht nicht näher auseinandergesetzt und dem Angeklagten ohne weiteres das „falsche Alibi” als Indiz für seine Täterschaft im Fall 1 entgegengehalten. Das wäre allenfalls dann rechtlich hinnehmbar, wenn man dem Urteil noch entnehmen könnte, daß das Landgericht meinte, auch einen Irrtum des Angeklagten ausschließen zu können und sich die dafür erforderliche Begründung in noch tragfähiger Weise aus dem Urteilszusammenhang ergäbe.
b) Das Landgericht hat weiter im Fall 1 der Urteilsgründe die Konkurrenzverhältnisse nicht in jeder Hinsicht zutreffend gewürdigt: Es hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung und versuchter Nötigung schuldig gesprochen und ist damit daran vorbeigegangen, daß der Bedrohungstatbestand (§ 241 Abs. 1 StGB) hinter denjenigen der Nötigung zurücktritt, wenn, wie hier, die Bedrohung sich als Teil der Nötigung erweist. Das gilt auch für den Fall des bloßen Nötigungsversuchs (BGHR StGB § 240 Abs. 3 Konkurrenzen 2; BGH bei Holtz MDR 1979, 280 f.; vgl. Träger/ Schluckebier in LK 11. Aufl. § 241 Rdn. 27 m.w.N.).
II. Die Revision der Staatsanwaltschaft
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist wirksam auf den Fall 2 der Urteilsgründe (Tat zum Nachteil D. P.) sowie den Ausspruch über die Gesamtstrafe beschränkt.
Zu Recht beanstandet die Beschwerdeführerin, daß die Beweiswürdigung des Landgerichts einen durchgreifenden rechtlichen Mangel ausweist. Die Würdigung des festgestellten Sachverhalts ist zudem in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht nicht erschöpfend.
1. Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen hat das Landgericht bei seiner rechtlichen Würdigung nicht bedacht, daß der Angeklagte bei der Tat ein Mittel bei sich geführt hat, um den Widerstand der Geschädigten durch Gewalt zu verhindern und zu überwinden (§ 177 Abs. 3 Nr. 2, § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StGB). Diese Voraussetzung ist schon dadurch erfüllt, daß der Angeklagte eine Paketschnur mitführte, die er zur Fesselung seines Opfers einsetzte, und überdies ein von ihm mitgebrachtes Tuch zur Knebelung der Geschädigten verwandte (UA S. 6).
2. Mit Erfolg wendet sich die Beschwerdeführerin auch gegen die Würdigung des Landgerichts, der vom Angeklagten eingesetzte nicht näher identifizierbare spitze Gegenstand könne nicht als „gefährliches Werkzeug” im Sinne des Gesetzes gewertet werden (UA S. 18; vgl. § 177 Abs. 4 Nr. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2, § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB). Die Beweiswürdigung hierzu ist unklar und lückenhaft. Die Kammer hat festgestellt, der Angeklagte habe der Zeugin P. mit dem spitzen Gegenstand mehrmals „in ihre rechte Gesäßhälfte” gestochen (UA S. 6), hat dann aber bei der Darstellung der von der Zeugin erlittenen Verletzungen kein dementsprechendes Verletzungsbild angeführt: Stichverletzungen am Gesäß der Zeugin sind nicht festgestellt (UA S. 7). Damit bleibt offen, ob durch diese Stiche Verletzungen bewirkt worden sind. Deren Vorliegen könnte dafür sprechen, daß der nicht identifizierte Gegenstand nach seiner objektiven Beschaffenheit und nach der Art seiner Benutzung im Einzelfall („verwendungsspezifisch”) geeignet war, erhebliche Körperverletzungen zu bewirken. Auch hat der Angeklagte mit einem nicht näher bekannten scharfen Gegenstand den Slip der Zeugin „durchtrennt” (UA S. 6). Sollte dies nicht nur ein „Durchreißen” gewesen sein, könnte das für einen der objektiven Beschaffenheit nach sehr wohl zu erheblichen Körperverletzungen geeigneten Gegenstand sprechen, der als gefährliches Werkzeug zu qualifizieren sein könnte, wenn er auch als Drohmittel gegenüber der Zeugin verwendet worden wäre und es sich nicht etwa – was eher fernliegen dürfte – um einen anderen als den gegen die Zeugin eingesetzten Gegenstand gehandelt hätte. Mit diesen Umständen hätte sich die Kammer in ihrer Würdigung auseinandersetzen müssen, bevor sie sich auf die Nichterweislichkeit der Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs zurückzog.
3. Darüber hinaus hätte die Strafkammer prüfen müssen, ob die vom Angeklagten zur Fesselung des Opfers verwendete Paketschnur hier ebenfalls als gefährliches Werkzeug im Sinne der Qualifiktationstatbestände gemäß § 177 Abs. 4 Nr. 1; § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB zu bewerten war. Zwar ist eine Paketschnur für sich gesehen und generell kein gefährliches Werkzeug. Ihre Gefährlichkeit kann sich aber aus der tatsächlichen, konkreten Verwendung ergeben. Gerade für Fesselungsmittel hat der Bundesgerichtshof in seiner Rechtsprechung wiederholt auf die Bedeutung der Art ihrer Verwendung hingewiesen (vgl. nur Senat, Beschl. vom 3. April 2002 – 1 ARs 5/02 – in: NStZ-RR 2002, 265 = StraFo 2002, 239, m.w. RsprN). Wird jemand nur mit Klebeband ohne weitere Folgen an einen Stuhl gefesselt oder werden ihm die Hände mit Kabelbinder zusammengebunden, wird die Benutzung des Fesselungsmittels konkret kaum geeignet sein, erhebliche Verletzungen zu bewirken (vgl. BGH StV 1999, 91; Beschl. vom 12. Januar 1999 – 4 StR 688/98). Hier indessen verwandte der Angeklagte die Schnur zu einer besonderen Art der Fesselung seines Opfers. Er fesselte diesem nicht nur die Hände auf dem Rücken und die Füße, sondern führte die Schnur auch um den Hals und verband sie mit der übrigen Fesselung. Im Ergebnis führte das zu einer ca. 1 cm breiten „Strangulationswunde” am Hals, die bis zu beiden Halsseiten reichte (UA S. 7). Dies deutet darauf hin, daß die besondere Art der Verwendung der Paketschnur diese dazu geeignet erscheinen ließ, auch eine erhebliche Körperverletzung zu bewirken. Sie wäre dann als „gefährliches Werkzeug” im Sinne der genannten Tatbestände verwendet worden.
4. Weiter hätte sich der Tatrichter damit befassen müssen, ob im Blick auf die Strangulationswirkung der Fesselung eine gefährliche Körperverletzung anzunehmen ist. In Betracht kommt die Tatbegehung mittels eines gefährlichen Werkzeuges (siehe oben, § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB), möglicherweise aber auch mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB). In subjektiver Hinsicht könnte ein wenigstens bedingter Vorsatz des Angeklagten insoweit selbst dann zu bejahen sein, wenn die Strangulationswunde letztlich erst dadurch bewirkt worden wäre, daß sich die Geschädigte „in gefesseltem Zustand hüpfend zu ca. 50 m entfernten Häusern bewegte” (UA S. 7), wo sie von ihrer Fesselung befreit wurde. Da der Angeklagte sie in besonderer Weise gefesselt 50 m abseits des Weges auf einer Streuobstwiese zurückgelassen hatte (vgl. UA S. 5) und die Tat im Winter um 6.35 Uhr begangen wurde, mußte er wohl auch damit rechnen, daß die Geschädigte in der festgestellten Weise ihre Befreiung suchen und sich die Fesselung strangulierend auswirken könnte, wenn nicht schon das Anbringen der Fesseln selbst die beschriebenen Halsverletzungen verursacht haben sollte.
5. Die aufgeführten, für durchgreifend erachteten rechtlichen Mängel erfassen im Fall 2 der Urteilsgründe auch den Schuldspruch. Dieser kann keinen Bestand haben. Das führt zum Fortfall der – ohnehin niedrigen – Einzelstrafe und zur Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtfreiheitsstrafe.
III. Hinweise:
Der neue Tatrichter wird folgendes zu bedenken haben:
1. Die bisherige Würdigung der Strafkammer zum Fall 1 der Urteilsgründe erweist sich in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht deshalb als lückenhaft, weil die Kammer lediglich annimmt, Nötigungsziel des Angeklagten sei es gewesen, die Geschädigte „an einen anderen Ort zu bringen” (UA S. 5). Sie setzt sich nicht damit auseinander, ob der Täter auch sexuelle Ziele verfolgte. Das lag hier angesichts des Tatbildes und des Zusammenhangs zwischen den beiden Taten bei lebensnaher Betrachtung nahe. Dadurch ist der Angeklagte zwar nicht beschwert und die Staatsanwaltschaft hat dies nicht angegriffen. Der neue Tatrichter ist aber durch das Verschlechterungsverbot nicht gehindert, den Schuldspruch dennoch zu verschärfen, wenn er aufgrund neuer Bewertung wiederum die Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten gewinnen sollte, die eigentliche Zielsetzung des Täters näher festzustellen vermag und diese im Sexuellen gründen sollte. Das Verschlechterungsverbot gilt im Grundsatz nur hinsichtlich der Art und der Höhe der Rechtsfolgen der Tat (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO). Die wegen des Falles 1 verhängte Einzelstrafe dürfte indes nicht erhöht werden, weil insoweit lediglich auf die Revision des Angeklagten hin neu zu befinden sein würde.
2. Der neue Tatrichter wäre schließlich von Rechts wegen nicht gehindert, die Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB zu prüfen (vgl. § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO), wenn sich – abweichend vom angefochtenen Urteil – die Voraussetzungen des § 21 StGB sicher feststellen ließen. Dafür bietet sich allerdings auf der Grundlage des vorliegenden Urteils kein Anhalt. Der Senat schließt angesichts der Tatabläufe aus, daß Schuldunfähigkeit in Betracht kommen könnte. Da das angefochtene Urteil im Fall 2 und im Ausspruch über die Gesamtstrafe auch auf die zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft hin aufgehoben wird, kann sich gar eine Lage ergeben, in welcher der neue Tatrichter die Anordnung der Sicherungsverwahrung zu prüfen haben könnte (vgl. § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB).
Unterschriften
Nack, Boetticher, Schluckebier, Hebenstreit, Elf
Fundstellen
Haufe-Index 2557556 |
BGHSt 2004, 56 |
NStZ 2004, 392 |
DAR 2005, 251 |
DSB 2005, 18 |
DVP 2008, 280 |
JA 2004, 789 |
JuS 2004, 448 |
Kriminalistik 2004, 551 |
NJW-Spezial 2004, 137 |
RÜ 2004, 203 |
StV 2004, 358 |