Leitsatz (amtlich)
›1. Zur Frage der Eigenmächtigkeit im Sinne des § 231 Abs. 2 StPO.
2. Zur Frage der Ladung des ausgebliebenen Angeklagten zu einem Fortsetzungstermin.‹
Verfahrensgang
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Anstiftung zum Meineid in vier Fällen, wegen Beihilfe zur falschen uneidlichen Aussage in drei Fällen sowie wegen Untreue zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren 6 Monaten verurteilt. Die auf eine Reihe von Verfahrensrügen und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.
Rüge der Verletzung der §§ 230 231 StPO:
Der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO ist nicht gegeben. Entgegen der Ansicht der Revision hat das Landgericht nicht gegen die §§ 230, 231 StPO verstoßen, indem es am 2., 5. und 9. Mai 1986 in Abwesenheit des Angeklagten verhandelte.
1. Die Hauptverhandlung gegen den Angeklagten hatte am 28. Januar 1986 begonnen. Zuletzt war am 21. April 1986 in seiner Gegenwart verhandelt worden. Der auf den 30. April 1986 festgesetzte 14. Verhandlungstag wurde auf telefonischen Wunsch des Angeklagten auf den 2. Mai 1986 verlegt, nachdem dieser dem Vorsitzenden vorgerechnet hatte, daß entgegen dessen Annahme die Zehntages-Frist des § 229 Abs. 1 StPO auch bei einer Terminverschiebung auf diesen Tag noch gewahrt war. Am 2. Mai 1986 erschien der Angeklagte zu der auf 9. 00 Uhr angesetzten Hauptverhandlung nicht; sein Verteidiger war über die Gründe seines Ausbleibens nicht informiert.
Nachforschungen ergaben schließlich, daß er sich in zahnärztliche Behandlung begeben hatte und ihm ein Weisheitszahn entfernt wurde. Der von der Strafkammer eingeschaltete Landgerichtsarzt stellte fest, daß die Entfernung des Zahnes komplikationslos verlaufen war und der Angeklagte sich bereits wieder in seiner Wohnung befand. Während des Besuchs des Landgerichtsarztes in der Wohnung des Angeklagten hielt die Wirkung der Betäubungsspritze noch an. Erst für einen späteren Zeitpunkt war mit einer Zunahme der Schmerzen zu rechnen. Der Angeklagte weigerte sich, mit dem Landgerichtsarzt zu sprechen; er reagierte lediglich durch Kopfnicken und -schütteln. Die Frage des Arztes, ob der Angeklagte bereit sei, mit ihm zur Hauptverhandlung zu fahren, verneinte dieser.
Bei seiner anschließenden Anhörung in der Hauptverhandlung vertrat der Landgerichtsarzt die Auffassung, gegen eine kurze Fortsetzung der Hauptverhandlung von maximal 15 Minuten bestünden keine Bedenken. Daraufhin verfügte der Vorsitzende die Fortsetzung der Hauptverhandlung in der Wohnung des Angeklagten. Dieser verweigerte jedoch auf telefonische Rückfrage bei dem in derselben Wohnung lebenden Vater seine Zustimmung.
Die Strafkammer beschloß daraufhin, die Hauptverhandlung gemäß § 231 Abs. 2 StPO ohne den Angeklagten fortzusetzen. Nach Verlesung zweier Schriftstücke zu Beweiszwecken stellte der Verteidiger einen Beweisantrag. Sodann wurde die Hauptverhandlung unterbrochen und Termin zur Fortsetzung auf den 5. Mai 1986 anberaumt. Auch diesem Fortsetzungstermin und dem für die Urteilsverkündung angesetzten Termin vom 9. Mai 1986 blieb der Angeklagte ohne Entschuldigung fern.
2. Das Verfahren des Landgerichts ist nicht zu beanstanden.
a) Nach § 231 Abs. 2 StPO darf eine unterbrochene Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten zu Ende geführt werden, wenn er eigenmächtig ferngeblieben ist, d. h. den Versuch unternommen hat, durch Mißachtung seiner Anwesenheitspflicht den Gang der Rechtspflege zu stören und die Hauptverhandlung durch seine Abwesenheit unwirksam zu machen (BGHSt 3, 187, 190; 10, 304, 305; 16, 178, 183; 25, 317, 319). Dabei kommt es nicht darauf an, ob das erkennende Gericht Grund zu der Annahme hatte, der Angeklagte sei dem Fortsetzungstermin in der genannten Absicht ferngeblieben. Entscheidend ist, ob "Eigenmächtigkeit" in diesem Sinne tatsächlich vorlag. Diese Prüfung hat das Revisionsgericht selbständig nach dem Kenntnisstand im Zeitpunkt seiner Entscheidung vorzunehmen und dabei zu beachten, daß es nicht Sache des Angeklagten ist, den Verdacht der Eigenmächtigkeit auszuräumen, daß ihm vielmehr das Vorliegen dieser Voraussetzungen nachzuweisen ist (BGHSt 10, 304, 305; 16, 178, 180; BGH GA 1969, 281; BGH, Urt. vom 7. November 1978 - 1 StR 470/78 - bei Holtz MDR 1979, 281; BGH NJW 1980, 950; StV 1981, 393; 1982, 153; BGH, Beschl. vom 19. August 1983 - 1 StR 368/83 - bei Pfeiffer/Miebach NStZ 1984, 209). Der Senat hat deshalb im Wege des Freibeweises den gesamten Akteninhalt verwertet und eine schriftliche Äußerung des Zahnarztes eingeholt, der den Angeklagten am 2. Mai 1986 behandelt hat. Danach ist ein eigenmächtiges Fernbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung vom 2. Mai 1986 erwiesen.
Allerdings ist dem Angeklagten nicht zu widerlegen, daß er zu der festgesetzten Terminsstunde am Morgen des 2. Mai 1986 wegen starker Zahnschmerzen verhandlungsunfähig war. Der behandelnde Arzt hat auf Anfrage bestätigt, daß aus seiner Sicht wegen erschwerten Durchbruchs (dentitio difficilis) eines verlagerten Weisheitszahns mit beginnender Kieferklemme und Lymphadenitis eine sofortige Operation erforderlich war. Das Landgericht ist demgemäß mit Recht zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen, daß die Entfernung des Weisheitszahns gerade zu der festgesetzten Terminsstunde erforderlich war.
Andererseits war dem Angeklagten zuzumuten, nach der Entfernung des Weisheitszahns für begrenzte Zeit an der Hauptverhandlung teilzunehmen. Aus dem vom Vorsitzenden der Strafkammer in einem Vermerk niedergelegten Inhalt des Telefongesprächs über die Verlegung des Hauptverhandlungstermins vom 30. April auf den 2. Mai 1986 ergibt sich, daß die Frage der Einhaltung der Zehntagefrist nach § 229 Abs. 1 StPO einen wesentlichen Teil der Unterhaltung bildete und zwischen dem Angeklagten und dem Vorsitzenden Einigkeit über die Notwendigkeit bestand, die gesamte dreizehntägige schwierige Beweisaufnahme zu wiederholen, falls es nicht gelänge, die Hauptverhandlung spätestens am 2. Mai fortzusetzen. Letzte Zweifel daran, daß die Strafkammer angesichts dieser besonderen Umstände trotz der eingetretenen Verspätung jede Möglichkeit zur Fortsetzung der Verhandlung an jenem Tag wahrzunehmen bereit war, waren bei dem Angeklagten beseitigt, als der Landgerichtsarzt in seiner Wohnung erschien und ihn fragte, ob er mit ihm zur Verhandlung nach Nürnberg fahren wolle. Zu dieser Zeit hielt nach den Feststellungen des Landgerichtsarztes die Wirkung der dem Angeklagten gegebenen Betäubungsspritze an; er stand also nicht etwa unter starken Schmerzen. Noch um 13. 45 Uhr hielt der Landgerichtsarzt bei seiner Anhörung vor der Strafkammer eine kurze Fortsetzung der Hauptverhandlung mit den Angeklagten für unbedenklich. Hätte der Angeklagte das Angebot des Arztes, ihn im Wagen mitzunehmen, aufgegriffen, wäre das in diesem Zeitpunkt ohne Schwierigkeiten möglich gewesen. Auch der behandelnde Zahnarzt hat in seiner schriftlichen Stellungnahme zu der ausdrücklichen Frage des Senats, wie lange eine etwaige Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten infolge der Operations- und/oder Narkosefolgen angehalten habe und wann der Angeklagte nach seiner Einschätzung frühestens bei Gericht hätte erscheinen können, lediglich darauf verwiesen, daß er den Angeklagten für die Zeit vom 2. bis 9. Mai 1986 arbeitsunfähig geschrieben habe; er hat damit die Feststellungen des Landgerichtsarztes zur Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten unmittelbar nach dem Eingriff im Ergebnis nicht in Frage gestellt.
Unter diesen Umständen kommt es nicht darauf an, ob der Angeklagte verpflichtet gewesen wäre, einer Fortsetzung der Hauptverhandlung am Krankenbett in seiner Wohnung zuzustimmen (vgl. dazu Laier NJW 1977, 1139; Schreiner NJW 1977, 2303; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 231 Rdn. 19; Müller in KMR - Stand 1986 - § 231 Rdn. 11; Kleinknecht/Meyer, StPO 37. Aufl. § 231 Rdn. 10). Die entsprechende Frage stellte ein Entgegenkommen der Strafkammer dar, welches ihm das an sich mögliche und zumutbare Erscheinen im Gerichtsgebäude ersparen sollte. Aus den im Urteil wiedergegebenen Äußerungen des Landgerichtsarztes ergibt sich zweifelsfrei, daß dieser eine Verhandlung am Krankenbett nicht für notwendig erachtet hatte. Wenn der Angeklagte auch dieses, die Auswirkungen seiner Pflicht zur Teilnahme an der Fortsetzungsverhandlung erheblich mildernde, Angebot des Gerichts trotz der - jedenfalls aus seiner Sicht - drohenden schwerwiegenden Folgen seines Ausbleibens ablehnte, zeigt das, daß er die Hauptverhandlung durch sein Fernbleiben unwirksam machen und die Wiederholung der gesamten - zu seinen Ungunsten verlaufenen - Beweisaufnahme erzwingen wollte. Sein unentschuldigtes Fernbleiben in den weiteren Folgeterminen, für das auch mit der Revision keine Erklärung gegeben worden ist, bestätigt den Senat in dieser Überzeugung.
b) Die weiteren Voraussetzungen des § 231 Abs. 2 StPO waren gegeben. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kommt es nicht darauf an, ob er sich tatsächlich zur Anklage geäußert hatte. Ausreichend ist vielmehr, daß ihm dazu nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO Gelegenheit gegeben worden ist (BGH, Urt. vom 19. August 1971 - 4 StR 276/71 - bei Holtz MDR 1972, 18; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg aaO. Rdn. 11 m. w. N.; Treier in KK § 231 Rdn. 7). Das ist geschehen. Sein dabei erklärter Vorbehalt, zu einem späteren Zeitpunkt Erklärungen zur Sache abzugeben, hinderte das Gericht nicht, bei eigenmächtigem Fernbleiben nach § 231 Abs. 2 StPO zu verfahren. Eine unzulässige Beschränkung seiner Verteidigung nach § 338 Nr. 8 StPO, die die Revision in diesem Zusammenhang zusätzlich rügt, liegt deshalb nicht vor; der Angeklagte hat durch sein eigenes Verhalten die ihm sonst zustehenden Möglichkeiten der Einwirkung auf das Verfahren verwirkt (Gollwitzer aaO. Rdn. 29; Treier aaO. Rdn. 9).
c) Das Landgericht war schließlich auch berechtigt, am 5. und 9. Mai 1986 ohne den Angeklagten weiterzuverhandeln. Der Angeklagte ist diesen Terminen ohne Entschuldigung ferngeblieben. Eigenmächtigkeit ist insoweit nicht etwa deshalb zu verneinen, weil er nicht wirksam geladen worden wäre (vgl. dazu BGH NStZ 1984, 41 m. Anm. Hilger). § 216 StPO ist nur für die Ladung zum Neubeginn einer Hauptverhandlung anwendbar; Fortsetzungstermine dürfen in der Hauptverhandlung bekanntgegeben werden (BGH JZ 1957, 673; Gollwitzer aaO. § 216 Rdn. 2 m. w. N.; Treier aaO. § 216 Rdn. 9; vgl. auch Nr. 137 Abs. 1 RiStBV). Ob das in jedem Fall auch gilt, wenn der Angeklagte trotz ordnungsmäßiger Ladung ausgeblieben war und der Fortsetzungstermin deshalb in seiner Abwesenheit bekanntgegeben wird (so Gollwitzer aaO. m. w. N.), kann offen bleiben. Jedenfalls wenn er - wie hier - durch einen Verteidiger vertreten ist, besteht kein Anlaß, die durch sein unbegründetes Fernbleiben ausgelösten Einschränkungen seiner Einwirkungs- und Informationsmöglichkeiten auf andere Weise auszugleichen (vgl. BGHSt 3, 206, 210).
Fundstellen
Haufe-Index 2992896 |
NJW 1987, 2592 |
NStZ 1988, 421 |
wistra 1987, 299 |
MDR 1987, 877 |
NStE StPO § 231 Nr. 3 |
StV 1987, 474 |