Leitsatz (amtlich)
1. Die Aufsichtsratsmitglieder haben aufgrund ihrer Organstellung und der sich daraus ergebenden gemeinsamen Verantwortung für die Rechtmäßigkeit der von ihnen gefaßten Beschlüsse ein Rechtsschutzinteresse daran, die Nichtigkeit von Aufsichtsratsbeschlüssen auf dem Klagewege feststellen zu lassen.
2. Der Aufsichtsrat hat aufgrund seiner Aufgabe, die Tätigkeit des Vorstandes zu überwachen und zu kontrollieren, die Pflicht, das Bestehen von Schadenersatzansprüchen der AG gegenüber Vorstandsmitgliedern eigenverantwortlich zu prüfen.
Dabei hat er zu berücksichtigen, daß dem Vorstand für die Leitung der Geschäfte der AG ein weiter Handlungsspielraum zugebilligt werden muß, ohne den unternehmerisches Handeln schlechterdings nicht denkbar ist.
Die nach AktG § 147 Abs 1 bestehende Möglichkeit der Hauptversammlung, eine Rechtsverfolgung zu beschließen, berührt diese Pflicht nicht.
3. Kommt der Aufsichtsrat zu dem Ergebnis, daß sich der Vorstand schadenersatzpflichtig gemacht hat, muß er aufgrund einer sorgfältigen und sachgerecht durchzuführenden Risikoanalyse abschätzen, ob und in welchem Umfang die gerichtliche Geltendmachung zu einem Ausgleich des entstandenen Schadens führt. Gewissheit, daß die Schadenersatzklage zum Erfolg führen wird, kann nicht verlangt werden.
4. Stehen der AG nach dem Ergebnis dieser Prüfung durchsetzbare Schadenersatzansprüche zu, hat der Aufsichtsrat diese Ansprüche grundsätzlich zu verfolgen. Davon darf er nur dann ausnahmsweise absehen, wenn gewichtige Gründe des Gesellschaftswohls dagegen sprechen und diese Umstände die Gründe, die für eine Rechtsverfolgung sprechen, überwiegen oder ihnen zumindest gleichwertig sind.
Anderen außerhalb des Unternehmenswohles liegenden, die Vorstandsmitglieder persönlich betreffenden Gesichtspunkte darf der Aufsichtsrat nur in Ausnahmefällen Raum geben.
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 22. Juni 1995 insoweit aufgehoben, als die Klage abgewiesen und die Kosten des Rechtsstreits den Klägern auferlegt worden sind.
Die Sache wird insoweit zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Kläger, Mitglieder des Aufsichtsrates der Beklagten, einer Rechtsschutzversicherung in der Form einer Aktiengesellschaft, wenden sich gegen die Aufsichtsratsbeschlüsse zu Punkt 8 b) der Tagesordnung vom 25. Juni 1992 und zu Punkt 9 der Tagesordnung vom 15. Juni 1993, mit denen die Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs gegen den Vorstandsvorsitzenden der Beklagten, Dr. L. F., abgelehnt worden ist.
Die Beklagte und ihre 100 %igen Tochtergesellschaften, die A. GmbH und die AR. B.V., die sie 1984 bzw. 1989 gegründet hat und zu deren alleinvertretungsberechtigtem Geschäftsführer u.a. Dr. L. F. bestellt worden war, traten in Geschäftsbeziehungen zu der G. Ltd., einer in L. gegründeten, dort jedoch nur eine Briefkastenadresse unterhaltenden Gesellschaft, deren geschäftsführender Direktor der mehrfach vorbestrafte Elektroinstallateur W. Am. war, der im wesentlichen über diese Gesellschaft vor allem von der Schweiz aus Anlagen- und Anlagenvermittlungsgeschäfte abwickelte. Die G. Ltd. nahm einerseits Kapital zu erheblich über dem Kapitalmarktniveau liegenden Zinsen entgegen und gewährte andererseits unterhalb des marktüblichen Zinsniveaus liegende Billigkredite. Die Verluste aus dieser Geschäftstätigkeit konnten nur für eine begrenzte Zeit durch Ausweitung des Geschäftsumfanges nach Art eines „Schneeball-Systems” aufgefangen werden. Anfang 1990 brach die G.-Gruppe schließlich zusammen.
Infolge dieses Zusammenbruchs erlitten die Beklagte und ihre Tochtergesellschaften aus Darlehensgeschäften einen Zinsausfallschaden von ca. 421.000,– DM. Aus damit zusammenhängenden Kreditanlagegeschäften der AR. B.V. entstand der Beklagten darüber hinaus ein von den Klägern mit mehr als 80 Mio. DM bezifferter Schaden. Da die G. Ltd. ihrer gegenüber der AR. B.V. eingegangenen Verpflichtung, das ihr von dieser gewährte, mit Bankkrediten finanzierte Darlehen durch unmittelbare Rückführung der Bankkredite zu tilgen, bei deren Fälligkeit im Jahre 1990 aufgrund ihres Zusammenbruchs nicht nachkommen und auch die AR. B.V. die Bankkredite nicht bedienen konnte, sah sich die Beklagte gezwungen, für deren Rückzahlung einzustehen. Sie hatte die für diese Kredite von bestimmten Banken abgegebenen Garantieerklärungen durch Patronatserklärungen, die u.a. von ihrem Vorstandsvorsitzenden unterzeichnet waren, besichert. Eine zur Absicherung des Geschäftes vorgesehene Garantieerklärung der S. Rückversicherung lag in dem Zeitpunkt, in dem es der G. Ltd. ermöglicht wurde, durch ihren geschäftsführenden Direktor Am. auf den Darlehensbetrag Zugriff zu nehmen, nicht vor.
Die Kläger sind der Ansicht, der Vorstandsvorsitzende der Beklagten habe im Rahmen der mit der G. Ltd. getätigten Geschäfte seine ihm gegenüber der Gesellschaft obliegenden Sorgfaltspflichten verletzt und müsse ihr den ihr entstandenen Schaden ersetzen. Der Aufsichtsrat hat den Antrag des Klägers zu 1, einen entsprechenden Beschluß zu fassen, in den Sitzungen vom 25. Juni 1992 und 15. Juni 1993 abgelehnt.
Die Kläger halten diese Beschlüsse für rechtswidrig und begehren die Feststellung, daß beide Beschlüsse nichtig sind.
Das Landgericht (Urt. veröffentl. in ZIP 1994, 628) hat der Klage stattgegeben, das Berufungsgericht (Urt. veröffentl. in ZIP 1995, 1183) hat sie abgewiesen. Mit ihrer Revision erstreben die Kläger die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Kläger führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I. Entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung hat das Berufungsgericht die Zulässigkeit der Feststellungsklage zu Recht bejaht.
1. Das Berufungsgericht geht mit der Rechtsprechung des Senates davon aus, daß die Klärung der Fehlerhaftigkeit von Aufsichtsratsbeschlüssen nicht den einschränkenden Vorschriften der §§ 241 ff. AktG unterliegt, sondern verfahrensrechtlich unter Verletzung zwingenden Gesetzes- oder Satzungsrechtes zustande gekommene oder inhaltlich gegen derartiges Recht verstoßende Beschlüsse des Aufsichtsrates nichtig sind und diese Nichtigkeit mit der Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO geltend zu machen ist (BGHZ 122, 342, 347 ff.; 124, 111, 125). Das wird auch von der Revisionserwiderung nicht angegriffen.
Sie ist jedoch der Ansicht, ein rechtliches Interesse an der Feststellung der Nichtigkeit eines Aufsichtsratsbeschlusses wegen eines Inhaltsmangels habe ein Aufsichtsratsmitglied allenfalls dann, wenn seine organschaftlichen Mitwirkungsrechte verletzt bzw. verkürzt werden oder der Aufsichtsrat es ablehne, einem nach § 147 Abs. 1 AktG gefaßten Beschluß der Hauptversammlung nachzukommen, nach dem ein Vorstandsmitglied in Regreß zu nehmen ist. Da diese Voraussetzungen nicht vorlägen, hätten die Kläger kein rechtliches Interesse an der begehrten Feststellung. Dem kann nicht gefolgt werden.
a) Es kann dahingestellt bleiben, ob sich das Rechtsschutzinteresse bereits aus dem persönlichen Interesse eines Aufsichtsratsmitgliedes ergibt, sich von einem Beschluß dieses Organs zu distanzieren und möglichen Regreßansprüchen nach § 116 AktG wegen der Mitwirkung an rechtswidrigem Organhandeln vorzubeugen (so Bork, ZIP 1991, 137, 146; Stodolkowitz, ZHR 154 (1990), 1, 18). Immerhin kann dem entgegengehalten werden, die Regreßgefahr lasse sich ohne weiteres durch die Dokumentation des Abstimmungsverhaltens abwehren (Noack, DZWiR 1994, 341, 343). Auf jeden Fall folgt das Feststellungsinteresse aus der Organstellung der Aufsichtsratsmitglieder und ihrer sich daraus ergebenden gemeinsamen Verantwortung für die Rechtmäßigkeit der von ihnen gefaßten Beschlüsse (BGHZ 122, 342, 350). Das Aufsichtsratsmitglied hat nicht nur das Recht – und die Pflicht –, die ihm im Rahmen seiner Organtätigkeit zugewiesenen Aufgaben in Übereinstimmung mit den Anforderungen, die Gesetz und Satzung an die Erfüllung stellen, wahrzunehmen; aus seiner organschaftlichen Stellung ergibt sich zumindest auch das Recht, darauf hinzuwirken, daß das Organ, dem es angehört, seine Entscheidungen nicht in Widerspruch zu Gesetzes- und Satzungsrecht trifft. Kann es dieses Ziel im Rahmen der Diskussion und Entscheidungsfindung im Aufsichtsrat nicht erreichen, ist es berechtigt, eine Klärung auf dem Klagewege anzustreben. Dementsprechend hat der Senat bereits in einer früheren Entscheidung, deren Gegenstand keine Verkürzung oder Verletzung organschaftlicher Mitwirkungsrechte war, ausgesprochen, das rechtliche Interesse an der Feststellung der Nichtigkeit des Aufsichtsratsbeschlusses folge aus der Stellung des Klägers als Mitglied des Aufsichtsrates (BGHZ 83, 144, 146; vgl. auch BGHZ 124, 111, 115).
Dem ist das Schrifttum überwiegend gefolgt (KK/Mertens, 2. Aufl., § 108 Rn. 89; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrates, 3. Aufl., Rn. 289; Hoffmann/Becking, Münchner Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 4, Aktiengesellschaft, § 33 Rn. 49 m.w.N. in Fußnote 59; Thomas Raiser, ZGR 1989, 44, 67 f.).
b) Die in § 245 Nr. 5 AktG getroffene Regelung, nach der das Recht auf Anfechtung eines Hauptversammlungsbeschlusses durch ein Mitglied des Vorstandes oder Aufsichtsrates zur Voraussetzung hat, daß es durch die Ausführung des Beschlusses eine strafbare Handlung oder Ordnungswidrigkeit begehen oder sich ersatzpflichtig machen würde, steht dem nicht entgegen. Denn die Kontrolle der Hauptversammlungsbeschlüsse auf ihre Gesetz- und Satzungsmäßigkeit hat das Gesetz allein in die Hände der Aktionäre als der Mitglieder des Beschlußorgans und des Gesamtvorstandes als Geschäftsführungsorgan gelegt, nicht aber den nicht an der Beschlußfassung beteiligten Mitgliedern von Vorstand und Aufsichtsrat überantwortet. Folgerichtig hat es diesen ein Anfechtungsrecht nur für den Fall zugebilligt, daß sie bei Ausführung des Hauptversammlungsbeschlusses in ihrer Organstellung in besonderer Weise berührt werden.
c) Das Vorliegen eines Rechtsschutzinteresses kann in Fällen der vorliegenden Art entgegen der Revisionserwiderung auch nicht auf die Fallgestaltung beschränkt werden, daß sich der Aufsichtsrat mehrheitlich weigert, einen nach § 147 Abs. 1 AktG gefaßten Beschluß der Hauptversammlung umzusetzen, nach dem Schadenersatzansprüche gegen ein Vorstandsmitglied geltend zu machen sind. Die Verpflichtung des Aufsichtsrates, das Bestehen von Schadenersatzansprüchen gegen ein Vorstandsmitglied zu prüfen und solche, soweit die Voraussetzungen dafür vorliegen, zu verfolgen, folgt aus seiner Funktion, die gesamte Geschäftsführung des Vorstandes – also auch abgeschlossene Geschäftsführungsmaßnahmen – zu kontrollieren (§ 111 Abs. 1 AktG) und die Gesellschaft nach § 112 AktG gegenüber Vorstandsmitgliedern gerichtlich und außergerichtlich zu vertreten (vgl. KK/Mertens aaO, § 111 Rn. 37; Geßler in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, AktG, § 112 Rn. 12; Wiesner in: Münchner Handbuch des Gesellschaftsrechts aaO, § 26 Rn. 24). Die Möglichkeit der Hauptversammlung, nach § 147 Abs. 1 AktG über die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gegenüber einem Vorstandsmitglied zu befinden, entbindet den Aufsichtsrat nicht von dieser eigenverantwortlichen Prüfung und Entscheidung, solange die Hauptversammlung von ihrem Recht noch keinen Gebrauch gemacht und die Verfolgung des Schadenersatzanspruches beschlossen oder in rechtswirksamer Weise (§ 93 Abs. 4 Satz 3 AktG) auf den Anspruch verzichtet hat. Das Recht des einzelnen Aufsichtsratsmitgliedes, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Aufsichtsrates einer gerichtlichen Überprüfung zu unterziehen, wird daher von der Möglichkeit der Beschlußfassung durch die Hauptversammlung nach § 147 Abs. 1 AktG nicht berührt.
2. Ein rechtliches Interesse der Kläger an der Feststellung der Nichtigkeit der Aufsichtsratsbeschlüsse ist nicht dadurch entfallen, daß die Beklagte, vertreten durch besondere Vertreter im Sinne des § 147 Abs. 3 AktG, Ende 1994 gegen ihre Vorstandsmitglieder Klage auf Leistung von Schadenersatz erhoben hat (LG Düsseldorf – 4 O 226/94). Denn diese setzen sich in den noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren mit dem Einwand zur Wehr, die der Klageerhebung zugrundeliegenden, nach § 147 Abs. 1 und 3 AktG gefaßten Hauptversammlungsbeschlüsse vom 26. Oktober 1994 und 10. Januar 1995 seien nichtig. Insoweit haben die Vorstandsmitglieder ferner Klage auf Feststellung der Nichtigkeit dieser Beschlüsse erhoben. Ist der Einwand berechtigt oder hat die Nichtigkeitsklage Erfolg, liegt weder ein wirksamer Beschluß nach § 147 Abs. 1 AktG vor noch sind die besonderen Vertreter gemäß § 147 Abs. 3 AktG wirksam bestellt worden. In diesem Falle wäre der Aufsichtsrat der Beklagten nach wie vor als ihr gesetzlicher Vertreter (§ 112 AktG) für die Geltendmachung der umstrittenen Schadenersatzansprüche zuständig. Er hätte die Möglichkeit, den Schadenersatzprozeß aufzunehmen und die Prozeßführung der besonderen Vertreter zu genehmigen. Für den Fall der Abweisung der Schadenersatzklage, die aus prozessualen Gründen zu erfolgen hätte, könnte der Aufsichtsrat erneut Klage auf Leistung von Schadenersatz gegen die Mitglieder des Vorstandes der Beklagten erheben. Dem steht der Gesichtspunkt einer möglichen Verjährung der Ansprüche nicht entgegen, weil die verklagten Vorstandsmitglieder Erklärungen über den Verzicht auf die Verjährungseinrede abgegeben haben. Unter diesen Umständen bleibt die Frage, ob die Beschlüsse vom 25. Juni 1992 und 15. Juni 1993 nichtig sind, für die Verfolgung der Schadenersatzansprüche gegen die Vorstandsmitglieder der Beklagten von entscheidender Bedeutung. Das Rechtsschutzinteresse an der begehrten Feststellung besteht daher fort.
II. Das Berufungsgericht hat jedoch die Klage zu Unrecht abgewiesen.
Nach den bisher getroffenen Feststellungen kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Aufsichtsrat der Beklagten zur Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gegen den Vorstandsvorsitzenden verpflichtet ist und die Aufsichtsratsbeschlüsse vom 25. Juni 1992 und 15. Juni 1993, mit denen das abgelehnt worden ist, daher nichtig sind.
1. Das Berufungsgericht billigt dem Aufsichtsrat zunächst bei der Prüfung der Erfolgsaussicht einer gerichtlichen Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder eine „Entscheidungsprärogative” zu, die seine Entscheidung wegen des in ihr enthaltenen prognostischen Elements einer gerichtlichen Überprüfung jedenfalls teilweise entziehe. Darüber hinaus soll dem Aufsichtsrat bei der Erfüllung seiner Aufgaben ein weiter Ermessensspielraum zustehen, der die gerichtliche Nachprüfbarkeit seiner allein dem Gesellschaftsinteresse verpflichteten Entscheidungen und damit auch derjenigen über die Inanspruchnahme eines Vorstandsmitglieds auf Ersatz eines der Gesellschaft zugefügten Schadens in ähnlicher Weise einschränkt wie die Regelung des § 114 VwGO im verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Diese Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle von Aufsichtsratsentscheidungen sei geboten, um die Arbeit des Aufsichtsrats, der nicht nur die Rechtmäßigkeit, sondern auch die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Leitungstätigkeit des Vorstandes zu überwachen habe, nicht in zu starkem Maße zu verrechtlichen und den Gesellschaftsorganen Spielräume für autonome unternehmerische Entscheidungen zu belassen. Eine Reduzierung dieses Ermessens auf Null und damit eine Pflicht zum Handeln könne nur in Ausnahmefällen angenommen werden, wenn etwa die Ablehnung der beantragten Handlungsweise des Aufsichtsrats eindeutig gesetzwidrig sei oder dem Unternehmen hierdurch erhebliche Nachteile, wie etwa eine Bestandsgefährdung, drohten. Eine solche Ermessensreduzierung auf Null sei im vorliegenden Fall auch ohne eine ins Detail gehende Bewertung und Gewichtung der einzelnen für und gegen die Inanspruchnahme des Vorstandsvorsitzenden der Beklagten sprechenden Gesichtspunkte zu verneinen. Eine Ermessensüberschreitung oder ein Ermessensfehlgebrauch sei weder von den Klägern dargetan noch sonst ersichtlich.
2. Diese Ausführungen des Berufungsgerichtes halten revisionsrechtlicher Prüfung nur teilweise stand.
a) Zutreffend geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, daß den Aufsichtsrat die Pflicht trifft, eigenverantwortlich das Bestehen von Schadenersatzansprüchen der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern aus ihrer organschaftlichen Tätigkeit zu prüfen und, soweit die gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorliegen, solche unter Beachtung des Gesetzes- und Satzungsrechtes und der von ihm vorgegebenen Maßstäbe zu verfolgen. Diese Verpflichtung ergibt sich einmal aus der Aufgabe des Aufsichtsrates, die Geschäftsführung des Vorstandes zu überwachen (§ 111 Abs. 1 AktG), wovon auch abgeschlossene Geschäftsvorgänge erfaßt werden (BGHZ 114, 127, 129), zum anderen daraus, daß der Aufsichtsrat die Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern gerichtlich und außergerichtlich vertritt (§ 112 AktG). Sie besteht entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung unabhängig davon, daß die Hauptversammlung nach dem Gesetz die Möglichkeit hat, von sich aus eine Rechtsverfolgung zu beschließen. Dieses der Hauptversammlung eingeräumte Recht dient allein dem Schutz der Aktionäre. Es befreit den Aufsichtsrat nicht von seiner Pflicht, im Rahmen seines gesetzlichen Aufgabenkreises die Interessen der Gesellschaft in eigener Verantwortung sachgemäß wahrzunehmen und Bestehen und Durchsetzbarkeit des Schadenersatzanspruchs zu prüfen sowie eine eigenständige Entscheidung über die gerichtliche Geltendmachung zu treffen. Erst wenn die Hauptversammlung beschließt, den Schadenersatzanspruch zu verfolgen, muß der Aufsichtsrat nach der eindeutigen Regelung des § 147 Abs. 1 AktG diesen Beschluß umsetzen und die erforderlichen Maßnahmen zur Durchsetzung der Ansprüche ergreifen.
b) Die Maßstäbe, an denen der Aufsichtsrat seine Prüfung und Entscheidung auszurichten hat, sind jedoch nach der Entscheidung des Berufungsgerichtes nicht eindeutig bestimmt oder unzutreffend.
aa) Die Entscheidung des Aufsichtsrats, ob ein Vorstandsmitglied wegen Verletzung seiner Geschäftsführungspflichten auf Schadenersatz in Anspruch genommen werden soll, erfordert zunächst die Feststellung des zum Schadenersatz verpflichtenden Tatbestandes in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht sowie eine Analyse des Prozeßrisikos und der Beitreibbarkeit der Forderung. Bei seiner Beurteilung, ob der festgestellte Sachverhalt den Vorwurf eines schuldhaft pflichtwidrigen Vorstandsverhaltens rechtfertigt, hat der Aufsichtsrat zu berücksichtigen, daß dem Vorstand bei der Leitung der Geschäfte des Gesellschaftsunternehmens ein weiter Handlungsspielraum zugebilligt werden muß, ohne den eine unternehmerische Tätigkeit schlechterdings nicht denkbar ist. Dazu gehört neben dem bewußten Eingehen geschäftlicher Risiken grundsätzlich auch die Gefahr von Fehlbeurteilungen und Fehleinschätzungen, der jeder Unternehmensleiter, mag er auch noch so verantwortungsbewußt handeln, ausgesetzt ist. Gewinnt der Aufsichtsrat den Eindruck, daß dem Vorstand das nötige Gespür für eine erfolgreiche Führung des Unternehmens fehlt, er also keine „glückliche Hand” bei der Wahrnehmung seiner Leitungsaufgabe hat, kann ihm das Veranlassung geben, auf dessen Ablösung hinzuwirken. Eine Schadenersatzpflicht des Vorstandes kann daraus nicht hergeleitet werden. Diese kann erst in Betracht kommen, wenn die Grenzen, in denen sich ein von Verantwortungsbewußtsein getragenes, ausschließlich am Unternehmenswohl orientiertes, auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhendes unternehmerisches Handeln bewegen muß, deutlich überschritten sind, die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, in unverantwortlicher Weise überspannt worden ist oder das Verhalten des Vorstands aus anderen Gründen als pflichtwidrig gelten muß.
bb) Eine „Entscheidungsprärogative”, die zur Beschränkung der gerichtlichen Nachprüfbarkeit führt, kann der Aufsichtsrat für diesen Teil seiner Entscheidung entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht in Anspruch nehmen. Bei der Prüfung des Bestehens und der Durchsetzbarkeit eines Schadenersatzanspruchs steht dem Aufsichtsrat keine andere Aufgabe zu als jedem anderen, der in eigener oder fremder Sache ein Urteil über das Bestehen eines Anspruchs und die Aussichten einer gerichtlichen Geltendmachung desselben abzugeben hat. Die Haltbarkeit und Richtigkeit seiner Beurteilung der Erfolgsaussichten einer gerichtlichen Anspruchsverfolgung sind im Streitfall vor Gericht grundsätzlich voll nachprüfbar, da es bis hierher nicht um Fragen des Handlungs-, sondern allein des Erkenntnisbereichs geht, für die allenfalls die Zubilligung eines begrenzten Beurteilungsspielraums in Betracht kommen kann. Die Frage eines Handlungsermessens kann sich nur dort stellen, wo eine Entscheidung zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten zu treffen ist.
cc) Führt eine solche sorgfältig und sachgerecht von dem Aufsichtsrat vorgenommene Prozeßrisikoanalyse zu dem Ergebnis, daß der Gesellschaft voraussichtlich – Gewißheit kann nach Lage der Dinge insoweit nicht verlangt werden – Schadenersatzansprüche gegen eines ihrer Vorstandsmitglieder zustehen, kann sich, wovon auch das Berufungsgericht im Ansatz zutreffend ausgeht, auf der nächsten Stufe die Frage stellen, ob der Aufsichtsrat gleichwohl von einer Verfolgung des Anspruchs und damit einer Wiedergutmachung des der Gesellschaft zugefügten Schadens absehen kann.
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts steht dem Aufsichtsrat auch bei dieser Entscheidung kein autonomer unternehmerischer Ermessensspielraum zu. Die unternehmerische Handlungsfreiheit ist Teil und notwendiges Gegenstück der dem Vorstand und nicht dem Aufsichtsrat obliegenden Führungsaufgabe. An ihr hat der Aufsichtsrat nur insoweit Anteil, wie das Gesetz auch ihm unternehmerische Aufgaben überträgt, wie z.B. bei der Bestellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern oder im Rahmen des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG, d.h. überhaupt überall dort, wo er die unternehmerische Tätigkeit des Vorstands im Sinne einer präventiven Kontrolle begleitend mitgestaltet. Die Entscheidung über die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder ist dagegen Teil seiner nachträglichen Überwachungstätigkeit, deren Ziel darauf gerichtet ist, den Vorstand zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und Schäden von der Gesellschaft abzuwenden (so zutreffend insbesondere Raiser, NJW 1996, 552, 554). Bei dieser Kontrolltätigkeit hat der Aufsichtsrat zwar die dem Vorstand zustehende unternehmerische Handlungsfreiheit (oben aa) im Rahmen seiner Prüfung des Vorliegens eines pflichtwidrigen Vorstandshandelns zu berücksichtigen. Für seine eigene Entscheidung kann der Aufsichtsrat aber ein unternehmerisches Ermessen in dem vom Berufungsgericht angenommenen Sinne nicht in Anspruch nehmen. Da diese Entscheidung allein dem Unternehmenswohl verpflichtet ist, das grundsätzlich die Wiederherstellung des geschädigten Gesellschaftsvermögens verlangt, wird der Aufsichtsrat von der Geltendmachung voraussichtlich begründeter Schadenersatzansprüche gegen einen pflichtwidrig handelnden Vorstand nur dann ausnahmsweise absehen dürfen, wenn gewichtige Interessen und Belange der Gesellschaft dafür sprechen, den ihr entstandenen Schaden ersatzlos hinzunehmen. Diese Voraussetzung wird im allgemeinen nur dann erfüllt sein, wenn die Gesellschaftsinteressen und – belange, die es geraten erscheinen lassen, keinen Ersatz des der Gesellschaft durch den Vorstand zugefügten Schadens zu verlangen, die Gesichtspunkte, die für eine Rechtsverfolgung sprechen, überwiegen oder ihnen zumindest annähernd gleichwertig sind. In diesem Zusammenhang können die von dem Berufungsgericht hervorgehobenen Gesichtspunkte, wie negative Auswirkungen auf Geschäftstätigkeit und Ansehen der Gesellschaft in der Öffentlichkeit, Behinderung der Vorstandsarbeit und Beeinträchtigung des Betriebsklimas, durchaus Bedeutung erlangen. Hingegen wird der Aufsichtsrat anderen Gesichtspunkten als denen des Unternehmenswohls, wie etwa der Schonung eines verdienten Vorstandsmitglieds oder dem Ausmaß der mit der Beitreibung für das Mitglied und seine Familie verbundenen sozialen Konsequenzen, nur in Ausnahmefällen Raum geben dürfen. Ein solcher Ausnahmefall kann z.B. dann in Betracht kommen, wenn auf der einen Seite das pflichtwidrige Verhalten nicht allzu schwerwiegend und die der Gesellschaft zugefügten Schäden verhältnismäßig gering sind, auf der anderen Seite jedoch einschneidende Folgen für das ersatzpflichtig gewordene Vorstandsmitglied drohen.
c) Die vorstehenden Überlegungen führen zu der Schlußfolgerung, daß die Verfolgung der Schadenersatzansprüche gegenüber einem Vorstandsmitglied die Regel sein muß. Hingegen bedarf es gewichtiger Gegengründe und einer besonderen Rechtfertigung, von einer – voraussichtlich – aussichtsreichen Anspruchsverfolgung, die einem Anspruchsverzicht der Gesellschaft außerordentlich nahe kommt, abzusehen; sie muß die Ausnahme darstellen (Jaeger, WiB 1997, 10, 15; Thomas Raiser, NJW 1996, 552, 554). Das Landgericht (ZIP 1994, 628, 630) hat zu Recht in diesem Zusammenhang auf die Beschränkungen hingewiesen, denen der Verzicht auf einen Schadenersatzanspruch nach der gesetzlichen Regelung unterliegt (§ 93 Abs. 4 Satz 3 AktG).
Nur in diesen engen Grenzen kann dem Aufsichtsrat – insoweit dem Berufungsgericht folgend – ein Entscheidungsermessen für die Frage zuzubilligen sein, ob er trotz Erfolgsaussicht einer Haftungsklage aus übergeordneten Gründen des Unternehmenswohles ausnahmsweise von der Durchsetzung des Schadenersatzanspruchs absehen möchte. Dieses Ermessen des Aufsichtsrates kann aber erst dann einsetzen, wenn die gegeneinander abzuwägenden Umstände festgestellt worden sind.
III. Das Berufungsgericht hat aufgrund seines abweichenden rechtlichen Standpunktes keine Feststellungen dazu getroffen, ob ein Schadenersatzanspruch gegen den Vorstandsvorsitzenden der Beklagten besteht, dessen Beitreibung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Ferner fehlen Feststellungen dazu, ob gewichtige Gründe des Unternehmenswohls vorliegen, die dem Aufsichtsrat eine Ermessensentscheidung darüber eröffnen, ob er ausnahmsweise von der Geltendmachung der Schadenersatzansprüche absehen will. Es hat auch darauf verzichtet, eine ins einzelne gehende Bewertung und Gewichtung der für und gegen eine Inanspruchnahme des Vorstandsvorsitzenden sprechenden Gesichtspunkte vorzunehmen. Die Sache ist deshalb unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Prüfung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Fundstellen
BGHZ, 244 |
NJW 1997, 1926 |
NWB 1997, 1449 |
ZIP 1997, 883 |
JZ 1997, 1071 |
MDR 1997, 663 |