Leitsatz (amtlich)
Besteht die Möglichkeit, eine Operation durch eine konservative Behandlung zu vermeiden und ist die Operation deshalb nur relativ indiziert, so muß der Patient hierüber aufgeklärt werden.
Normenkette
BGB § 823
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 25. Januar 1999 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung der Klägerin gegen die Abweisung ihrer gegen die Beklagten zu 1, 2 und 3 gerichteten Klage zurückgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision mit Ausnahme der den Beklagten zu 4 – 6 in der Revisionsinstanz entstandenen außergerichtlichen Kosten, die der Klägerin auferlegt werden, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin nimmt die Beklagten (nunmehr nur noch zu Ziff. 1-3) wegen ärztlicher Fehler auf Schadensersatz in Anspruch. Nachdem sie schon seit Jahren unter Schmerzen im Bereich der unteren Lendenwirbelsäule gelitten hatte, verspürte sie ab 3. November 1990 eine extreme Zunahme der Schmerzen im Rücken mit Ausstrahlung ins rechte Bein und begab sich deshalb am 11. November 1990 in die neurologische Abteilung des Krankenhauses B.. Die dortige Diagnose lautete u.a. auf Bandscheibenprolaps L 5/S 1 rechtsseitig mit radikulärer Läsion S 1 rechts. Die Klägerin wurde stationär aufgenommen und eine Woche lang in parenteraler Therapie mit Opioiden konservativ behandelt. Hierbei kam es zu einer Besserung dahingehend, daß sie in Ruhe beschwerdefrei war, jedoch schon bei geringster Belastung oder Bewegung eine starke radikuläre Schmerzsymptomatik hatte. Deshalb hielten die Neurologen des Krankenhauses B. ein operatives Vorgehen für sinnvoll, zumal sich die konservative Therapie wegen eines zusätzlichen Leidens der Klägerin als schwierig erwies, und überwiesen die Klägerin mit ihrem Einverständnis in die neurochirurgische Klinik der Beklagten zu 1. Dort wurde sie nach weiteren Untersuchungen am 22. November 1990 durch die Beklagten zu 2 und 3 operiert, wobei eine Teilhemilaminektomie (Teilresektion eines Wirbelbogens) erfolgte. Die weiterhin bestehende Schmerzsymptomatik wurde auch durch eine Revisionsoperation am 30. November 1990 nicht beseitigt.
Die Klägerin, die den in den Tatsacheninstanzen erhobenen Vorwurf von Behandlungsfehlern nicht mehr aufrecht erhält, macht weiterhin geltend, die erste Operation sei nicht indiziert gewesen, weil die Möglichkeit einer Fortsetzung der konservativen Behandlung bestanden habe. Hierüber sei sie nicht aufgeklärt worden. Sie hat Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes von mindestens 100.000 DM sowie die Feststellung beantragt, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet seien, vorbehaltlich eines Anspruchübergangs auf Sozialversicherungsträger ihren materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin blieb ohne Erfolg. Mit der Revision verfolgt sie ihr Klageziel weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht hat – sachverständig beraten – Ansprüche der Klägerin gemäß §§ 823 Abs. 1, 847 BGB bzw. wegen Schlechterfüllung des Behandlungsvertrages verneint. Die Beweisaufnahme habe keine Behandlungsfehler ergeben. Da die Klägerin unter einem rechtslateralen Bandscheibenprolaps in Höhe von L 5/S 1 bei akuter Schmerzsymptomatik gelitten habe und nicht nur, wie sie jetzt meine, unter einem Wurzelreizsyndrom, sei die Operation indiziert gewesen, nachdem die – wenn auch nur eine Woche andauernde – konservative Behandlung ergebnislos gewesen sei und operative Alternativen wegen des Krankheitsbildes der Klägerin nicht in Betracht gekommen seien.
Die Klägerin habe nach umfassender und sachgerechter Aufklärung wirksam in die Operation eingewilligt, wobei ihr die Risiken der Operation sowie Art, Schwere und Ausmaß der Komplikationen in genügendem Umfang erläutert worden seien.
II.
Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
1. Mit Erfolg bekämpft die Revision die Auffassung des Berufungsgerichts, die Klägerin sei umfassend und sachgerecht aufgeklärt worden. Demgegenüber macht die Revision geltend, daß die Klägerin nicht über die Möglichkeit einer Fortsetzung der konservativen Behandlung und somit nicht darüber aufgeklärt worden sei, daß eine nur relative Indikation vorgelegen habe. Während das Berufungsgericht ersichtlich eine absolute Indikation zur Operation angenommen hat, rügt die Revision, das Berufungsgericht habe sich nicht mit einem von der Klägerin im zweiten Rechtszug vorgelegten Lehrbuch der Chirurgie von S. aus dem Jahr 1998 auseinandergesetzt, das bei einem Krankheitsbild wie dem der Klägerin erst dann eine Indikation zur Operation bejahe, wenn eine konservative Behandlung über mehrere Wochen hin erfolglos geblieben sei, und das deshalb in Widerspruch zur Auffassung des gerichtlichen Sachverständigen stehe. Damit spricht die Revision den Grundsatz an, daß das Gericht im Arzthaftungsprozeß die Einwendungen der Parteien gegen ein Sachverständigengutachten ernstzunehmen und die von ihnen vorgelegte einschlägige Fachliteratur in die gebotene kritische Würdigung des gerichtlichen Sachverständigengutachtens einzubeziehen hat (Senatsurteile vom 2. Juni 1987 – VI ZR 174/86 – VersR 1987, 1238; vom 2. März 1993 – VI ZR 104/92 – VersR 1993, 749 und vom 10. Mai 1994 – VI ZR 192/93 – VersR 1994, 984).
Indessen ist im Streitfall zweifelhaft, ob der von der Revision angenommene Widerspruch tatsächlich besteht, weil der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. B. jedenfalls bei seiner Anhörung vor dem Berufungsgericht seine Auffassung zur Indikation deutlich modifiziert und mehrfach ausdrücklich von einer nur relativen Indikation gesprochen hat. Nachdem er in seinem schriftlichen Gutachten zunächst ohne weitere Differenzierung eine Indikation zur Operation bejaht hatte, hat die Klägerin mit der Berufung geltend gemacht, daß eine Indikation erst nach längerer ergebnisloser konservativer Behandlung angenommen werden könne. Hierauf ist der Sachverständige mündlich angehört worden und hat sich dabei ausweislich des Berichterstattervermerks eingehend mit der Frage der Indikation befaßt. Dazu hat er ausgeführt, daß es auf die jeweilige Symptomatik ankomme. Bei einer ausgeprägten Symptomatik werde man auch ohne konservative Therapie relativ rasch operieren. Es gebe auch mittelfristige zeitliche Situationen, bei denen die Schmerzsymptomatik leitend werden könne. Eine dritte Situation sei die, daß ein Beschwerdebild über einen langen Zeitraum bestehe. Es handele sich dann um eine relative Indikation. Eine solche sei vorliegend gegeben gewesen. Anschließend hat er nochmals bekräftigt, daß der Inhalt des Arztbriefs der Klinik B. vom 19. November 1990 für ihn zur Annahme einer relativen Indikation ausreichend sei.
Dieser Beurteilung der Indikation durch den medizinischen Sachverständigen als nur relativ hätte das Berufungsgericht Beachtung schenken müssen. Seine Auffassung, daß die Operation im Streitfall absolut indiziert gewesen sei, „wobei ein ausgeprägtes Schmerzsyndrom sogar leitend werden” könne, findet in den mündlichen Ausführungen des Sachverständigen keine Stütze (§ 286 ZPO). Das Berufungsgericht hat nämlich nicht hinreichend zwischen den vom Sachverständigen dargestellten Abstufungen der Indikation unterschieden und insbesondere verkannt, daß der Sachverständige bei der Klägerin kein zu einer sofortigen Operation nötigendes, d.h. „leitendes” Schmerzsyndrom im Sinn der zweiten Abstufung angenommen hat, sondern ausdrücklich nur die dritte Kategorie als eine nur relative Indikation bejaht hat. Zum Verständnis dieses Begriffs hätte das Berufungsgericht den Sachverständigen näher befragen und im Hinblick auf das Berufungsvorbringen der Klägerin klarstellen müssen, ob er hiermit zum Ausdruck bringen wolle, daß als Alternative zur Operation eine länger andauernde Fortsetzung der konservativen Behandlung in Betracht gekommen und erst bei deren Erfolglosigkeit eine Operation absolut indiziert gewesen wäre. Jedenfalls durfte das Berufungsgericht angesichts der deutlichen Einschränkung des Sachverständigen bei seiner Anhörung gegenüber der schriftlichen Begutachtung ohne weitere Sachaufklärung keine Indikation zur sofortigen Operation annehmen. Insoweit war auch zu berücksichtigen, daß nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts die einwöchige konservative Therapie immerhin zu einer Besserung des Beschwerdebildes – wenn auch nur im Ruhezustand – geführt hatte; zum anderen konnte sich die Frage stellen, ob eine Fortsetzung der konservativen, mit der Verabreichung von Medikamenten verbundenen Therapie im Hinblick auf den sonstigen Gesundheitszustand der Klägerin sinnvoll und überhaupt möglich war.
2. Sollte sich zur Indikation die Auffassung der Klägerin bestätigen, könnten die Grundsätze eingreifen, die der erkennende Senat in den Urteilen vom 7. April 1992 – VI ZR 216/91 – VersR 1992, 747, vom 14. Januar 1997 – VI ZR 30/96 – VersR 1997, 451 und vom 17. Februar 1998 – VI ZR 42/97 – VersR 1998, 716 für die Aufklärung bei einer nur relativen Indikation zur Operation aufgestellt hat. Dem liegt das Gebot zugrunde, daß der Patient aufgeklärt werden muß, wenn es mehrere medizinisch indizierte und übliche Behandlungsmethoden gibt, die unterschiedliche Risiken oder Erfolgschancen haben. Dies muß auch dann gelten, wenn eine Operation durch eine konservative Behandlung vermieden werden kann oder erst nach deren erfolgloser Vorschaltung indiziert ist. Auch in einem solchen Fall besteht nämlich eine echte Wahlmöglichkeit für den Patienten, so daß dieser nach der ständigen Rechtsprechung des Senats zur Wahrung seines Selbstbestimmungsrechts durch die gebotene vollständige ärztliche Belehrung in die Lage versetzt werden muß, eigenständig zu entscheiden, auf welchem Weg die Behandlung erfolgen soll und in welchem Zeitpunkt er sich auf welches Risiko einlassen will (Senatsurteile vom 14. Februar 1989 – VI ZR 65/88 – VersR 1989, 514, 515 sowie vom 14. Januar 1997 und 17. Februar 1998 (jeweils aaO). Dieser Grundsatz gilt nicht nur bei in den Senatsurteilen vom 7. April 1992, 14. Januar 1997 und 17. Februar 1998 (jeweils aaO) erörterten Fällen gynäkologischer Operationen zur Krebsbekämpfung bzw. -vorsorge, bei denen die Indikation nur relativ ist, weil sie vom jeweiligen Sicherheitsbedürfnis der Patientin abhängt, sondern muß auch in solchen Fällen Anwendung finden, in denen wie im Streitfall möglicherweise eine konservative Behandlung als Alternative medizinisch zur Wahl steht (Senatsurteil vom 24. November 1987 – VI ZR 65/87 – VersR 1988, 190, 191). Kam, wie das Berufungsgericht noch zu klären hat, anstelle der Operation jedenfalls zunächst alternativ eine Fortsetzung der konservativen Behandlung in Frage (vgl. zu einem ähnlichen Sachverhalt OLG Hamm, VersR 1993, 102, 103 mit Nichtannahmebeschluß des erkennenden Senats vom 29. September 1992 – VI ZR 40/92 –), so mußte die Klägerin vor der Operation hierüber aufgeklärt werden. Ob auch in dieser Richtung eine Aufklärung erfolgt ist, hat das Berufungsgericht – von seinem der Sache nach eine absolute Indikation bejahenden Standpunkt aus folgerichtig – nicht festgestellt. Sollte die weitere Sachaufklärung zur Bejahung einer nur relativen Indikation in dem oben dargelegten Sinne führen, wird das Berufungsgericht mithin auch unter diesem Blickpunkt zu prüfen haben, ob die der Klägerin erteilte Aufklärung zur Rechtfertigung des Eingriffs ausreicht.
Unterschriften
Groß, Dr. Lepa, Dr. Müller, Dr. Dressler, Dr. Greiner
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 22.02.2000 durch Böhringer-Mangold, Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 556312 |
NJW 2000, 1788 |
EBE/BGH 2000, 122 |
Nachschlagewerk BGH |
ZAP 2000, 883 |
MDR 2000, 700 |
VersR 2000, 766 |
ZfS 2000, 285 |
KHuR 2001, 67 |