Leitsatz (amtlich)

Zu den Voraussetzungen, unter denen ein Sozialversicherungsträger als Nachfrager von orthopädischen Hilfsmitteln Normadressat des § 26 Abs. 2 Satz 2 GWB ist.

 

Normenkette

GWB § 26 Abs. 2 S. 2

 

Verfahrensgang

OLG Düsseldorf (Urteil vom 23.03.1993)

LG Düsseldorf

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Kartellsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 23. März 1993 aufgehoben, soweit die Beklagte zur Zahlung von 267,34 DM nebst Zinsen verurteilt worden ist. In diesem Umfang wird der Rechtsstreit zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Die Beklagte ist Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung. Wenn die Versicherten orthopädische Hilfsmittel benötigen, schließt sie mit den Orthopädie-Schuhmachern, die von den Versicherten ausgewählt wurden, entsprechende Werkverträge ab. Die Beklagte verlangt von den Orthopädie-Schuhmachern, daß sie das fertiggestellte Schuhwerk bei einer orthopädischen Versorgungsstelle abnehmen lassen.

Die Klägerin, deren Inhaber Orthopädie-Schuhmacher ist, hat ihren Betriebssitz in H.. Die für sie nächstgelegene orthopädische Versorgungsstelle befindet sich in S.. Diese weigert sich, mit der Post eingesandtes Schuhwerk abzunehmen und anschließend zurückzusenden. In einem Fall, in dem sie von der Beklagten mit der Anfertigung orthopädischer Schuhe beauftragt worden war, hat die Klägerin die Kosten der Fahrt von H. zur orthopädischen Versorgungsstelle in Soest in Rechnung gestellt. Das Amtsgericht Wuppertal hat die Beklagte verurteilt, diese Kosten zu erstatten. Seitdem lehnt die Beklagte es ab, weitere Werkverträge mit der Klägerin abzuschließen.

Die Klägerin ist der Ansicht, sie werde durch das Verhalten der Beklagten, die zusammen mit den anderen Sozialversicherungsträgern marktbeherrschend sei, unbillig behindert und gegenüber anderen Orthopädie-Schuhmachern ohne sachlich gerechtfertigten Grund unterschiedlich behandelt.

Das Verhalten der Beklagten habe dazu geführt, daß der Klägerin zwei Aufträge entgangen seien. Die Beklagte sei verpflichtet, den dadurch entstandenen Schaden zu ersetzen.

Die Klägerin hat beantragt,

festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, mit der Klägerin Werkverträge zur Herstellung orthopädischer Hilfsmittel abzuschließen, falls Versicherungsnehmer der Beklagten die Klägerin als Herstellerin ihrer Hilfsmittel wählen, auch wenn die Klägerin für die Abnahme der Schuhe unmittelbar nach Herstellung Fahrtkosten für die Fahrt zur orthopädischen Versorgungsstelle berechnet.

Die Klägerin hat weiter beantragt,

die Beklagte zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von insgesamt 267,34 DM nebst Zinsen zu verurteilen.

Die Beklagte hat demgegenüber geltend gemacht, sie könne Fahrtkosten zur orthopädischen Versorgungsstelle nicht erstatten, weil sie zur Einhaltung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit verpflichtet sei. Der – für die Klägerin allerdings unstreitig nicht verbindliche – Rahmenvertrag „Orthopädie-Schuhtechnik Nordrhein-Westfalen” zwischen den örtlich zuständigen Sozialversicherungsträgern und den Innungsverbänden für Orthopädie-Schuhtechnik sehe für die Herstellung von orthopädischem Schuhwerk Höchstpreise vor. In diesen seien die Kosten für die Fahrt zur orthopädischen Versorgungsstelle enthalten. Davon gingen auch die Mitbewerber der Klägerin aus. Bei dieser Sachlage könne die Beklagte nicht mit der Klägerin Werkverträge zu deren höheren Preisen abschließen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht den Klageanträgen stattgegeben. Mit ihrer zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

 

Entscheidungsgründe

I. Soweit sich die Revision dagegen wendet, daß das Berufungsgericht dem Feststellungsantrag der Klägerin stattgegeben hat, bleibt sie ohne Erfolg.

1. Das Berufungsgericht hat entschieden, daß die Beklagte verpflichtet ist, mit der Klägerin Werkverträge über die Herstellung orthopädischen Schuhwerks abzuschließen, falls diese von den Versicherten als Herstellerin ausgewählt wurde, selbst wenn sie die notwendigen Auslagen für die Vorstellung der Schuhe bei der orthopädischen Versorgungsstelle mit in Rechnung stellt.

Das Berufungsgericht hat dazu ausgeführt, die Beklagte sei Normadressatin des § 26 Abs. 2 GWB. Sie sei als marktbeherrschendes Unternehmen im Sinne des § 22 Abs. 1 Nr. 1 GWB anzusehen, weil unter den verschiedenen Sozialversicherungsträgern, die als Auftraggeber für orthopädische Leistungen in Frage kämen, kein Wettbewerb herrsche. Die von der Klägerin hergestellten Produkte würden unstreitig zu 80 % von Sozialversicherungsträgern nachgefragt.

Ob die Beklagte anderen Schuhmachern eine Vergütung für die Vorstellung orthopädischer Schuhe bei der Versorgungsstelle bezahle, wie die Klägerin behaupte, könne offenbleiben. Denn auch dann, wenn die Beklagte durchweg verlange, daß das Schuhwerk kostenlos vorgestellt werde, behindere sie dadurch die Klägerin unbillig im Sinne des § 26 Abs. 2 GWB. Im Vergleich zu den am Ort der orthopädischen Versorgungsstellen ansässigen Schuhmachern müsse die Klägerin höhere Kosten für die geforderte Abnahme aufwenden. In dem vom Amtsgericht Wuppertal entschiedenen Fall seien dies 103,36 DM gewesen. Kosten in dieser Höhe könnten den Gewinn, der beispielsweise in einem Fall bei einem Paar orthopädischer Schnürstiefel 117,34 DM betragen hätte, nahezu aufzehren.

Die Forderung, daß der Orthopädie-Schuhmacher das angefertigte Schuhwerk kostenlos zur Versorgungsstelle bringe, sei unbillig, weil damit etwas Überflüssiges verlangt werde. Wenn die Abnahme eine Anprobe durch den Versicherten voraussetze, könne dieser die Schuhe selbst zur orthopädischen Versorgungsstelle bringen. Die Beklagte habe nicht dargelegt, warum auch der Orthopädie-Schuhmacher bei der Abnahme anwesend sein müsse. Falls eine Anprobe nicht notwendig sei, müsse die Beklagte eine postalische Abwicklung ermöglichen, wenn sie die Fahrtkosten für die Vorstellung der Schuhe nicht erstatten wolle.

Gegen diese Beurteilung wendet sich die Revision ohne Erfolg.

2. Der Feststellungsantrag ist – wie das Berufungsgericht im Ergebnis zutreffend entschieden hat – begründet, weil die Beklagte als relativ marktstarkes Unternehmen die Klägerin unbillig behindert, wenn sie mit ihr deshalb keine Werkverträge über die Herstellung von orthopädischem Schuhwerk abschließt, weil die Klägerin auch die notwendigen Auslagen für die Vorstellung des Schuhwerks bei der orthopädischen Versorgungsstelle in Rechnung stellt.

a) Das Berufungsgericht ist zutreffend – und von der Revision unbeanstandet – davon ausgegangen, daß die Beklagte, auch wenn sie eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, als Unternehmen im Sinne des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen handelt, wenn es um die Nachfrage nach Versorgungsleistungen für den bei ihr versicherten Personenkreis geht (BGHZ 114, 218, 230 – Einzelkostenerstattung; BGH, Urt. v. 8.5.1990 – KZR 21/89, WuW/E 2665, 2666 – Physikalischtherapeutische Behandlung).

b) Die Beklagte ist auch – wie das Berufungsgericht im Ergebnis zu Recht angenommen hat – Normadressatin des § 26 Abs. 2 GWB.

Die Beklagte ist allerdings entgegen der Annahme des Berufungsgerichts schon deshalb nicht marktbeherrschend im Sinne des § 22 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 GWB, weil sie nicht – wie diese Vorschriften voraussetzen – als einzelnes Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung einnimmt.

Das Berufungsgericht hat – von seinem Standpunkt aus folgerichtig – nicht geprüft, ob die Beklagte gemeinsam mit den anderen Sozialversicherungsträgern auf dem hier relevanten Markt ein Oligopol im Sinne des § 22 Abs. 2 GWB bildet und als Mitglied dieses Oligopols von der Klägerin nach § 26 Abs. 2 Satz 1 GWB in Anspruch genommen werden kann (vgl. dazu BGHZ 96, 337, 345 f. – Abwehrblatt II; 101, 72, 79 – Krankentransporte; Markert in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl., § 26 Rdn. 78; Bechtold, GWB, § 26 Rdn. 13, jeweils m.w.N.). Die Frage kann aber offenbleiben, weil die Beklagte jedenfalls Normadressatin des § 26 Abs. 2 Satz 2 GWB ist.

Die Klägerin ist auf dem relevanten Markt, dem Markt für orthopädisches Schuhwerk in Hamm und Umgebung, von der Beklagten im Sinne des § 26 Abs. 2 Satz 2 GWB abhängig. Dabei kommt es nicht entscheidend darauf an, wie hoch der Marktanteil der Beklagten als Nachfragerin nach orthopädischem Schuhwerk ist, weil die Klägerin jedenfalls keine ausreichenden und zumutbaren Ausweichmöglichkeiten auf andere Unternehmen als Nachfrager hat.

Die Nachfrage nach orthopädischem Schuhwerk geht nur von den Sozialversicherungsträgern, die insoweit als Unternehmen im Sinne des § 26 Abs. 2 GWB handeln, und von Privatpersonen aus. Letztere bleiben jedoch nach dem klaren Wortlaut des § 26 Abs. 2 Satz 2 GWB außer Betracht, soweit es um die Ausweichmöglichkeiten des behinderten oder diskriminierten Unternehmens geht (vgl. Markert in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl., § 26 Rdn. 132).

Von den Sozialversicherungsträgern, die etwa 80 % der von ihr hergestellten Produkte nachfragen, ist die Klägerin insgesamt abhängig. Aus den Feststellungen des Berufungsgerichts und dem unstreitigen Sachverhalt ergibt sich, daß die Klägerin bei Behinderung oder Diskriminierung durch einen der Sozialversicherungsträger nicht in zumutbarer Weise auf einen anderen als Nachfrager ausweichen kann. Unter den Sozialversicherungsträgern, die der Klägerin auf dem relevanten Markt gegenüberstehen, herrscht nach den Feststellungen des Berufungsgerichts kein Wettbewerb. Für eine große Zahl der Sozialversicherungsträger, insbesondere die zuständigen Landesverbände der AOK und der gewerblichen Berufsgenossenschaften, wenn auch nicht die Ersatzkassen, ist bei der Nachfrage nach orthopädischen Heil- und Hilfsmitteln der mit den zuständigen Innungsverbänden für Orthopädie-Schuhtechnik geschlossene Rahmenvertrag maßgebend. Nach diesem richtet sich unstreitig die übliche Vergütung.

Dazu kommt, daß die Klägerin, auch soweit es darum geht, von ihrem jeweiligen Vertragspartner die Kosten der Vorstellung gefertigten Schuhwerks zu verlangen, nicht in ausreichender Weise auf Vertragspartner, die diese zu zahlen bereit sind, ausweichen kann. Nach dem eigenen Vorbringen der Beklagten ist es einhellige Auffassung der Vertragsparteien des Rahmenvertrags und deren Verbandsmitglieder, daß für die Vorstellung orthopädischen Schuhwerks bei der Versorgungsstelle über die vereinbarten Listenpreise hinaus keine Vergütung gefordert werden dürfe. Zwar verlangen die gesetzlichen Krankenkassen nicht, daß die Orthopädie-Schuhmacher selbst das Schuhwerk bei den Versorgungsstellen abnehmen lassen, so daß sich insoweit die Vergütungsfrage nicht stellt. Die übrigen Sozialversicherungsträger verfahren aber nach dem eigenen Vorbringen der Beklagten einhellig so, daß sie Vorstellungskosten nicht vergüten. Die Klägerin selbst hat zwar zuletzt vorgetragen, daß sich gegen Ende 1992 eine Entwicklung dahingehend ergeben habe, daß Sozialversicherungsträger immer häufiger die Vorstellungskosten übernähmen, offiziell werde aber erklärt, daß über die Frage einer zusätzlichen Vergütung noch verhandelt werden müsse. Von einer ausreichenden Ausweichmöglichkeit der Klägerin auf andere Sozialversicherungsträger als die Beklagte, bei denen die Klägerin nicht mit dem Verhalten rechnen müßte, das sie bei der Beklagten beanstandet, kann daher auch nach dem Vorbringen der Klägerin keine Rede sein.

c) Die Beklagte behindert die Klägerin bei der Nachfrage nach orthopädischem Schuhwerk – einem Geschäftsverkehr der gleichartigen Unternehmen üblicherweise zugänglich ist – in unbilliger Weise, wenn sie sich weigert, ihr Aufträge für die Fertigung orthopädischen Schuhwerks zu erteilen, solange die Klägerin für dessen Vorstellung bei der Versorgungsstelle eine Vergütung verlangt. Sie trifft deshalb – als Ausfluß der in § 35 GWB aufgestellten Unterlassungspflicht – eine Verpflichtung, mit der Klägerin zu kontrahieren, falls Versicherte die Klägerin als Hersteller von orthopädischen Hilfsmitteln wählen. Dies hat das Berufungsgericht zutreffend entschieden.

Auch ein Normadressat des § 26 Abs. 2 Satz 2 GWB ist allerdings im allgemeinen nicht verpflichtet, die von ihm benötigten Waren oder Leistungen in der Weise nachzufragen, daß jeder Anbieter einen seiner Leistungsfähigkeit im Verhältnis zu den Mitbewerbern entsprechenden Anteil an den zu vergebenden Aufträgen erhält (vgl. BGHZ 101, 72, 82 – Krankentransporte; BGH, Urt. v. 13.11.1990 – KZR 25/89, WuW/E 2683, 2687 – Zuckerrübenanlieferungsrecht). Er kann grundsätzlich Anbieter bevorzugen, von denen er zu günstigeren Bedingungen beziehen kann.

Im vorliegenden Fall ist jedoch zu berücksichtigen, daß die Beklagte bei ihrer Entscheidung für bestimmte Anbieter zu beachten hat, daß die Versicherten das Recht haben, sich grundsätzlich den Lieferanten des orthopädischen Hilfsmittels frei auszuwählen (vgl. BGHZ 101, 72, 83 – Krankentransporte; 107, 40, 43 – Krankentransportbestellung). Dies beschränkt die eigene Wahlfreiheit der Beklagten. Sie behindert deshalb einen Anbieter, den ein Versicherter gewählt hat, jedenfalls dann unbillig, wenn sie keinen sachlichen Grund dafür geltend machen kann, weshalb sie ihm die Erteilung eines Auftrags verweigert.

Dies ist hier der Fall. Wie das Berufungsgericht – von der Revision nicht angegriffen – festgestellt hat, gibt es für das Verlangen der Beklagten, daß die von ihr beauftragten Orthopädie-Schuhmacher das angefertigte Schuhwerk kostenlos zur Versorgungsstelle bringen, keinen sachlichen Grund; die Anwesenheit des Orthopädie-Schuhmachers bei der Abnahme durch die Versorgungsstelle ist überflüssig. Wenn die Beklagte aber nur deshalb nicht bereit ist, der Klägerin Aufträge zu erteilen, weil diese sich weigert, eine überflüssige Nebenleistung ohne Erstattung der dabei anfallenden Kosten zu erbringen, handelt sie unbillig.

II. Das Berufungsgericht hat mit zutreffender Begründung – und von der Revision auch nicht beanstandet – entschieden, daß die Berufung der Klägerin auch insoweit zulässig war, als sie sich gegen die Abweisung ihres Schadensersatzanspruchs durch das Landgericht gewandt hat (vgl. BGH, Urt. v. 18.3.1992 – IV ZR 101/91, NJW 1992, 1898).

Die Revision beanstandet jedoch mit Erfolg, daß das Berufungsgericht nicht begründet hat, warum es den Schadensersatzanspruch der Klägerin zugesprochen hat (§ 551 Nr. 7 ZPO). Das Berufungsurteil kann deshalb insoweit keinen Bestand haben.

III. Auf die Revision der Beklagten war das Berufungsurteil daher aufzuheben, soweit das Berufungsgericht den Schadensersatzanspruch der Klägerin zuerkannt hat. Insoweit war der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, zurückzuverweisen. Im übrigen war die Revision zurückzuweisen.

 

Unterschriften

Odersky, v. Ungern-Sternberg, Melullis, Tepperwien, Greger

 

Fundstellen

Haufe-Index 1679900

GRUR 1994, 526

Nachschlagewerk BGH

ZIP 1994, 806

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