Leitsatz (amtlich)
›1. Zur Strafbarkeit des Versuchs eines unechten Unterlassungsdelikts
2. Zur Strafzumessung bei § 323 a StGB.‹
Verfahrensgang
Gründe
Das Schwurgericht hat den Angekl. H wegen fahrlässigen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und den Angekl. R wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und die Vollstreckung beider Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt. Die Revision des Angekl. R bleibt ohne Erfolg. Dagegen ist die auf die Strafaussprüche gegen beide Angekl. beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft mit der allein erhobenen Sachrüge erfolgreich.
Nach einer Zechtour trafen die beiden Angekl. gegen 0. 30 Uhr auf einem S-Bahnhof den ihnen unbekannten Nebenkläger. Der Angekl. H schlug den betrunkenen Nebenkläger mit einem Faustschlag ins Gesicht nieder, trat ihm dann "brutal ins Gesicht und in den Bauch" und schlug mehrmals den Kopf des Opfers auf den Boden. Der Angekl. R versuchte zunächst, den Angekl. H zurückzuhalten, trat dann aber, wie H Turnschuhe tragend, auf den liegenden Nebenkläger ein. Als sie versuchten, ihn auf eine Bank zu setzen, fiel er wieder zu Boden. Beide Angekl. traten nun dem stark blutenden Nebenkläger in den Bauch. Danach suchten sie zunächst das Weite. Auf der Bahnhofstreppe sagte der Angekl. H zu dem Angekl. R: "Der muß weg! ". Er meinte damit, daß der Nebenkläger zur Vermeidung einer drohenden Strafverfolgung getötet werden sollte. Der Angekl. R verstand das und befürchtete ebenfalls, durch den Nebenkläger als Mittäter der vorangegangenen Straftat überführt zu werden. Er "griff... in das folgende Tatgeschehen nicht ein, weil er damit einverstanden war, daß" der Nebenkläger "den Tod fand. " Beide Angekl. kehrten auf den Bahnsteig zurück, wo der Nebenkläger "allein und bewußtlos in seinem Blut lag. " Der Angekl. H warf ihn auf das Gleisbett, "um ihn von einem S-Bahn-Zug überfahren zu lassen. " Er sprang sodann auf die Gleise hinunter, um den Nebenkläger "so hinzulegen, daß er überfahren werden würde. Er forderte nun R auf, auch hinunterzuspringen und mit anzufassen. Dazu war R auch bereit und sprang hinunter". Er faßte den Nebenkläger aber nicht mehr an, "weil H inzwischen schon allein das Opfer so auf das Gleis gelegt hatte, daß dessen Kopf von einem Zug überfahren werden konnte. " Beide Angekl. rechneten damit, daß noch Züge verkehrten, und verließen den Bahnhof. Bei alledem war infolge Alkoholgenusses die Steuerungsfähigkeit beider Angekl. erheblich vermindert im Sinne des § 21 StGB, die des Angekl. H möglicherweise sogar aufgehoben (§ 20 StGB).
Ein von einem Augenzeugen der Schläge und Tritte alarmierter weiterer Zeuge lief auf den Bahnsteig, sah den Nebenkläger, der inzwischen vom Gleis etwas heruntergeglitten war, und versuchte vergeblich, ihn auf den Bahnsteig zu heben, schob ihn in eine Hohlkehle unter der Bahnsteigkante und lief dem um 0.49 Uhr einlaufenden S-Bahn-Zug entgegen. Der Fahrer hielt den Zug etwas vor dem üblichen Haltepunkt an. Der Kurzzug hätte ohnehin vor der Stelle gehalten, an der der Nebenkläger gelegen hatte. Der Fahrer hätte "auf der geraden Strecke und wegen der guten Ausleuchtung des Bahnhofs einen Mann, der dort auf den Gleisen lag, rechtzeitig gesehen. " Der schwerverletzte Nebenkläger erfuhr stationäre chirurgische Versorgung einschließlich zweier Nachoperationen wegen Wundinfektionen.
I. Das angefochtene Urteil enthält keinen sachlichrechtlichen Fehler zum Nachteil des Beschwerdeführers R.
1. Der Schuldspruch ist rechtsfehlerfrei.
Zu Recht hat das Schwurgericht das Verhalten des Angekl. R im zweiten Geschehensabschnitt als einen versuchten Mord, begangen zumindest durch Unterlassen, bewertet.
a) Auf Grund der gemeinschaftlichen schweren Mißhandlung des Opfers, das danach allein, bewußtlos und blutend am Boden lag, war der Angekl. R unter dem Gesichtspunkt des vorangegangenen gefährdenden Tuns ("Ingerenz") verpflichtet, den weiteren Angriff seines Mittäters auf das Leben des Opfers zu verhindern und die tödliche Wirkung eines solchen Angriffs zu vereiteln (vgl. BGH NStZ 1985, 24; BGH StV 1982, 218 und 1986, 59). Wie das Schwurgericht festgestellt hat, war es dem Angekl. R auch möglich, seinen Tatgenossen "mit Worten, erforderlichenfalls auch handgreiflich an seinem Tun zu hindern" .Zudem hatte der Angekl. R die Möglichkeit, seiner Rettungspflicht dadurch nachzukommen, daß er das Opfer von den Schienen zog, nachdem es dort so hingelegt worden war, daß sein Kopf überfahren werden konnte.
b) Der Beschwerdeführer ist - unter Berufung auf Stimmen im Schrifttum - der Ansicht, daß ein "untauglicher Versuch" eines unechten Unterlassungsdeliktes, wie er hier vorliege, nicht strafbar sei. Auch dieser Gesichtspunkt kann der Revision nicht zum Erfolg verhelfen.
In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Strafbarkeit des Versuchs eines unechten Unterlassungsdeliktes grundsätzlich anerkannt (BGHSt 7, 287, 288; 14, 282, 284; BGH VRS 13, 120, 123; BGH NStZ 1985, 24; BGH StV 1985, 229; vgl. auch RGSt 61, 360, 361). In gleicher Weise nimmt auch die herrschende Lehre grundsätzlich Strafbarkeit des Versuchs eines unechten Unterlassungsdeliktes an (Eser in Schönke/Schröder StGB, 24. Aufl., Rdn. 27 vor § 22; Jescheck in LK, 10. Aufl., § 13 Rdn. 46 ff. und Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 4. Aufl., S. 576 ff.; Lackner StGB, 19. Aufl., § 22 Rdn. 17; Vogler in LK, 10. Aufl., § 22 Rdn. 109 ff.; Baumann/Weber Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Aufl., S. 482; Blei Strafrecht Allgemeiner Teil, 18. Aufl., S. 316; Jakobs Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl., S. 852 ff.; Maurach/Gössel Strafrecht Allgemeiner Teil Teilband 2, 7. Aufl., S. 32 ff.; Grünwald JZ 1959, 46 ff.; zurückhaltend Dreher/Tröndle StGB, 45. Aufl., § 13 Rdn. 18). Soweit im Schrifttum die Ansicht vertreten wird, daß es einen strafbaren Versuch eines unechten Unterlassungsdeliktes überhaupt nicht gebe, wird statt dessen ein - strafbares - "Unterlassen des ErfoLGabwendungsversuchs", ein "Unterlassungsversuch" angenommen (Welzel Das Deutsche Strafrecht, ll. Aufl., S. 206, 221; Armin Kaufmann Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 204 ff., 221 ff., 237 f.).
Allerdings wird im Schrifttum vertreten, daß in Fällen des Unterlassens der "untaugliche Versuch" nicht strafbar sei. Indes meinen die Vertreter dieser Lehre damit nur diejenigen Fälle, in denen keinerlei Gefahr für das Rechtsgut besteht. Die Autoren nennen den ''Versuch des untauglichen Täters" und "eingebildete Pflichten" (Stratenwerth Strafrecht Allgemeiner Teil I, 3. Aufl., S. 204), Fälle von "keinerlei Gefahr" (Rudolphi in SK, Stand März 1992, Rdn. 55 vor § 13) und Fälle einer irrtümlich für gegeben gehaltenen Gefahrenlage (Schmidhäuser Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl., S. 716). Es kann dahinstehen, ob in diesen Fällen eine Ausnahme von dem Grundsatz gilt, daß der Versuch eines unechten Unterlassungsdeliktes strafbar ist; denn hier lag objektiv eine konkrete Gefahr für das Leben des Opfers vor. Es mag sein, daß es angesichts der Geradlinigkeit und der guten Ausleuchtung der Strecke sowie des Umstandes, daß der nächste einfahrende Zug ein Kurzzug war, wahrscheinlicher war, daß das Opfer die Durchfahrt des nächsten Zuges überleben würde als von diesem tödlich überfahren zu werden. Gleichwohl bestand objektiv eine erhebliche Todesgefahr für das Opfer. Der Zug fuhr wenige Minuten nach dem erheblichen Verhalten der Angekl. in den Bahnhof ein. Jede von vielen möglichen Wahrnehmungsschwächen oder Fehlreaktionen des Zugfahrers, mancherlei denkbare technische Defekte oder die Einfahrt eines Langzuges bei geändertem Fahrprogramm hätten - jeweils allein - zum Tod des Opfers führen können.
c) Der Angekl. R hat mit seinem Verhalten die Schwelle zum Versuch überschritten. Auf den Streit in der Strafrechtswissenschaft, wann der Versuch eines unechten Unterlassungsdeliktes beginnt, kommt es dabei nicht an. Allerdings wird einerseits vertreten, daß schon das Verstreichenlassen der ersten Rettungschance den Versuch begründe (so Herzberg MDR 1973, 89 ff.; Maihofer GA 1958, 289, 297; Schröder JuS 1962, 86), andererseits angenommen, daß erst im Auslassen der letzten vermeintlichen Rettungsgelegenheit der Versuchsbeginn liege (so Welzel aaO. S. 221; Armin Kaufmann aaO. S. 210 ff., 216). Schließlich wird mit beachtlichen Gründen darauf abgestellt, ob die Untätigkeit des Garanten nach dessen Vorstellung zu einer Gefahrerhöhung für das zu schützende Rechtsgut führe (so Blei aaO. S. 317; Eser aaO.; Jescheck jeweils aaO.; ähnlich Gössel aaO. S. 34; Vogler aaO. Rdn. 115 ff.). Insbesondere werden solche Gefahrerhöhung oder generell der Versuchsbeginn darin gefunden, daß der Täter die Herrschaft über das Geschehen aus der Hand gibt (Grünwald aaO.; Jakobs aaO. S. 854; Lackner aaO.; Roxin JuS 1979, 12). Als beide Angekl. zum zweiten Mal den Bahnhof verließen, während das Opfer auf dem Gleis lag, begab der Angekl. R sich jeder Möglichkeit des Einflusses auf das weitere Geschehen, ließ er die letzte Rettungsgelegenheit ungenutzt verstreichen, womit zugleich objektiv und nach der Vorstellung des Beschwerdeführers die Todesgefahr für das Opfer massiv erhöht wurde. d) Die für die Abgrenzung von Täterschaft und Beihilfe in diesen Fällen maßgeblichen Kriterien (vgl. BGH StV 1986, 59) hat das Schwurgericht rechtsfehlerfrei angewendet. Es hat dabei insbesondere darauf abgestellt, daß der Angekl. R "dasselbe Interesse am Tod des Opfers hatte wie H und die Tat deshalb im Rechtssinne als eigene wollte" und zudem der "gewandtere" , "erkennbar überlegene", "deutlich weniger betrunken(e)" der beiden Angekl. war.
e) Die Verdeckungsabsicht im Sinne des § 21l StGB ist im angefochtenen Urteil hinreichend dargetan. Eine Fallgestaltung, wie sie der Entscheidung BGHSt 7, 287 (übrigens aufgegeben durch BGH bei Dallinger MDR 1966, 24; vgl. BGH NStZ 1992, 125 m.w.N.) zugrunde lag, ist hier - entgegen der Ansicht der Revision - nicht gegeben.
2. Auch der Strafausspruch gegen den Angekl. R - ist frei von Rechtsfehlern zum Nachteil dieses Angekl.. Insbesondere liegt - entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers - ein Fall des § 23 Abs. 3 StGB nicht vor. Der Angekl. hat nicht "aus grobem Unverstand verkannt", daß die Tat nicht zur Vollendung führen konnte. Er rechnete mit weiterem Zugverkehr und einer möglichen Tötung des Opfers. Das Überleben des Opfers widersprach zwar der unrichtigen Einschätzung der Sachlage durch den Angekl. R - . Grober Unverstand lag dieser Einschätzung jedoch nicht zugrunde.
II.
Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Die Strafbemessung gegen beide Angekl. hält sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand.
1. Allerdings ist die Strafzumessung grundsätzlich Sache des Tatrichters. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und hierbei gegeneinander abzuwägen (BGHSt 34, 345, 349). Auch braucht der Tatrichter im Urteil nur die bestimmenden Strafzumessungsgründe anzuführen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO); die Darlegung sämtlicher Erwägungen zur Strafzumessung ist weder nötig noch möglich (BGHR StPO § 267 Abs. 3 Satz 1 Strafzumessung 2; BGH StV 1984, 151). Fehlt es aber ersichtlich an der erforderlichen umfassenden Wertung derjenigen Umstände, die für die Höhe der Strafe nach § 46 StGB bestimmend sein müssen, so ist darin ein sachlichrechtlicher Fehler zu sehen (BGHSt 28, 318, 323). Das gilt namentlich dann, wenn der Tatrichter einen der rechtlich anerkannten Strafzwecke überhaupt nicht in den Kreis seiner Erwägungen einbezogen hat, obwohl hierzu Anlaß bestand (BGHSt 17, 35, 36). Zudem ist eine Strafe dann rechtsfehlerhaft, wenn sie sich wegen ihrer Höhe - nach oben oder nach unten - von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich für die Tat zu sein (BGHSt 24, 132, 134; 29, 319, 320; 34, 345, 349; BGH NJW 1977, 1247; BGH bei Holtz MDR 1978, 109, 110). Nach diesen Maßstäben ist die Strafzumessung gegen beide Angekl. hier rechtsfehlerhaft.
2. Betreffend den Angekl. H führt das Schwurgericht - neben mildernden Gesichtspunkten - zu Lasten des Angekl. lediglich an, daß der Angekl. "im Rausch zwei schwerwiegende rechtswidrige Taten begangen hat". Die Einsatzstrafe gegen den Angekl. R wegen versuchten Mordes wird ausschließlich mit Umständen begründet, die zugunsten dieses Angekl. sprechen. Dabei wird das strafbare Verhalten der beiden Angekl. bagatellisierend als "eine große Dummheit" bezeichnet. Mit alledem wird das Tatbild außer acht gelassen.
a) Dies kennzeichnet aber mit Erheblichkeit für die Strafzumessung die kriminelle Intensität des Verhaltens des Angekl. R und mithin seine Tatschuld, wenngleich er nur wegen Unterlassens haftet. Es kommt hinzu, daß die gewollte Tötungsart eine besonders rohe Gesinnung dieses Angekl. anzeigt.
b) Auch bei der Strafzumessung gegen den Angekl. H war das äußere Tatbild strafschärfend zu berücksichtigen. Solches ist nicht etwa wegen der Besonderheiten des Straftatbestandes des Vollrausches nach § 323 a StGB ausgeschlossen. Allerdings darf die im Rausch begangene Tat als solche dem Täter nicht vorgeworfen werden, weil er insoweit ohne Schuld handelt. Deshalb dürfen seine Motive und die Gesinnung, die zu der im Rausch begangenen rechtswidrigen Tat geführt haben, bei der Strafzumessung nicht zu seinem Nachteil herangezogen werden (BGHSt 23, 375, 376; BGHR StGB § 323 a Abs. 2 Strafzumessung l; BGH bei Spiegel DAR 1982, 200). Anderes gilt indes für tatbezogene Merkmale der im Vollrausch begangenen Tat, so für Art, Umfang, Schwere und Gefährlichkeit oder Folgen dieser Tat (BGHSt 23, 375, 376; BGHR StGB § 323 a Abs. 2 Strafzumessung 2; BGH VRS 34, 349 und 41, 93, 96; BGH bei Dallinger MDR 1972, 198 und 1974, 15; BGH bei Holtz MDR 1982, 81l; BGH bei Spiegel DAR 1979, 180; BGH Urteil vom 8. Januar 1965 - 2 StR 465/64 -). Diese Umstände sind auch Folgen des unter Strafe gestellten Sichberauschens, mithin Anzeichen für den Gefährlichkeitsgrad des Rausches und schließlich die wichtigsten Gesichtspunkte für die Beurteilung der Schwere der Tat nach § 323 a StGB (vgl. BGHSt 23, 375, 376). Deshalb hätte das Schwurgericht bei der Strafzumessung gegen den Angekl. H die außerordentliche Schwere der gefährlichen Körperverletzung und die Begehung eines gefährlichen Mordversuchs als im Rausch begangene Taten berücksichtigen müssen. Es ist zu besorgen, daß dies nicht hinreichend geschehen ist, indem das Schwurgericht lediglich gewürdigt hat, daß der Angekl. "im Rausch zwei schwerwiegende rechtswidrige Taten begangen hat".
Fundstellen
Haufe-Index 2993150 |
BGHSt 38, 356 |
BGHSt, 356 |
NJW 1992, 3309 |
DRsp III(310)223a |
NStZ 1993, 32 |
MDR 1992, 1162 |
HRSt StGB § 13 Nr. 1 |
StV 1993, 24 |