Leitsatz (amtlich)
Eine rechtskräftige Vorverurteilung darf nicht nach § 31 Abs. 2 JGG einbezogen werden, wenn sie bereits in ein anderes – noch nicht rechtskräftiges – Urteil einbezogen worden war (im Anschluß an BGHSt 20, 292).
Normenkette
JGG § 31 Abs. 2, § 66
Verfahrensgang
LG Siegen (Urteil vom 08.01.2002) |
Tenor
1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten W. gegen das Urteil des Landgerichts Siegen vom 8. Januar 2002 werden verworfen.
2. Auf die Revision des Angeklagten T. wird das vorbezeichnete Urteil im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zur Schuldfähigkeit des Angeklagten bestehen.
Die weiter gehende Revision des Angeklagten T. wird verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels des Angeklagten T., an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
4. Die Staatskasse hat die Kosten der Revisionen der Staatsanwaltschaft und die den Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Der Angeklagte W. hat die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägern hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten T. wegen Vergewaltigung, versuchter Vergewaltigung und versuchter räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Körperverletzung unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts Olpe vom 29. August 2000 (Az.: 59 Ls 212 Js 194/00) zu einer (Einheits-) Jugendstrafe von sechs Jahren und den Angeklagten W. wegen versuchter sexueller Nötigung zur Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt; im übrigen hat es die Angeklagten freigesprochen.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihren zuungunsten der Angeklagten eingelegten Revisionen, mit denen sie die Verletzung materiellen Rechts rügt. Sie beanstandet bei der Beweiswürdigung zu Fall II 3 der Urteilsgründe, daß das Landgericht den Angeklagten nicht den Tod der Geschädigten Karin A. zugerechnet hat; außerdem rügt sie die Strafzumessung. Die Angeklagten beanstanden das Verfahren und rügen die Verletzung sachlichen Rechts.
Die Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten W. haben keinen Erfolg; die Revision des Angeklagten T. hat nur zum Strafausspruch Erfolg.
1. Nach den Feststellungen versuchte der zu den Tatzeiten 17jährige Angeklagte T. am 29. November 2000 einen 15jährigen Jungen mit Schlägen zur Herausgabe von Geld zu veranlassen, was ihm aber nicht gelang, weil dieser kein Geld hatte (Fall II 1: versuchte räuberische Erpressung in Tateinheit mit Körperverletzung). Am Abend desselben Tages führte er mit der ihm bekannten 52jährigen Doris Te., nachdem er deren entgegenstehenden Willen mit Gewalt gebrochen hatte, den Geschlechtsverkehr durch (Fall II 2: Vergewaltigung). Am Nachmittag des 1. Dezember 2000 begaben sich beide Angeklagte in die Wohnung der Karin A., um dort eine Party zu feiern. Der Angeklagte W. kannte Frau A.; er hatte mit ihr schon geschlechtlich verkehrt. Nachdem in erheblichen Mengen Alkohol konsumiert worden war, die anderen Gäste gegangen waren und Frau A. auf einer Matratze schlafen wollte, begann der Angeklagte W., sie zu streicheln. Er zog ihr die Jogginghose und den Slip aus und forderte den Angeklagten T. auf, sich zu beiden auf die Matratze zu legen, um gemeinsam mit ihm sexuelle Handlungen an Frau A. vorzunehmen. Der Angeklagte T. tat dies, begann ebenfalls, Frau A. zu streicheln, und führte – wie auch der Angeklagte W. – einen Finger in ihre Scheide ein. Nunmehr begann Frau A., sich zu wehren, „da sie mit der sexuellen Annäherung durch die Angeklagten nicht mehr einverstanden war”. Die Angeklagten entschlossen sich daraufhin, „notfalls” auch mit Gewalt sexuelle Handlungen an ihr vorzunehmen. Sie drückten ihre Arme zur Seite und als Frau A. schrie und sagte, die Angeklagten sollten sie in Ruhe lassen, sie wolle schlafen, entgegnete der Angeklagte W., sie könne gleich „richtig pennen” und schlug ihr – um ihren Widerstand zu brechen – mit der Hand ins Gesicht, worauf sich Frau A.s Kopf zur Seite drehte und sie sich nicht mehr regte. Die Angeklagten zerrissen sodann ihr T-Shirt, so daß sie völlig nackt war. Möglicherweise war sie jetzt bereits tot. Der Angeklagte T. vollzog nun mit ihr – dem gemeinsamen Tatentschluß entsprechend – den Geschlechtsverkehr; der Angeklagte W. streichelte danach ihre Brüste. Als die Angeklagten schließlich die Wohnung verließen, gingen sie davon aus, daß Frau A. noch lebte.
Frau A. war zwischen 21.50 und 01.30 Uhr verstorben. Nach dem Gutachten des rechtsmedizinischen Sachverständigen Dr. S., dem die Jugendkammer folgt, war Todesursache eine Herzschädigung in Zusammenhang mit einer geringfügigen Benzodiazepinkonzentration im Blut und einer erheblichen Alkoholisierung (über 4 ‰). Das Landgericht konnte nicht feststellen, daß die Tatsituation – insbesondere die durch die Angeklagten ausgeübte Gewalt – für ihren Tod zumindest mitursächlich war. Die Herzschädigung der Frau A. war den Angeklagten nicht bekannt (Fall II 3).
2. In seiner rechtlichen Würdigung wertet das Landgericht das Tatgeschehen im Fall II 3 beim Angeklagten T. als versuchte Vergewaltigung (§§ 177 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und 2, 22, 23 StGB). Es liege ein untauglicher Versuch vor, weil davon auszugehen sei, daß Frau A. bei der Ausübung des Geschlechtsverkehrs bereits tot gewesen sei, der Angeklagte aber die Vorstellung gehabt habe, das Opfer lebe noch. Eine vollendete Vergewaltigung – durch Einführen des Fingers in die Scheide – sei nicht gegeben, weil nach der Einlassung des Angeklagten T. bei der Polizei, die das Landgericht seinen Feststellungen zugrunde legt, Frau A. zu diesem Zeitpunkt noch mit der Vornahme sexueller Handlungen einverstanden gewesen sei. Der Angeklagte W. habe sich wegen versuchter sexueller Nötigung (§§ 177 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2, 22, 23 StGB) strafbar gemacht. Er habe zwar gemeinschaftlich mit dem Angeklagten T. gehandelt, selbst aber den Beischlaf nicht vollzogen. Deshalb sei er nicht – wie dieser – wegen versuchter Vergewaltigung zu verurteilen. Die Voraussetzungen des § 177 Abs. 3 Nr. 3 StGB bzw. des § 177 Abs. 4 Nr. 2 b StGB lägen nicht vor, weil die Angeklagten hinsichtlich der Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung bzw. des Todes der Frau A. nicht vorsätzlich gehandelt hätten. Eine schwere körperliche Mißhandlung (§ 177 Abs. 4 Nr. 2 a StGB) sei schon objektiv nicht feststellbar.
3. Revisionen der Staatsanwaltschaft
a) Soweit sich die Revisionen der Staatsanwaltschaft gegen die Beweiswürdigung richten, decken sie keinen Rechtsfehler auf.
Die sachlich-rechtliche Nachprüfung des Urteils erfolgt auf der Grundlage der Urteilsurkunde (BGHSt 35, 238, 241). Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, das Urteil setze sich nicht damit auseinander, daß der Sachverständige Dr. S. sein zunächst im Ermittlungsverfahren erstattetes schriftliches Gutachten später modifiziert habe, ist auf die Sachrüge nicht zu beachten; denn dem Urteil ist eine abweichende Beurteilung durch den Sachverständigen nicht zu entnehmen. Soweit die Staatsanwaltschaft zur Begründung ihrer Auffassung, die in ihrer Revisionsbegründung auszugsweise mitgeteilten schriftlichen Stellungnahmen des Sachverständigen im Ermittlungsverfahren seien im Revisionsverfahren zu berücksichtigen, auf die in BGHSt 22, 282, 289 und StV 1993, 176 abgedruckten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs hinweist, verkennt sie, daß dort Aktenteile aufgrund von Verfahrensrügen Gegenstand des Revisionsverfahrens waren. Zulässige Verfahrensrügen hat die Staatsanwaltschaft jedoch nicht erhoben.
Der Inhalt des vom Sachverständigen Dr. S. in der Hauptverhandlung erstatteten Gutachtens ist in den Urteilsgründen wiedergegeben (UA 35). Das Urteil enthält die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des Sachverständigen in einer Weise, die zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit und sonstigen Rechtsfehlerfreiheit genügt. Weitergehende Ausführungen waren aus Rechtsgründen nicht erforderlich (vgl. hierzu Engelhardt in KK 4. Aufl. § 261 Rdn. 32, § 267 Rdn. 16 jeweils m.w.N.). Auch sonst ist die Beweiswürdigung rechtsfehlerfrei. Soweit die Revision versucht, ihre eigene Beweiswürdigung an die Stelle der Beweiswürdigung des hierzu berufenen Tatrichters zu setzen, kann sie damit im Revisionsverfahren nicht gehört werden.
b) Die auf den rechtsfehlerfreien Feststellungen beruhenden Schuldsprüche halten ebenfalls der rechtlichen Nachprüfung stand.
Das Landgericht hat im Fall II 3 das Vorliegen der Qualifikationstatbestände des § 177 Abs. 3 Nr. 3, Abs. 4 Nr. 2 b StGB mit der zutreffenden Erwägung abgelehnt, daß hinsichtlich des Eintritts der Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung bzw. des Todes der Geschädigten zumindest bedingter Vorsatz erforderlich gewesen wäre (BGHSt 46, 225, 226 ff.; Tröndle/Fischer StGB 51. Aufl. § 177 Rdn. 44, 48; vgl. auch BGH StV 2002, 423, 424 [zu § 250 Abs. 1 Nr. 1 c StGB]), der den Angeklagten aber nicht nachgewiesen werden konnte. Eine schwere körperliche Mißhandlung (§ 177 Abs. 4 Nr. 2 a StGB) ist ebenfalls nicht festgestellt (vgl. hierzu BGH NJW 2000, 3655); dasselbe gilt für die Voraussetzungen einer Verurteilung nach den §§ 178, 179 StGB und § 227 StGB.
c) Auch die Angriffe der Staatsanwaltschaft gegen die Strafzumessung haben keinen Erfolg.
Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Das Revisionsgericht kann hier nur eingreifen, wenn ein (durchgreifender) Rechtsfehler vorliegt. Eine ins einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ist dagegen ausgeschlossen (st. Rspr., vgl. nur BGHSt 29, 319, 320; 34, 345, 349; BGH, Urteil vom 23. Oktober 2002 – 5 StR 392/02).
Soweit die Beschwerdeführerin beanstandet, daß das Landgericht beim Angeklagten W. den Strafrahmen des § 177 Abs. 5 StGB zugrundegelegt hat, deckt sie keinen den Bestand des Urteils gefährdenden Rechtsfehler auf. Das Landgericht hat die Ausnahme vom Regelstrafrahmen des § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB und die Anwendung des Strafrahmens des § 177 Abs. 1 StGB damit begründet, daß der Angeklagte und Karin A. sich kannten, sie vor der Tat bereits einvernehmliche geschlechtliche Beziehungen hatten und die Geschädigte die sexuelle Annäherung des Angeklagten zunächst duldete. Einen minder schweren Fall (§ 177 Abs. 5 StGB) hat es deswegen angenommen, weil beim Angeklagten W. zur Tatzeit die Voraussetzungen des § 21 StGB gegeben waren und die Tat nur versucht wurde, somit zwei vertypte Strafmilderungsgründe vorlagen. Dies ist – unter Berücksichtigung der außergewöhnlichen Umstände der Tat – aus Rechtsgründen hinzunehmen.
d) Die Revision der Staatsanwaltschaft ist daher zu verwerfen. Darauf, daß sie im Hinblick auf den Angeklagten T. auch zu dessen Gunsten wirkt (§ 301 StPO), kommt es nicht an, weil die Gründe, die das angefochtene Urteil insoweit in Frage stellen (vgl. unten 5 b), auf die Revision des Angeklagten T. zu berücksichtigen sind (vgl. BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 9 aE; Kuckein in KK 4. Aufl. § 353 Rdn. 5 m.w.N).
4. Revision des Angeklagten W.
Die Verfahrensrügen sind aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 30. September 2002 (jedenfalls) unbegründet. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge hat ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten W. ergeben.
5. Revision des Angeklagten T.
a) Die Verfahrensrügen haben, wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift im einzelnen ausgeführt hat, keinen Erfolg. Lediglich zur Rüge der Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes ist ergänzend zu bemerken: Abgesehen davon, daß von dem Ausschließungsbeschluß (Ausschließung der Öffentlichkeit gem. § 48 Abs. 3 S. 2 JGG während der Erörterung der persönlichen Verhältnisse des Angeklagten T.) alle Verfahrensvorgänge umfaßt waren, die mit dem Ausschließungsgrund zusammenhingen, also auch die Erörterung der Vorstrafen des Angeklagten, kann der zur Tatzeit jugendliche Angeklagte T. einen Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz nicht geltend machen, weil gegen ihn gem. § 48 Abs. 1 JGG nicht öffentlich hätte verhandelt werden müssen, wenn der Mitangeklagte nicht Erwachsener gewesen wäre (vgl. BGHSt 10, 119, 120 f.; Brunner/Dölling JGG 11. Aufl. § 48 Rdn. 23 m.w.N.).
b) Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge des Angeklagten T. hat zum Schuldspruch keinen ihn beschwerenden Rechtsfehler ergeben. Jedoch muß der Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben werden; denn die Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts Olpe vom 29. August 2000 war nicht zulässig, weil dieses Urteil bereits in das – noch nicht rechtskräftige – Urteil des Jugendschöffengerichts Olpe vom 9. Januar 2001 einbezogen worden war (vgl. UA 6 f.). Wie der Bundesgerichtshof in seiner in BGHSt 20, 292 ff. abgedruckten Entscheidung für das Erwachsenenstrafrecht dargelegt hat, dürfen – zur Vermeidung von Doppelbestrafungen – Strafen in eine Gesamtstrafe nicht mehr einbezogen werden, wenn sie bereits zur Bildung einer anderen noch nicht rechtskräftigen Gesamtstrafe gedient haben; sie sind vielmehr verfahrensmäßig so zu behandeln, als wären sie noch nicht rechtskräftig (vgl. auch BGHSt 9, 190, 192; 44, 1 ff.; Tröndle/Fischer aaO § 55 Rdn. 35). Da im Jugendstrafrecht ebenfalls die Gefahr der doppelten Verwertung einer Vorverurteilung besteht, wenn diese bereits in ein anderes – nicht rechtskräftiges – Urteil einbezogen worden war, gilt dieser Grundsatz entsprechend bei einer Einbeziehung nach § 31 Abs. 2 JGG. Die Möglichkeit einer „Korrektur” der doppelten Einbeziehung über das Verfahren nach § 66 JGG bietet keine zureichende Gewähr, die Gefahr der Doppelbestrafung sicher auszuschließen (vgl. zur selben Problematik bei § 460 StPO: BGHSt 9, 190, 192 f.; 20, 292, 293 f.). Die Strafe für den Angeklagten T. muß daher – nunmehr möglicherweise unter Einbeziehung sowohl des Urteils des Amtsgerichts Olpe vom 29. August 2000 als auch des Urteils des Jugendschöffengerichts Olpe vom 9. Januar 2001, sofern dieses inzwischen rechtskräftig geworden ist (vgl. BGHR JGG § 31 Abs. 2 Einbeziehung 7) – neu festgesetzt werden. Die Feststellungen zur Schuldfähigkeit des Angeklagten T. … können bestehen bleiben, weil sie von dem aufgezeigten Rechtsfehler nicht berührt werden.
Unterschriften
Tepperwien, Kuckein, Athing, Solin-Stojanović, Sost-Scheible
Fundstellen
Haufe-Index 2565504 |
NJW 2003, 2036 |
NStZ 2004, 294 |
Nachschlagewerk BGH |
StV 2003, 460 |
StraFo 2003, 254 |