Leitsatz (amtlich)
Zur analogen Abrechenbarkeit zahnärztlicher konservierender Leistungen (hier: Füllungen nach der Dentin-Adhäsiv-Bonding-Mehrschichttechnik).
Normenkette
GOZ § 6 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Frankfurt am Main (Urteil vom 13.03.2002) |
AG Bad Homburg |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main – 16. Zivilkammer – vom 13. März 2002 unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung der Klägerin in Höhe eines Betrages von 1.399,49 EUR (= 2.737,17 DM) nebst Zinsen zurückgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin nimmt den Beklagten aus abgetretenem Recht einer Zahnärztin, die ihn vom 12. November 1996 bis zum 4. Februar 1997 als Privatpatienten behandelt hat, auf Zahlung restlichen Honorars in Anspruch. In der Revisionsinstanz geht es nur noch um 14 Positionen aus der Rechnung Nr. 1621, die Füllungen an verschiedenen Front- und Seitenzähnen betreffen. Ausweislich der Rechnung hat die Zahnärztin bei diesen Leistungen, die für einige der Zähne als „Rekonstruktion” bezeichnet werden, die „Ätz-Adhäsiv-Bonding-Mehrschichttechnik” angewendet.
Die Klägerin ist der Auffassung, diese Leistungen seien nicht in das Gebührenverzeichnis aufgenommen und müßten entsprechend einer nach Art, Kosten- und Zeitaufwand gleichwertigen Leistung des Gebührenverzeichnisses abgerechnet werden; dabei seien die für Einlagefüllungen maßgebenden Nummern 215 bis 217 des Gebührenverzeichnisses analog heranzuziehen. Demgegenüber hat der Beklagte – über seinen privaten Krankenversicherer – die Leistungen nur nach den Nummern 205, 207 und 211 des Gebührenverzeichnisses honoriert. Die Differenz von 1.399,70 EUR (rechnerisch richtig: 1399,49 EUR = 2.737,17 DM) nebst Zinsen ist Gegenstand der in den Vorinstanzen insoweit erfolglos gebliebenen Klage. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat im wesentlichen – bis auf einen geringfügigen Rechenfehler – Erfolg und führt insoweit zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Aufgrund der bisherigen Feststellungen läßt sich die Frage der Honorierung von Leistungen, bei denen die Dentin-Adhäsiv-Bonding-Mehrschichttechnik angewendet worden ist, noch nicht abschließend beantworten.
1. Nach § 6 Abs. 2 der Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) vom 22. Oktober 1987 (BGBl. I S. 2316) können selbständige zahnärztliche Leistungen, die erst nach dem Inkrafttreten dieser Gebührenordnung am 1. Januar 1988 (§ 12 GOZ) aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse entwickelt werden, entsprechend einer nach Art, Kosten- und Zeitaufwand gleichwertigen Leistung des Gebührenverzeichnisses für zahnärztliche Leistungen berechnet werden. Der Regelung des § 6 GOZ liegt die Absicht des Verordnungsgebers zugrunde, mit den im Gebührenverzeichnis enthaltenen und nach § 6 Abs. 1 GOZ für abrechnungsfähig erklärten Leistungen das Spektrum der wissenschaftlich allgemein anerkannten zahnärztlichen Leistungen zum damaligen Zeitpunkt vollständig abzudecken. Dazu gehörten auch Leistungen, die bis dahin analog abgerechnet, aber nicht in das Gebührenverzeichnis aufgenommen wurden (vgl. BR-Drucks. 276/87, S. 71). Dementsprechend ist eine analoge Anwendung von Leistungen des Gebührenverzeichnisses nur für solche selbständigen zahnärztlichen Leistungen zulässig, die nach dem Inkrafttreten der Gebührenordnung zur Praxisreife gelangt sind (vgl. Meurer, Gebührenordnung für Zahnärzte, 2. Aufl. 1991, § 6 Anm. 5).
2. a) Das Berufungsgericht entnimmt verschiedenen gutachterlichen Stellungnahmen, die die Parteien im Verfahren vorgelegt haben, den Befund, daß in Fachkreisen die Abrechnung von Füllungen, die mittels der Ätz-Adhäsiv-Bonding-Mehrschichttechnik angebracht werden, grundsätzlich kontrovers diskutiert werde. Es legt seinen rechtlichen Überlegungen – ohne sich hinsichtlich dieser unterschiedlichen Auffassungen festzulegen und unter sachverständiger Hilfe in eine Beweisaufnahme einzutreten – ferner zugrunde, daß Kunststoffe, die dem Kaudruck im Seitenzahnbereich standhalten, erst nach 1988 entwickelt worden seien und daß mit der Dentin-Adhäsiv-Technik ebenfalls erst nach Einführung der Gebührenordnung für Zahnärzte vom 22. Oktober 1987 ein Verfahren zur Verfügung gestanden habe, das eine großflächige und damit sichere Verankerung dieser neuen Kunststoffe im Seitenzahnbereich ermögliche.
Die Revision erhebt gegen diesen ihr günstigen Ausgangspunkt, der unter der Voraussetzung, daß diese Art der Füllungstechnik eine neue selbständige zahnärztliche Leistung ist, eine Analogberechnung rechtfertigen würde, im Grundsatz keine Einwände. Ihre Rüge in diesem Zusammenhang, das Berufungsgericht habe die Stellungnahme der Hochschullehrer für Zahnerhaltung und der deutschen Gesellschaft für Zahnerhaltung zum routinemäßigen Einsatz von Seitenzahn-Komposit-Füllungen in Deutschland im Hinblick auf ihre Aufnahme und Bewertung in Leistungskatalogen nicht beachtet, ist unbegründet. Der angeführten Stellungnahme ist zu entnehmen, daß vor der Einführung der Gebührenordnung für Zahnärzte der Entwicklungs-, Wissens- und Erfahrungsstand noch nicht hinreichend vorhanden war, um Adhäsive und Komposite im Seitenzahnbereich im Praxisalltag anwenden zu können. Das spricht für die Zulässigkeit einer Analogbewertung, die auch das Berufungsgericht zugrunde legt. Abgesehen von dem Hinweis, der Zeit-, Material- und Geräteaufwand zur Herstellung von Kompositfüllungen im Seitenzahnbereich sei beträchtlich größer als bei Amalgamfüllungen, ist der Stellungnahme jedoch keine nähere Aussage zur Bewertung in Leistungskatalogen zu entnehmen.
b) Im Rahmen der Analogbewertung hält das Berufungsgericht die Heranziehung der Gebührennummern 215 bis 217 für (im Labor gefertigte) Einlagefüllungen, die zwei Behandlungssitzungen beim Zahnarzt erfordern, nicht für gerechtfertigt, sondern meint, das Dentin-Adhäsiv-Verfahren sei mit der Schmelz-Ätz-Technik vergleichbar. Die Einbringung von Kunststoffüllungen mittels dieser Technik im nicht kaubelasteten Bereich unterliege den Gebührennummern 205 bis 211, so daß die Anwendung dieser Gebührentatbestände auch auf das Dentin-Adhäsiv-Verfahren naheliege. Dem höheren Zeit- und Materialaufwand bei der Dentin-Adhäsiv-Technik könne im Einzelfall durch Ausschöpfung des Gebührenrahmens bis zum 3,5-fachen Rechnung getragen werden. Das Berufungsgericht stützt sich hierbei auf ein durch den Beklagten vorgelegtes, in einem anderen gerichtlichen Verfahren erstattetes Gutachten des Sachverständigen Dr. D., das nach seiner Auffassung zu der von der Klägerin eingereichten Stellungnahme der Landeszahnärztekammer Hessen vom 3. Januar 2001 nicht in Widerspruch steht.
Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Widersprüche zu dem Gutachten der Landeszahnärztekammer Hessen ergeben sich bereits aus dem Umstand, daß dieses – vorwiegend im Hinblick auf den erhöhten Zeit- und Materialaufwand gegenüber einer Amalgamfüllung – für den Seitenzahnbereich eine Analogberechnung nach den für Einlagefüllungen maßgebenden Gebührennummern 215 bis 217 befürwortet. Da es bei der unterschiedlichen Beurteilung der beiden sachverständigen Stellungnahmen, soweit sie sich auf die Vergleichbarkeit von Art, Kosten- und Zeitaufwand der hier angewandten Arbeitsschritte mit anderen, analog heranzuziehenden zahnärztlichen Leistungen beziehen, im wesentlichen um zahnmedizinische Fachfragen geht, konnte sich das Berufungsgericht nicht aus eigener Sachkunde ohne weiteres dem von ihm für richtig gehaltenen Gutachten anschließen, sondern war gehalten, mit sachverständiger Hilfe auf eine (weitere) Aufklärung hinzuwirken (vgl. Senatsurteil vom 10. Oktober 2002 – III ZR 205/01 – NJW 2002, 3769, 3770). Zudem stand ein entsprechender Beweisantritt der Klägerin im Raum, wonach die analoge Abrechnung der für Einlagefüllungen geltenden Gebührennummern für die Leistungen an allen hier betroffenen Zähnen – auch an den vom Berufungsgericht nicht eigens gewürdigten Frontzähnen, zu denen sich nicht alle vorgelegten Stellungnahmen verhalten – wegen der angewendeten Dentin-Adhäsiv-Bonding-Mehrschichttechnik gerechtfertigt sei.
3. Für das weitere Verfahren weist der Senat noch auf folgendes hin:
a) Für die Frage, ob die hier in Rechnung gestellten Leistungen analog abgerechnet werden dürfen, kommt es entscheidend darauf an, ob selbständige zahnärztliche Leistungen vorliegen, die erst nach dem 1. Januar 1988 zur Praxisreife entwickelt worden sind. Leistungen, die Bestandteil oder eine besondere Ausführung einer anderen Leistung nach dem Gebührenverzeichnis sind, dürfen nicht im Wege der Analogie berechnet werden (vgl. Meurer, § 6 GOZ Anm. 4). Sollte die Dentin-Adhäsiv-Technik vor dem 1. Januar 1988 noch nicht eingeführt gewesen sein und auch die Art der hier verwendeten Kunststoffe im praktischen Einsatz noch nicht zur Verfügung gestanden haben, spricht einiges dafür, daß der Verordnungsgeber bei der Beschreibung und punktmäßigen Bewertung der Leistungen in den Gebührennummern 205, 207, 209 und 211 die hier erbrachten Leistungen nicht vor Augen hatte. Hierfür könnte auch indiziell sprechen, daß in der vertragszahnärztlichen Versorgung – wenn auch unter sehr eingeschränkten Voraussetzungen der Abrechenbarkeit – unter der Nummer 13 Buchst. e bis g des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes seit 1996 Kompositfüllungen im Seitenzahnbereich, die entsprechend der Adhäsivtechnik erbracht werden, eine gesonderte, gegenüber sonstigen Füllungen höhere Bewertung erfahren haben.
b) Sollte das weitere Verfahren ergeben, daß eine analoge Abrechnung nach § 6 Abs. 2 GOZ gerechtfertigt ist, ist zu prüfen, ob die von der Klägerin herangezogene Leistung nach Art, Kosten- und Zeitaufwand gleichwertig ist. Das Berufungsgericht hat bei seiner Würdigung besonders auf die Vergleichbarkeit der Art der ausgeführten Leistung abgestellt, bei der das Ziel der Leistung oder der Ablauf der Behandlung im Vordergrund stehen. Grundsätzlich gleichrangig sind jedoch auch Kosten- und Zeitaufwand zu berücksichtigen, da es bei der Analogberechnung darum geht, den Zahnarzt für eine nicht in das Gebührenverzeichnis aufgenommene Leistung leistungsgerecht zu honorieren. Handelt es sich um eine analog berechenbare neue selbständige Leistung, ist die Honorierung über eine Nummer des Gebührenverzeichnisses nach den Kriterien des § 6 Abs. 2 GOZ vorzunehmen, die dann Grundlage für eine Anwendung des § 5 Abs. 2 GOZ ist.
Unterschriften
Rinne, Wurm, Kapsa, Dörr, Galke
Fundstellen
Haufe-Index 892590 |
BGHR 2003, 509 |
BGHR |
NJW-RR 2003, 636 |
Nachschlagewerk BGH |
ArztR 2004, 81 |
MedR 2003, 509 |
VersR 2003, 633 |