Verfahrensgang
LG Traunstein (Urteil vom 14.12.2001) |
Tenor
Auf die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 14. Dezember 2001 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts München II zurückverwiesen.
Tatbestand
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch von Jugendlichen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Hiergegen richten sich die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft, die zu Ungunsten des Angeklagten auch eine Verurteilung wegen Vergewaltigung erstrebt. Beide Rechtsmittel haben Erfolg. Die Beweiswürdigung des Landgerichts leidet unter durchgreifenden rechtlichen Mängeln. Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen kann überdies die Verneinung einer Vergewaltigung keinen Bestand haben.
I.
Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen hatte der Angeklagte einen Haustechnikbetrieb inne. In einer Ferienwoche der Pfingstschulferien leistete die am 2. November 1985 geborene M. H., die zur Vorfallszeit 14 Jahre und 7 ½ Monate alt war, bei dem Angeklagten, der mit ihrer Familie bekannt war, eine sogenannte Schnupperlehre ab. Am Nachmittag des ersten Tages des von Montag bis Freitag dauernden Betriebspraktikums bog er mit seinem „Van” vom Typ Chrysler Voyager, mit dem er mit dem Mädchen unterwegs war, in einen Waldweg ab. Dort setzte er M. H. schließlich im Bereich der Schiebetüre des Fahrzeuges auf den Wagenboden, zog ihr die kurze Hose aus und vollzog den Geschlechtsverkehr. Das Mädchen sagte, daß ihm das weh tue und daß er aufhören solle. Der Angeklagte hielt ihre Arme mit beiden Händen oberhalb ihres Kopfes fest. Als sie ansetzte zu rufen, hielt er ihr den Mund zu. Auf ihre Bitte aufzuhören reagierte der Angeklagte nicht. M. H. arbeitete sodann in der Praktikumswoche weiter bei dem Angeklagten. Sie fuhr auch mit ihm an einen See zum Baden, wobei das Landgericht letztlich offen läßt, ob dies nach der Tat oder aber am Tattage selbst der Fall war. Die Strafanzeige gegen den Angeklagten wurde erstattet, nachdem das Mädchen sich etwa ein Jahr später mit ihrem Freund über „besondere geschlechtliche Erlebnisse” unterhalten und dabei auch von der Tat berichtet hatte.
Der nicht vorbestrafte Angeklagte hat die Tat bestritten. Das Landgericht folgt der Aussage der Zeugin M. H.. Eine Vergewaltigung hat es verneint, weil es jedenfalls an einer Verknüpfung von Gewalt und „Taterfolg” fehle. Der Geschlechtsverkehr habe bereits stattgefunden, als der Angeklagte die Arme des Mädchens festgehalten und ihm den Mund zugehalten habe, was damit lediglich „die Aufrechterhaltung” des Geschlechtsverkehrs ermöglicht habe. Zudem fehle es am Vorsatz des Angeklagten. Angesichts des passiven Verhaltens von M. H. habe der Angeklagte davon ausgehen müssen, daß das Mädchen sich in sein Schicksal füge und den Geschlechtsverkehr „zwar widerwillig, aber doch freiwillig” durchführe (UA S. 15). Seine Äußerung, es „tue ihr weh und er solle aufhören”, habe er auch dahin verstehen können, daß ihr der Verkehr „lediglich körperlich unangenehm” sei (UA S. 16).
Entscheidungsgründe
II.
Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten sind begründet.
1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts zur Täterschaft des bestreitenden Angeklagten hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand; sie ist lückenhaft und nicht tragfähig. Die tatsächliche Würdigung genügt zudem nicht den Anforderungen, die an die Bewertung der Glaubhaftigkeit der Aussage eines Hauptbelastungszeugen zu stellen sind, wenn – wie vorliegend – im wesentlichen Aussage gegen Aussage steht, objektive Beweisanzeichen fehlen und die Strafkammer im Blick auf ihre Aufklärungspflicht die Zuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen für geboten erachtet hat (vgl. dazu auch BGHSt 45, 164, 182).
a) Zieht der Tatrichter einen aussagepsychologischen Sachverständigen hinzu, so bedarf es in den Urteilsgründen regelmäßig nicht einer ins einzelne gehenden Darstellung von Konzeption, Durchführung und Ergebnissen der Begutachtung. Es reicht aus, daß die diesbezüglichen Ausführungen die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und methodischen Darlegungen in einer Weise enthalten, die zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit und sonstigen Rechtsfehlerfreiheit erforderlich sind (BGHSt 45, 164, 182).
Um die revisionsrechtliche Nachprüfung in diesem Sinne zu ermöglichen, wäre es hier geboten gewesen, näher auf die Aussageentstehung einzugehen sowie darzulegen und zu erörtern, welche Möglichkeiten als Erklärung für eine – unterstellt – unwahre Aussage der Zeugin M. H. in Betracht kommen konnten (sog. Unwahrhypothese; dazu BGHSt 45, 164, 167/168). Ob die vernommene Sachverständige bei ihrer Prüfung auf die Weise vorgegangen ist, daß sie sog. Hypothesen gebildet und sie mit den sonst erhobenen Fakten abgeglichen hat (BGHSt 45, 164, 168), ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen. Die Strafkammer allerdings hätte unter Berücksichtigung der Grundsätze der Aussagebewertung und der Sachleitungsbefugnis gegenüber der Sachverständigen die sich aufdrängende Möglichkeit bedenken und würdigen müssen, daß die Beschuldigung des Angeklagten durch die Zeugin erstmals in einem Gespräch der Zeugin mit ihrem jugendlichen Freund über „besondere geschlechtliche Erlebnisse” erhoben wurde, wobei sich zunächst der Freund „offenbart” hatte (UA S. 8). Vor diesem Entstehungshintergrund war die Möglichkeit einer erfundenen Geschichte aus Gründen, die auch im Verhältnis der Zeugin zu ihrem Freund liegen konnten, als naheliegende Hypothese im Urteil anzusprechen und zu würdigen. Die Strafkammer teilt indes bei Wiedergabe des Sachverständigengutachtens nach anderen, eher allgemein gehaltenen Ausführungen lediglich mit, „die Unwahrhypothesen” könnten verworfen werden (UA S. 8). Welche konkreten Hypothesen gemeint sind, ist dem Urteil nicht zu entnehmen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung hierzu fehlt.
Die Beweiswürdigung krankt zudem daran, daß Entstehung und Entwicklung der Aussage der Zeugin, auf die es hier ersichtlich mit ankommt, in einem wesentlichen Teil nicht mitgeteilt und erörtert werden. Es ist nicht erkennbar, wie es nach der Schilderung der Zeugin gegenüber ihrem Freund zur Anzeigeerstattung kam. Das wäre als Grundlage einer auch insoweit erschöpfenden Aussagebewertung und Beweiswürdigung aber erforderlich gewesen.
b) Zu Recht weist der Generalbundesanwalt auf weitere Mängel der Beweiswürdigung hin, die diese als lückenhaft erscheinen lassen: So hatte die Zeugin früher ausgesagt, sie habe sich auf Aufforderung des Angeklagten vor dem Geschlechtsverkehr selbst ausgezogen (UA S. 9), in der Beweisaufnahme indessen bekundet, der Angeklagte habe ihr die Hose ausgezogen (UA S. 5). Die Strafkammer meint, es handele sich dabei um ein untergeordnetes Detail, dem keine eigenständige Bedeutung zukomme (UA S. 9). Das trifft ersichtlich nicht zu. Ob sich das Tatopfer einer Sexualstraftat auf Aufforderung des Täters selbst entkleidet oder ob es ausgezogen wird, ist erfahrungsgemäß in aller Regel eine nachhaltig im Gedächtnis haftende Einzelheit der Tatbegehung. Werden hierzu unterschiedliche Angaben gemacht, bedürfen diese der Erklärung und einer nachvollziehbaren Einordnung in das Beweisgebäude. Das kann nicht dadurch ersetzt werden, daß die abweichenden Angaben mit einer sachlich nicht ausdruckskräftigen und im Zusammenhang auch nicht zutreffenden allgemeinen Wendung in ihrer Bedeutung herabgespielt werden. Damit bleibt der Tatrichter die systematische und sachliche Einordnung des Aussageverhaltens in diesem nicht unwesentlichen Punkte schuldig.
Dem Urteil fehlt darüber hinaus eine inhaltliche Bewertung der Aussage der Zeugin, der Angeklagte habe den Geschlechtsverkehr mit ihr nicht am selben Tag vollzogen, am dem sie gemeinsam mit ihm im Ho. See gebadet habe (UA S. 10). Vor dem Hintergrund der Einlassung des Angeklagten, er habe am ersten Tag des Betriebspraktikums mit der Zeugin im See gebadet und diese danach nach Hause gefahren, hält die Strafkammer es für möglich, daß das Baden im See und – wie der Zusammenhang der Urteilsgründe ergibt – der Geschlechtsverkehr am selben Tag stattfanden. Dem Angeklagten sei auf dem Heimweg vom See noch genügend Zeit für die Tat verblieben. Die Kammer meint, die Praktikumswoche der Zeugin habe zeitlich rekonstruiert werden müssen; der „datumsmäßigen Einordnung” der Tat einerseits und des Badens im See andererseits durch die Zeugin dürfe deshalb kein entscheidendes Gewicht beigelegt werden (UA S. 10). Damit verstellt sich die Kammer den Blick darauf, daß es hier vorrangig nicht um die Frage des Datums beider Ereignisse ging, sondern darum, ob sich beides am selben Tag zugetragen hat. Da die Strafkammer das für möglich hält, hätte sie den damit in einem wesentlichen Punkt gegebenen möglichen Widerspruch zur Aussage der Zeugin erörtern und sachlich behandeln müssen. Er konnte auf Erinnerungsschwäche oder auf eine Erinnerungstäuschung zurückgehen, ebenso aber auch ein Lügenindiz sein. Dabei war der Zusammenhang mit der Einlassung des Angeklagten zu bedenken, die das Landgericht insofern – hinsichtlich des angegebenen Tages des Besuchs am See – durchaus auch für widerlegt hätte erachten können. Das hat es jedoch nicht getan, sondern die Darstellung des Angeklagten dazu (Badeseebesuch am Tattag, dem Montag) für möglich gehalten. Dann aber mußte diese Frage in der bezeichneten Weise bei der inhaltlichen Bewertung der Aussage der Zeugin berücksichtigt werden, zumal die Einlassung des Angeklagten zum Ablauf dieses Tages von vier Zeugen in nicht näher dargelegten Punkten bestätigt worden war (UA S. 10).
Nach allem erweist sich die Beweiswürdigung des Landgerichts in der vorliegenden Form als nicht tragfähig. Schon dies führt zur Aufhebung des Urteils in vollem Umfang zu Gunsten des Angeklagten.
2. Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen ist allerdings auch die Annahme der Strafkammer rechtlich nicht haltbar, der Angeklagte habe keine Vergewaltigung begangen (§ 177 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 Nrn. 1, 3 StGB). Die Kammer geht daran vorbei, daß auch eine erst im Verlaufe des Geschlechtsverkehrs einsetzende Gewaltanwendung, mit der die Fortsetzung des Geschlechtsverkehrs gegen nun erst beginnenden Widerstand des Opfers erzwungen wird, für die tatbestandliche Verknüpfung zwischen Nötigungsmittel und Nötigungserfolg genügt (BGH GA 1970, 57).
Die Würdigung des Landgerichts zur subjektiven Tatseite, der Angeklagte habe davon ausgehen „müssen”, der Zeugin sei der Geschlechtsverkehr unangenehm, sie habe sich aber letztlich „freiwillig” in ihr Schicksal gefügt, wird von den Feststellungen nicht getragen. Diese belegen ohne weiteres Gewaltanwendung durch den Angeklagten und nach den Umständen auch noch hinreichend den entgegenstehenden Willen der Zeugin (es tue ihr weh, er solle aufhören; Festhalten der Arme, Zuhalten des Mundes, um ein Schreien zu verhindern) und damit den wenigstens bedingten Vorsatz des Angeklagten.
Ebensowenig kann der Auffassung des Landgerichts gefolgt werden, die Zeugin habe sich nicht in einer schutzlosen Lage befunden, „weil sie nicht konkret wehrlos” gewesen sei (§ 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB, UA S. 16). Eine solche Lage besteht für das Opfer regelmäßig dann, wenn es sich dem Täter allein gegenübersieht und auf fremde Hilfe nicht rechnen kann, wobei es allerdings eines gänzlichen Beseitigens jeglicher Verteidigungsmöglichkeit nicht bedarf (BGHSt 44, 238, 232; vgl. weiter BGHSt 45, 253, 257 ff.). Das Landgericht hätte im Blick darauf nähere Feststellungen zur Tatörtlichkeit treffen müssen, um auf dieser Grundlage die Frage der Schutzlosigkeit und einer etwaigen Ausnutzung durch den Angeklagten zu prüfen. Anlaß dazu bestand, weil der Angeklagte von einer Kreisstraße abgebogen und ca. 70 Meter weit in einen Wald hineingefahren war. Daß die Zeugin M. H., die von kleiner und äußerst zierlicher Statur war (UA S. 6), sich möglicherweise stärker als geschehen hätte wehren können, steht der Annahme ihrer Schutzlosigkeit nicht entgegen.
Das Urteil unterliegt danach auch auf die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft der Aufhebung. Auf die weiteren Beanstandungen des angefochtenen Urteils kommt es deshalb nicht an.
3. Der Senat hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 StPO). Der neue Tatrichter wird zu erwägen haben, ob er mit einer etwaigen erneuten aussagepsychologischen Begutachtung der Zeugin M. H. einen anderen Sachverständigen beauftragt.
Unterschriften
Schäfer, Nack, Boetticher, Schluckebier, Hebenstreit
Fundstellen
Haufe-Index 2559388 |
NStZ 2003, 165 |
StV 2003, 61 |
StraFo 2003, 56 |