Verfahrensgang
LG Dessau-Roßlau (Urteil vom 06.12.2011) |
Tenor
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau vom 6. Dezember 2011, soweit es den Angeklagten S. betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts Magdeburg zurückverwiesen.
Tatbestand
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Totschlags aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision.
Rz. 2
Das – vom Generalbundesanwalt vertretene – Rechtsmittel hat schon mit der Sachrüge Erfolg, so dass es auf die verfahrensrechtlichen Beanstandungen der Staatsanwaltschaft nicht ankommt.
I.
Rz. 3
1. Die zugelassene Anklage hat dem Angeklagten zur Last gelegt, am 16. September 2009 in seiner Wohnung mittels stumpfer Gewalt so auf den Kopf des am 12. Februar 2008 geborenen Sohnes seiner Lebensgefährtin Christin H., Jason H., eingewirkt zu haben, dass dieser ausgedehnte Hautunterblutungen im Gesicht sowie infolge des Abrisses von zwei Brückenvenen sich über die gesamte rechte Großhirnhalbkugel erstreckende exzessive Blutungen unter die harte Hirnhaut erlitt, die eine operative Entlastung am selben Tag erforderten und woran Jason H. trotz einer weiteren Operation am 22. September 2009 verstarb. Dem Angeklagten sei dabei bewusst gewesen, dass er bei einer derart erheblichen Gewalteinwirkung auf den Kopf eines Kleinkindes dessen Tod verursachen könne, was ihm gleichgültig gewesen sei. Der Kindesmutter wurde in der Anklage nur eine Misshandlung von Jason am 12. oder 13. Juli 2009 zur Last gelegt. Auch sie wurde – von der Staatsanwaltschaft nicht angegriffen – freigesprochen.
Rz. 4
2. Der Angeklagte hat die ihm zur Last gelegte Tat bestritten. In der Hauptverhandlung hat er zunächst ausgesagt, dass das spätere Tatopfer, nachdem Christin H. die Wohnung verlassen hatte, zu schreien und so stark zu strampeln begonnen habe, dass ihm, dem Angeklagten, das Kind, das er auf seinem Arm habe beruhigen wollen, aus Kopf- bzw. Brusthöhe auf die hart gepolsterte Couch gefallen sei. Er sei bei dem Versuch, Jason aufzufangen, mit seinem vollen Körpergewicht von neunzig Kilogramm auf diesen gefallen. Danach sei Jason plötzlich ganz ruhig gewesen und habe seinem Eindruck nach nicht mehr geatmet, woraufhin er seine Lebensgefährtin und kurz darauf den Notarzt angerufen habe. Den Vorwurf, Jasons Kopf gegen die Stirnwand des Kinderbettes geschlagen zu haben, hat der Angeklagte in Abrede gestellt und sodann weiter ausgesagt, er habe Jason zwei- bis dreimal für ca. zehn Sekunden kräftig geschüttelt und dabei das Gleichgewicht verloren. Im Fallen auf das Kind habe er dessen Kopf mit seinem Knie getroffen. Bei seiner polizeilichen Vernehmung am 17. September 2009 hatte sich der Angeklagte demgegenüber dahin eingelassen, er habe den schreienden Jason aus dem Kinderbett gehoben und auf die Couch gesetzt, um dem Kind etwas zu trinken zu holen. Als er zurückgekommen sei, habe er gesehen, dass Jason auf der Couch umgefallen sei und die Augen verdreht habe. Dann habe er, der Angeklagte, seine Freundin angerufen und den Notarzt alarmiert. In einer weiteren Vernehmung bei der Polizei am 5. Oktober 2009 hatte der Angeklagte ähnliche Angaben gemacht und diese dahin ergänzt, Jason habe nach dem Fall auf die Couch die Augen „verleiert” und in Abständen nach Luft geschnappt. Einer Rettungssanitäterin gegenüber hatte der Angeklagte noch in der Wohnung angegeben, Jason habe im Kinderbett geschrien und sei dann plötzlich – noch im Bett – umgefallen; von einem Sturz hat er nichts erwähnt.
Rz. 5
3. Die Strafkammer hat sich von der Richtigkeit der „auch nur im Rahmen einer Verständigung” abgegebenen Einlassung des Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht überzeugen können. Vor diesem Hintergrund vermittle die Einlassung den Eindruck einer konstruierten Aussage mit dem Ziel, das Geschehen unter Inkaufnahme des geringstmöglichen Schuldvorwurfs zu erklären.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 6
Der Freispruch hat keinen Bestand. Die Ausführungen des Landgerichts werden den gemäß § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO an ein freisprechendes Urteil zu stellenden Anforderungen in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.
Rz. 7
1. Zum einen enthalten die Urteilsgründe keine Feststellungen zu Werdegang, Vorleben und Persönlichkeit des Angeklagten.
Rz. 8
a) Solche Feststellungen sind zwar in erster Linie bei verurteilenden Erkenntnissen notwendig, um nachvollziehen zu können, ob der Tatrichter die wesentlichen Anknüpfungstatsachen für die Strafzumessung (§ 46 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 StGB) ermittelt und berücksichtigt hat. Aber auch bei freisprechenden Urteilen ist der Tatrichter aus sachlich-rechtlichen Gründen zumindest dann zu solchen Feststellungen verpflichtet, wenn diese für die Beurteilung des Tatvorwurfs eine Rolle spielen können und deshalb zur Überprüfung des Freispruchs durch das Revisionsgericht auf Rechtsfehler hin notwendig sind; das ist auch dann der Fall, wenn vom Tatrichter getroffene Feststellungen zum Tatgeschehen ohne solche zu den persönlichen Verhältnissen nicht in jeder Hinsicht nachvollziehbar und deshalb lückenhaft sind (vgl. dazu BGH, Urteile vom 23. Juli 2008 – 2 StR 150/08, BGHSt 52, 314, 315; vom 13. Oktober 1999 – 3 StR 297/99, NStZ 2000, 91, und vom 14. Februar 2008 – 4 StR 317/07, NStZ-RR 2008, 206, 207). So liegt es hier.
Rz. 9
b) Die Notwendigkeit, die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten umfassend in den Blick zu nehmen und nähere Feststellungen zu dessen Lebenslauf, Werdegang und Persönlichkeit zu treffen und in den Urteilsgründen darzulegen, ergibt sich im vorliegenden Fall bereits aus der ihm zum Vorwurf gemachten Straftat. Sie beruht auf einer Handlung, die sich im familiären, häuslichen Bereich ereignet haben soll. Ist ein solcher Vorwurf, wie hier, von erheblichem Gewicht, liegt es nahe, dass der Persönlichkeitsentwicklung der Beteiligten, insbesondere des der Tat Beschuldigten, und seinen individuellen Lebensumständen Bedeutung auch für die Beurteilung des Tatvorwurfs zukommen kann. Dies gilt nicht nur, wenn der Verdacht einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung besteht, sondern gleichermaßen, wenn der Vorwurf eine Gewalttat im Verhältnis von Eltern bzw. Erziehungsberechtigten zu ihren Kindern zum Gegenstand hat. Schon deshalb waren insoweit detaillierte Feststellungen geboten, die genaueren Aufschluss über die Persönlichkeit des Angeklagten und dessen Lebensumstände hätten geben können, was gegebenenfalls – etwa im Hinblick auf eine mögliche Überlastungssituation – Rückschlüsse auf den Tatvorwurf zugelassen hätte.
Rz. 10
c) Auch vor dem Hintergrund der wenigen zum Tatvorwurf getroffenen Feststellungen hätten die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten nicht unerörtert bleiben dürfen. Danach zeigten sich bei Jason am Vormittag des 16. September 2009 blaue Flecken im Gesicht. Auf der Festplatte des Computers der Mutter des Tatopfers wurde ein von dem Angeklagten am 11./12. September 2009 aufgenommener Videofilm sichergestellt, auf dem Jason mit massiven Hämatomen zu sehen ist. Dass eingehende Feststellungen zum persönlichen Hintergrund – auch unter Berücksichtigung der gegen die Mutter des Tatopfers erhobenen Vorwürfe der Misshandlung von Schutzbefohlenen – hier möglicherweise geeignet gewesen wären, angesichts der schwierigen Beweislage den gegen den Angeklagten erhobenen Tatvorwurf zu erhellen, liegt jedenfalls nicht fern.
Rz. 11
2. Das Landgericht hat auch keine den Anforderungen an ein freisprechendes Urteil entsprechende Würdigung der Beweise vorgenommen.
Rz. 12
a) Es ist regelmäßig verfehlt, die Einlassung des Angeklagten und die Aussagen sämtlicher Zeugen und Sachverständigen der Reihe nach und in ihren Einzelheiten mitzuteilen. Das kann die Besorgnis begründen, der Tatrichter sei davon ausgegangen, eine breite Darstellung der erhobenen Beweise könne die gebotene eigenverantwortliche Würdigung ersetzen. Darin liegt regelmäßig ein Rechtsfehler (BGH, Beschluss vom 6. Mai 1998 – 2 StR 57/98, NStZ 1998, 475; vgl. auch BGH, Beschluss vom 16. Dezember 2003 – 3 StR 417/03, wistra 2004, 150). Vielmehr muss eine rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung eine Abwägung und Gewichtung der einzelnen Beweise enthalten (BGH, Beschluss vom 6. Mai 1998 – 2 StR 57/98, aaO). Eine solche lassen die Urteilsgründe hier nicht erkennen.
Rz. 13
b) Die Ausführungen des Landgerichts durften sich nicht darin erschöpfen, die Einlassungen des Angeklagten in der Hauptverhandlung und im Ermittlungsverfahren ebenso wie die Aussagen seiner Lebensgefährtin in wesentlichen Teilen wörtlich in die Urteilsgründe aufzunehmen. Entsprechendes gilt für die Bekundungen der gerichtsmedizinischen Sachverständigen, denen die Strafkammer zwar ausweislich der Urteilsgründe gefolgt ist, deren Erkenntnisse aber weder im Hinblick auf einzelne den Angeklagten belastende Indiztatsachen gewichtet oder mit dem Beweisergebnis im Übrigen in Beziehung gesetzt werden.
Rz. 14
c) Ferner begegnet die – losgelöst vom Ergebnis der Beweisaufnahme im Übrigen – erfolgte Bewertung der Einlassung des Angeklagten in der Hauptverhandlung vor dem Hintergrund der in den Urteilsgründen erwähnten Verständigung als nicht glaubhaft durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Rz. 15
Wie der Bundesgerichtshof schon mehrfach betont hat, darf eine Verständigung über das Strafmaß nicht dazu führen, dass ein so zustande gekommenes Geständnis dem Schuldspruch zu Grunde gelegt wird, ohne dass sich der Tatrichter von dessen Richtigkeit überzeugt (vgl. nur BGH, Beschluss vom 15. Januar 2003 – 1 StR 464/02, BGHSt 48, 161, 167). Auch für die Bewertung eines Geständnisses gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Senatsbeschluss vom 19. August 1993 – 4 StR 627/92, BGHSt 39, 291, 303; zur Darlegung in den Urteilsgründen BGH, Urteil vom 10. Juni 1998 – 2 StR 156/98, NJW 1999, 370, 371 mwN). Mag die Bewertung der Strafkammer, die Einlassung des Angeklagten vermittle den Eindruck eines mit einem bestimmten Ziel zusammengestellten Konstrukts, danach für sich genommen aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden sein, so liegt, worauf der Generalbundesanwalt zutreffend hingewiesen hat, der Rechtsfehler darin, dass das Landgericht bei dieser Erwägung stehen geblieben ist und die einander widersprechenden Einlassungen des Angeklagten weder im Einzelnen einer Bewertung unterzogen noch mit dem übrigen Beweisergebnis in Beziehung gesetzt hat. Damit hat es sich den Blick dafür verstellt, dass Teile der Angaben des Angeklagten, etwa in Zusammenschau mit den Ausführungen der medizinischen Sachverständigen, geeignet sein könnten, diesen im Sinne des Anklagevorwurfs zu belasten. Abgesehen davon hätte es im vorliegenden Fall – über die Mindestanforderungen des § 267 Abs. 3 Satz 5 StPO hinaus (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 267 Rn. 23a mwN) – der Mitteilung von Einzelheiten zum Inhalt der erwähnten Verständigung bedurft, um die Beweiswürdigung der Strafkammer zum Einlassungsverhalten des Angeklagten ausreichend auf Rechtsfehler überprüfen zu können (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 6. November 2007 – 1 StR 370/07, BGHSt 52, 78, 82 ff.).
III.
Rz. 16
Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).
Unterschriften
Mutzbauer, Cierniak, Franke, Bender, Quentin
Fundstellen
Haufe-Index 3492148 |
NStZ-RR 2013, 52 |
StV 2013, 194 |