Verfahrensgang
LG Düsseldorf (Urteil vom 08.12.2017) |
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 8. Dezember 2017 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Tatbestand
Rz. 1
Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren, zu dem eine Anklage wegen gefährlicher Körperverletzung hinzuverbunden wurde, den Antrag der Staatsanwaltschaft, den Beschuldigten gemäß § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen, zurückgewiesen und ihn von dem Anklagevorwurf wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen. Mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, wendet sich die Staatsanwaltschaft gegen die Ablehnung des Antrags auf Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
Rz. 2
Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der Beschuldigte seit etwa 30 Jahren an einer chronifizierten Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie, die sich paranoid-halluzinatorisch auswirkt. Die damit einhergehende verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit führt dazu, dass er alles, was in seiner Umwelt geschieht, unreflektiert auf sich bezieht, sich deshalb angegriffen fühlt und gegenüber anderen schnell ausfallend sowie beleidigend wird, ohne tatsächlich einen Grund dafür zu haben. Da er sich vermehrt in Situationen wähnt, in denen er meint, sich verteidigen zu müssen, führt er praktisch immer eine Reizstoffsprühdose (früher vorwiegend CS-Gas, in letzter Zeit Pfefferspray) bei sich.
Rz. 3
Zwischen dem 30. April 2013 und dem 28. Oktober 2015 war der Beschuldigte in fünf Fällen an Auseinandersetzungen beteiligt, bei denen er sich krankheitsbedingt unter Verkennung der Realität angegriffen fühlte. In deren Verlauf verletzte er die vermeintlichen Angreifer, indem er ihnen CS-Gas bzw. Pfefferspray ins Gesicht sprühte. Die Geschädigten erlitten dadurch jeweils ein schmerzhaftes Brennen der Augen, das zumindest einige Minuten lang andauerte und teilweise erst durch eine Augenspülung im Krankenhaus behoben werden konnte; außerdem zogen sich die Geschädigten jeweils mehrere Stunden anhaltende Rötungen der Augen zu. Der Beschuldigte war in allen Fällen schuldunfähig (§ 20 StGB), weil seine Unrechtseinsichtsfähigkeit krankheitsbedingt aufgehoben war.
Rz. 4
Von der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hat die Strafkammer aufgrund folgender Erwägungen abgesehen:
Rz. 5
Der Beschuldigte habe zwar in allen Fällen den objektiven Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) verwirklicht, und es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass er auch künftig gleichgelagerte Taten begehen, insbesondere CS-Gas oder Pfefferspray gegenüber anderen einsetzen werde. Bei den zu erwartenden Taten handele es sich aber nicht um solche, durch welche die Opfer im Sinne des § 63 Satz 1 StGB seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder gefährdet würden.
Rz. 6
Nach dem in der Hauptverhandlung erstatteten rechtsmedizinischen Gutachten zu den Auswirkungen von CS-Gas oder Pfefferspray sei davon auszugehen, dass CS-Gas – je nach „Kontamination” und persönlicher Empfindlichkeit – unangenehm bis deutlich schmerzhaft sein könne. Ein durch Kontakt mit den Augen hervorgerufenes Brennen in den Augen könne ohne Behandlung einige Minuten bis hin zu mehreren Stunden anhalten. Wenn das CS-Gas eingeatmet werde, verursache es Reizungen der Atemwege und könne Husten oder ein Brennen in den Bronchien zur Folge haben. Bei „nicht vorgeschädigten” Personen verbleibe kein gesundheitlicher Schaden. Bei „erheblich vorgeschädigten” Personen, beispielsweise Asthmatikern, könne der Reizstoff demgegenüber zu erheblichen Beeinträchtigungen führen und schwere Atemnot sowie einen lebensbedrohlichen Zustand hervorrufen.
Rz. 7
Pfefferspray verursache – je nach „Kontamination” und persönlicher Empfindlichkeit – auf der Haut ein deutliches Brennen und Rötungen, nach Kontakt mit den Augen wirke es mitunter erheblich schmerzhaft. Unbehandelt könne das Brennen (mit abnehmender Tendenz) durchaus einige Stunden anhalten, bis die Symptome im Regelfall am Folgetag verschwunden seien.
Rz. 8
Die danach aufgrund künftiger Taten des Beschuldigten wahrscheinlichen Verletzungen anderer seien noch als leichte körperliche Schädigungen anzusehen, nicht jedoch dem für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB erforderlichen Bereich mittlerer Kriminalität zuzurechnen.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 9
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet. Die Annahme des Landgerichts, dass die von dem Beschuldigten zukünftig zu erwartenden Taten nicht geeignet seien, seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu rechtfertigen, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Rz. 10
1. Im Hinblick auf den im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose gemäß § 63 Satz 1 StGB anzulegenden Prüfungsmaßstab gilt:
Rz. 11
Nach der am 1. August 2016 in Kraft getretenen neuen Fassung der Vorschrift durch das Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 des Strafgesetzbuches und zur Änderung anderer Vorschriften vom 8. Juli 2016 (BGBl. I S. 1610) ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Mit der Neuregelung sollten die Voraussetzungen konkretisiert werden, unter denen „erhebliche” rechtswidrige Taten seitens des Täters zu erwarten sind, um die Rechtspraxis noch stärker für das mit Verfassungsrang ausgestattete Erfordernis der Verhältnismäßigkeit zu sensibilisieren (BT-Drucks. 18/7244, S. 17). Dabei hat sich der Gesetzgeber an den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen orientiert und im Hinblick auf die zu erwartenden Taten zwischen „Vermögensdelikten” im weitesten Sinne sowie gegen höchstpersönliche Rechtsgüter gerichteten Taten differenziert (BT-Drucks. aaO, S. 18, 20). Bei Vermögensdelikten im weitesten Sinne wollte er die Schwelle für die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gegenüber dem bisherigen Rechtszustand anheben. Deshalb sollen in diesem Bereich nunmehr nur noch solche Taten eine Unterbringung nach § 63 StGB rechtfertigen können, durch welche „schwerer” wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird (BT-Drucks. aaO, S. 20 f.). Bei Taten, die gegen höchstpersönliche Rechtsgüter gerichtet sind, insbesondere bei Körperverletzungsdelikten, wollte der Gesetzgeber die Anforderungen für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus demgegenüber nicht anheben. Insoweit beschränkte sich das Ziel der Neuregelung darauf, die in der Rechtsprechung bereits angelegte, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in zunehmendem Maße Bedeutung beimessende Entwicklung aufzugreifen und zu verstetigen, indem der frühere Gesetzestext – im Wesentlichen klarstellend – durch die Bestimmung ergänzt wurde, dass Taten zu erwarten sein müssen, durch welche die Opfer körperlich oder seelisch „erheblich” geschädigt oder „erheblich” gefährdet werden (BT-Drucks. aaO, S. 18, 42; BGH, Beschluss vom 3. August 2016 – 4 StR 305/16, juris; Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl., § 63 Rn. 1).
Rz. 12
Dementsprechend ist nach wie vor davon auszugehen, dass nur solche Taten als erheblich im Sinne des § 63 Satz 1 StGB anzusehen sind, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden empfindlich bzw. schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen, und damit zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind (vgl. BT-Drucks. aaO, S. 18; BGH, Beschluss vom 22. Februar 2011 – 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011, 202 mwN). Das kommt bei Gewalt- und Aggressionsdelikten regelmäßig in Betracht (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 8. Dezember 2011 – 2 BvR 2181/11, NJW 2012, 513, 514; BGH, Beschlüsse vom 22. Februar 2011 – 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011, 202; vom 25. April 2012 – 4 StR 81/12, juris Rn. 5), ist indes stets anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls zu prüfen (BT-Drucks. aaO, S. 18; BGH, Beschluss vom 22. Februar 2011 – 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011, 202 mwN). Einfache Körperverletzungen im Sinne von § 223 Abs. 1 StGB, die nur mit geringer Gewaltanwendung verbunden sind und die Erheblichkeitsschwelle der tatbestandlich vorausgesetzten Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit lediglich unwesentlich überschreiten, reichen grundsätzlich nicht aus; das gilt beispielsweise für eine einfache Ohrfeige (BGH, Beschluss vom 28. August 2012 – 3 StR 304/12, juris Rn. 4 f.), das Ziehen an den Haaren, einen Stoß gegen die Brust oder einen Kniff ins Gesäß (BT-Drucks. aaO, S. 19). Nicht erforderlich ist hingegen, dass Straftaten zu erwarten sind, durch welche die Opfer körperlich oder seelisch „schwer” geschädigt werden (BT-Drucks. aaO, S. 19). Dementsprechend sind etwa Faustschläge ins Gesicht in der Regel bereits mittlerer Kriminalität zuzurechnen, insbesondere wenn sie Platzwunden zur Folge haben, die ärztlich versorgt werden müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 10. August 2010 – 3 StR 268/10, juris).
Rz. 13
2. Daran gemessen hat das Landgericht die künftig von dem Beschuldigten zu erwartenden rechtswidrigen Taten – gefährliche Körperverletzungen im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB durch den Einsatz von CS-Gas oder Pfefferspray – zu Unrecht als nicht erheblich im Sinne von § 63 Satz 1 StGB angesehen. Den Urteilsgründen zufolge handelt es sich dabei keineswegs um lediglich niedrigschwellige Gewaltdelikte. Da der Einsatz von CS-Gas oder Pfefferspray nach den Ausführungen der sachverständig beratenen Strafkammer selbst bei „nicht vorgeschädigten” Personen zu „deutlichen” bzw. „erheblichen” Schmerzen führt (UA S. 17, 18), die einige Minuten bis hin zu mehreren Stunden anhalten, wird die Erheblichkeitsschwelle der von § 223 Abs. 1 StGB tatbestandlich vorausgesetzten Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit der Tatopfer mehr als nur unwesentlich überschritten. So stellt schon ein nur einige Minuten anhaltendes schmerzhaftes Brennen in den Augen eine Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens und damit der körperlichen Unversehrtheit dar, die sich deutlich von Fallgestaltungen wie einer Ohrfeige, einem Stoß gegen die Brust oder einem Ziehen an den Haaren abhebt. Das gilt erst recht für Reizzustände, die – etwa weil eine Augenspülung im Krankenhaus erforderlich ist – einen längeren Zeitraum andauern.
Rz. 14
3. Die Sache bedarf deshalb neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Aufhebung des Urteils erfasst auch den Freispruch, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass das neue Tatgericht an Stelle der Unterbringung eine Strafe verhängen wird (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO; s. dazu BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2013 – 3 StR 349/13, juris Rn. 8 mwN).
Unterschriften
Becker, Gericke, Tiemann, Berg, RiBGH Hoch befindet sich im Urlaub und ist daher gehindert zu unterschreiben. Becker
Fundstellen
Haufe-Index 11988181 |
NStZ-RR 2018, 305 |