Verfahrensgang
LG München I (Urteil vom 22.10.2001) |
Tenor
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts München l vom 22. Oktober 2001 im Fall 1 der Urteilsgründe sowie im Gesamtstrafenausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung und wegen Vergewaltigung zu der Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt. Mit ihrer auf die Verletzung des § 264 StPO gestützten Revision beanstandet die Staatsanwaltschaft, daß der erste Vorfall (Fall 1) nicht unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Vergewaltigung geprüft worden ist. Das auf den Fall 1 und den Gesamtstrafenausspruch beschränkte Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Gegenstand der Verurteilung sind Taten zum Nachteil der Bekannten des Angeklagten, J. S., am 18. Dezember 2000 (Fall 1) und 20. Dezember 2000 (Fall 2). Zu dem ersten Vorfall vom 18. Dezember 2000 ist festgestellt:
Die Geschädigte hatte den Angeklagten nach dessen Entlassung aus der Strafhaft in ihre Wohnung aufgenommen. Dabei hatte sie ihm erklärt, er könne nur vorübergehend bei ihr wohnen, da sie eine neue Beziehung mit S. L. eingegangen sei. Nachdem S. L. am Morgen des 18. Dezember 2000 die Wohnung verlassen hatte, kam der Angeklagte ins Schlafzimmer und legte sich neben die Geschädigte ins Bett. Ihrer Aufforderung, das Schlafzimmer zu verlassen, kam er nicht nach. Es kam zu einem Kampf im Bett, bei dem der Angeklagte die Geschädigte massiv würgte. Erst als diese zu röcheln begann, löste der Angeklagte den Würgegriff mit den Worten „Ich bring Dich um”. Dieser (erste) Teilakt war angeklagt und insoweit hat das Landgericht den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt.
Zu dem weiteren Geschehen ist festgestellt: „Anschließend führte er, gegen den ausdrücklich geäußerten Willen der Geschädigten, mit dieser den Vaginalverkehr aus.” Danach verließ der Angeklagte die Wohnung. Die Nichtaburteilung dieser sexuellen Handlung hat das Landgericht damit begründet, daß „diese Vergewaltigung von der Geschädigten bei der Anzeigeerstattung nicht erwähnt worden und somit nicht Gegenstand der Anklage und des Eröffnungsbeschlusses” gewesen sei.
2. Die Revision rügt zu Recht einen Verstoß gegen § 264 StPO.
a) Nach § 264 StPO ist Gegenstand der Urteilsfindung die in der Anklage bezeichnete Tat, und zwar so, „wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt.”
Die Tat als Gegenstand der Urteilsfindung ist der geschichtliche Vorgang, auf den Anklage und Eröffnungsbeschluß hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Hierbei handelt es sich um einen eigenständigen Begriff; er ist weiter als derjenige der Handlung im Sinne des sachlichen Rechts. Zur Tat im prozessualen Sinn gehört – unabhängig davon, ob Tateinheit (§ 52 StGB) oder Tatmehrheit (§ 53 StGB) vorliegt – das gesamte Verhalten des Täters, soweit es nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang darstellt. Somit umfaßt der Lebensvorgang, aus dem die zugelassene Anklage einen strafrechtlichen Vorwurf herleitet, alle damit zusammenhängenden und darauf bezüglichen Vorkommnisse, auch wenn diese Umstände in der Anklageschrift nicht ausdrücklich erwähnt sind (BGH NStZ 1992, 451; NStZ 1995, 46; NStZ-RR 1996, 98; NStZ 1997, 127; NStZ 1997, 446; NStZ 2000, 208; NStZ 2001, 440).
Bei der Beurteilung dieser Frage kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an. Entscheidend ist, ob zwischen den in Betracht kommenden Verhaltensweisen – unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung – ein enger sachlicher Zusammenhang besteht; zeitliches Zusammentreffen der einzelnen Handlungen ist weder erforderlich noch ausreichend (BGH NStZ 1992, 451).
b) Nach diesen Maßstäben kommt in Betracht, daß das Würgen (erster Teilakt) und die „anschließend” verübte sexuelle Handlung (zweiter Teilakt) einen einheitlichen geschichtlichen Lebensvorgang bilden. Wenn, was näherer Feststellungen bedarf, der zweite Teilakt in engem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang zu dem Würgevorgang steht, bilden beide Teilakte eine Tat im Sinne des § 264 StPO.
Wenn der Angeklagte den Entschluß zur Ausübung des Geschlechtsverkehrs nicht schon bei der Gewaltausübung im ersten Teilakt gefaßt hätte (dann läge Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB vor), sondern erst nach dem Würgevorgang, käme eine – tateinheitlich begangene – Vergewaltigung durch die beiden anderen in § 177 Abs. 1 StGB bezeichneten Nötigungsmittel in Betracht. Dann liegt es nahe, daß er die durch das vorausgegangene Würgen geschwächte körperliche Konstitution der Geschädigten ganz bewußt zur Durchführung des Geschlechtsverkehrs ausgenutzt hat. Eine derartige finale Verknüpfung der vorausgegangenen körperlichen Einwirkung könnte als fortwirkende Gewalt zum einen das Merkmal der Drohung (§ 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB) erfüllen (std. Rspr., vgl. nur BGH NStZ-RR 1996, 203; BGHR StGB § 178 Abs. 1 Drohung 1; BGHR StGB § 177 Abs. 1 Drohung 8; BGH, Beschluß vom 18. November 1997 – 4 StR 546/97). Zum anderen kommt in Betracht, daß der Angeklagte die schutzlose Lage (§ 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB) der Geschädigten ausgenutzt hat (vgl. BGHSt 45, 253; BGH NStZ 1999, 30; NStZ 2000, 419).
Aber selbst wenn zwischen dem ersten und dem zweiten Teilakt ein größerer zeitlicher Abstand bestünde, der zur Annahme von Tatmehrheit zwischen der gefährlichen Körperverletzung und der Vergewaltigung führen müßte, läge aufgrund der Gesamtumstände wohl noch eine Tat im prozessualen Sinne vor.
c) Die Verletzung des § 264 StPO zwingt deshalb zur Aufhebung der Verurteilung im Fall 1. Auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen kann der Senat den Schuldspruch nicht selbst ändern; auch eine Aufrechterhaltung von Feststellungen ist nicht möglich. Die danach gebotene Teilaufhebung des Urteils führt zugleich zum Wegfall der Gesamtstrafe.
Unterschriften
Schäfer, Nack, Wahl, Schluckebier, Kolz
Fundstellen
Haufe-Index 2559376 |
NStZ-RR 2003, 82 |
StraFo 2003, 13 |
LL 2003, 349 |