Leitsatz (amtlich)
Zur schutzlosen Lage aufgrund von Umständen, die in der Person des Opfers begründet sind.
Normenkette
StGB § 177 Abs. 1 Nr. 3
Verfahrensgang
LG Oldenburg (Urteil vom 18.03.2002) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 18. März 2002 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in vier Fällen, wegen versuchter Vergewaltigung und wegen sexueller Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Vom Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs eines Kindes hat es ihn freigesprochen. Gegen die Verurteilung richtet sich die Revision des Angeklagten. Das Urteil hält der sachlichrechtlichen Überprüfung nicht stand, so daß es auf die von dem Beschwerdeführer vorgebrachten Verfahrensrügen nicht ankommt.
1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Beruht – wie hier – die Überzeugung des Gerichts von der Täterschaft des Angeklagten allein auf der Aussage der einzigen Be- lastungszeugin, ohne daß weitere belastende Indizien vorliegen, so sind an die Überzeugungsbildung des Tatrichters strenge Anforderungen zu stellen. Der Tatrichter muß sich bewußt sein, daß die Aussage dieser Zeugin einer besonders gründlichen Glaubhaftigkeitsprüfung zu unterziehen ist, zumal der Angeklagte in solchen Fällen wenig Verteidigungsmöglichkeiten durch eigene Äußerungen zur Sachlage besitzt. Eine lückenlose Gesamtwürdigung ist dann von besonderer Bedeutung (vgl. BGHR StPO § 261 Indizien 1, 2; StV 1996, 582; 1997, 513; NStZ-RR 1998, 16). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, daß der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1, 13; § 267 Abs. 1 Satz 1 Beweisergebnis 8; BGHR StGB § 176 Abs. 1 Beweiswürdigung 3 m. w. N.).
Der Angeklagte hatte im Ermittlungsverfahren die Tatvorwürfe pauschal bestritten und sich erst während der Hauptverhandlung dahin eingelassen, es sei in vier Fällen mit der Nebenklägerin zu einvernehmlichen, im wesentlichen sogar von ihr initiierten Sexualkontakten gekommen. Das Landgericht hat den Angeklagten allein aufgrund der Angaben der Nebenklägerin, seiner Schwiegertochter, verurteilt.
Die Beweiswürdigung ist angesichts der Konstellation „Aussage gegen Aussage” insoweit lückenhaft, als sie keine ausreichenden Angaben zur Entwicklung der Aussage und zu deren Konstanz enthält. Das Urteil verhält sich lediglich zur Aussageentstehung. Dazu teilt es mit, daß die Nebenklägerin ihrem Ehemann „nach und nach alle Einzelheiten” der Vorfälle berichtet und sich bei der ersten Erzählung hatte aus dem fahrenden Auto stürzen wollen. Wie sich bei dieser stückweisen Aufdeckung die Aussage entwickelt, ob es sich dabei um Ergänzungen, Erweiterungen oder Korrekturen der Aussage gehandelt hat, ist dem Urteil nicht zu entnehmen. Vorliegend hätte sich die Darstellung der Aussageentwicklung auch darauf erstrecken müssen, ob und ggf. ab wann die Nebenklägerin Kenntnis davon hatte, daß dem Angeklagten auch ein sexueller Mißbrauch ihrer Tochter zum Vorwurf gemacht worden war. In einer solchen Kenntnis könnte ein mögliches Motiv für eine Falschbelastung des Angeklagten liegen.
Die Beurteilung der Aussage als „in sich widerspruchsfrei und überzeugend” vermag den Mangel nicht auszugleichen. Das gilt um so mehr, als das Landgericht diese Wertung im wesentlichen auf das wenig aussagekräftige Verhalten der Zeugin während der Hauptverhandlung und gegenüber Fami- lienmitgliedern stützt.
2. Die Verurteilung des Angeklagten wegen Vergewaltigung bzw. wegen versuchter Vergewaltigung in den Fällen II. 1 bis 5 der Urteilsgründe könnte auch deshalb nicht bestehen bleiben, weil die vom Landgericht angenommene Verwirklichung der Tatbestandsvariante des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB (Nötigung unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist) von den Feststellungen nicht getragen wird.
Danach verlangte der Angeklagte in zwei Fällen auf einem Autobahnparkplatz von seiner Schwiegertochter den Oralverkehr (Fälle II. 1 und 2). Diese kam der Aufforderung jeweils „aus Angst vor dem Angeklagten nach”. Einen Monat später forderte der Angeklagte die Nebenklägerin, die ihn in seinem Haus besucht hatte, auf, sich auszuziehen, weil er mit ihr oral verkehren wollte (Fall II. 3). Als sie sich „aus Angst vor dem Angeklagten” anschickte, die Kleidung abzulegen, klingelte eine Tochter der Nebenklägerin an der Haustür. Nachdem der Angeklagte geöffnet hatte, verließ die Nebenklägerin das Haus. In zwei Fällen erschien der Angeklagte im Haus der Nebenklägerin (Fälle II. 4 und 5). Die Nebenklägerin kam dem Verlangen des Angeklagten nach Oralverkehr jeweils „aus Angst” vor ihm nach.
Diese Angst der Nebenklägerin beruhte – wie das Landgericht in anderem Zusammenhang feststellt – darauf, daß der Angeklagte ihr zu Beginn der Tatserie damit gedroht hatte, er würde „ihre Ehe kaputt machen”, wenn sie seinem Wunsch nach Sexualkontakten nicht nachkomme, und diese Drohung bei jeder Tat wiederholte. Bei der zu den Tatzeiten 33 bis 34 Jahre alten Nebenklägerin handelt es sich nach der Einschätzung der Strafkammer um eine „recht naive und unselbständige” Frau, die früh ihre Eltern verloren, mit 18 Jahren den Sohn des Angeklagten geheiratet und in dem vom Angeklagten als Oberhaupt geleitetem Familienverband Geborgenheit erfahren hatte.
a) Die Tatvariante des Ausnutzens einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, wurde durch das 33. StrÄndG in den § 177 StGB mit dem Ziel der Schließung von Strafbarkeitslücken eingefügt. Mit ihr sollten Fälle erfaßt werden, in denen zwar weder Gewalt ausgeübt noch mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben des Opfers gedroht wird, dieses die Tat aber aus Angst vor Körperverletzungs- oder gar Tötungshandlungen des Täters über sich ergehen läßt, weil es sich in einer hilflosen Lage befindet und ihm Widerstand gegen den überlegenen Täter aussichtslos erscheint (Begründung des Gesetzentwurfs, BTDrucks. 13/7324 S. 2, 6). Gesetzgeberisches Ziel war es auch, den Schutz geistig und körperlich behinderter Menschen, deren Widerstandsfähigkeit eingeschränkt ist, vor erzwungenen sexuellen Übergriffen zu verbessern (Bericht des Rechtsausschusses, BTDrucks. 13/7663 S. 5; zu den Einzelheiten der Gesetzgebung vgl. Mildenberger, Schutzlos – Hilflos – Widerstandsunfähig, Münster 1998, S. 24 ff.). Mit der Einführung der neuen Tatbestandsalternative in § 177 Abs. 1 StGB ist § 237 StGB aF (Entführung gegen den Willen der Entführten) aufgehoben worden, weil dessen Anwendungsbereich von der neuen Tatbestandsalternative erfaßt wird (BTDrucks. 13/7324 S. 7).
Zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals der schutzlosen Lage kann deshalb auf die Auslegung des Merkmals der hilflosen Lage in § 237 StGB aF zurückgegriffen werden. Danach liegt eine schutzlose Lage vor, wenn die Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers in einem solchen Maß vermindert sind, daß es dem ungehemmten Einfluß des Täters preisgegeben ist (BGHSt 44, 228, 231 unter Hinweis auf BGHSt 22, 178 f.; 24, 90, 93; BGHSt 45, 253, 256).
b) Die schutzlose Lage beruht regelmäßig auf äußeren Umständen. Wie von der Rechtsprechung bereits zu § 237 StGB aF entschieden, befindet sich das Opfer in einer hilflosen Lage, wenn es sich dem Täter allein gegenüber sieht und auf fremde Hilfe nicht rechnen kann, wobei es allerdings eines gänzlichen Beseitigens jeglicher Verteidigungsmöglichkeiten nicht bedarf (BGHSt 44, 228, 232 unter Hinweis auf BGHR StGB § 237 hilflose Lage 1; vgl. Mildenberger aaO S. 57). Das Ausnutzen einer von äußeren Umständen (z. B. Einsamkeit des Ortes, Fehlen von Fluchtmöglichkeiten, Abwesenheit schutzbereiter Dritter) geprägten schutzlosen Lage des Opfers hat das Landgericht nicht festgestellt.
In den Fällen II. 1 und 2 der Urteilsgründe kann der Senat offen lassen, ob objektiv eine schutzlose Lage der Nebenklägerin gegeben war, wofür sprechen könnte, daß sich nach den (bei der rechtlichen Würdigung mitgeteilten) Angaben der Nebenklägerin keine weiteren Fahrzeuge auf dem Parkplatz befanden. Jedenfalls ist den Feststellungen nicht zu entnehmen, daß der Angeklagte eine solche, durch äußere Umstände geprägte Lage ausgenutzt hätte. Hierzu muß der Täter die schutzlose Lage erkannt und sich zunutze gemacht haben (BGHSt 45, 253, 257; vgl. BGH, Urt. vom 7. November 2002 – 3 StR 274/02; Lenckner/Perron in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 177 Rdn. 10; Tröndle/Fischer, StGB 51. Aufl. § 177 Rdn. 19). Das Landgericht stellt selbst auf die vom Angeklagten ausgesprochenen Drohungen und die dadurch beim Opfer hervorgerufene Angst ab.
In den anderen Fällen ist bereits eine durch die räumliche Situation bedingte schutzlose Lage nicht festgestellt. Die versuchte Tat (Fall II. 3 der Urteilsgründe) geschah im Haus des Angeklagten. Hier ging die Nebenklägerin häufig ein und aus. Das Haus befand sich auf dem hinteren Teil des Grundstücks, auf dem auch das von der Nebenklägerin und ihrem Mann bewohnte Haus stand. Nach den Feststellungen war es ihr möglich, mit ihrem an der Haustüre erscheinenden Kind das Haus zu verlassen. Gleiches gilt auch für die beiden anderen Fälle, die im Haus der Nebenklägerin stattfanden. Hier sind Umstände, die hinzutreten müssen, damit in der Abgeschiedenheit der fami- liären Wohnung eine schutzlose Lage gegeben ist (vgl. BGH NStZ-RR 2003, 42), nicht festgestellt.
c) Eine schutzlose Lage des Opfers kann sich daneben auch aus in seiner Person liegenden Umständen einschließlich der in § 179 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB genannten Beeinträchtigungen ergeben. Der Wortlaut der Vorschrift bietet für eine Differenzierung zwischen den verschiedenen Ursachen der schutzlosen Lage keinen Anlaß. Die Erfassung der früher unter § 237 StGB aF fallenden Taten schöpft den Anwendungsbereich der neuen Tatbestandsvariante nicht aus, nachdem das (einschränkende) Tatbestandsmerkmal des „Entführens” nicht übernommen worden ist. Im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens ist der Vorschrift auch der Zweck zugewiesen worden, den Schutz geistig und körperlich behinderter Menschen, deren Widerstandsfähigkeit eingeschränkt ist, vor erzwungenen sexuellen Übergriffen zu verbessern (vgl. BGHSt 45, 253, 256; BGH NStZ-RR 2003, 42; BGH, Urt. vom 7. November 2002 – 3 StR 274/02).
In einem solchen Fall sind aber an die Feststellung der schutzlosen Lage erhöhte Anforderungen zu stellen (Lenckner/Perron in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 177 Rdn. 9). Erforderlich ist, daß das Opfer Widerstandshandlungen gegenüber dem Täter unterläßt, weil es andernfalls Körperverletzungshandlungen oder gar Tötungshandlungen durch den Täter befürchtet (Laubenthal JZ 1999, 583; vgl. auch Mildenberger aaO S. 58 ff.). Die Angst des Opfers vor der „Zerstörung seiner Ehe” durch den Täter ist nicht geeignet, eine schutzlose Lage im Sinne von § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB zu schaffen.
Diese einengende Auslegung trägt der Entstehungsgeschichte und der Systematik der Norm Rechnung. Die Angst des Opfers vor Körperverletzungs- oder Tötungshandlungen des Täters, das auf ihr beruhende Erstarren und das Ausnutzen dieser Situation durch den Täter hielt der Gesetzgeber für nur unzureichend strafrechtlich geschützt (BTDrucks. 13/7324 S. 6). Eine Auslegung des Tatbestandsmerkmals des Ausnutzens einer schutzlosen Lage dahin, daß es auch Fälle erfaßt, in denen das Erstarren, also der Verzicht auf möglichen Widerstand, allein darauf beruht, daß das Opfers Nachteile nichtkörperlicher Art befürchtet, würde § 177 StGB die innere Stimmigkeit nehmen und Handlungen unterschiedlichsten Unrechtsgehalts mit derselben Strafe bedrohen. § 177 StGB soll das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung nur vor besonders intensiven Angriffsformen schützen. Deshalb ist die Nötigungsvariante nach § 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB auf Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben beschränkt. Daran sollte sich durch die Einführung von § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nichts ändern. Bei einer Ausdehnung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung auf solche Fälle der Drohung mit (nur) einem empfindlichen Übel wäre der Unterschied zu den Delikten des sexuellen Mißbrauchs weitgehend eingeebnet. Für Willensbeugungen der vorliegenden Art steht weiterhin der Tatbestand der Nötigung nach § 240 Abs. 1 und 4 StGB zur Verfügung.
Dementsprechend hat auch die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nur in Tatsituationen für gegeben angesehen, in denen das Opfer entweder bereits vom Täter grob mißhandelt worden war (BGHSt 45, 253) oder solche Mißhandlungen befürchtete (BGH NStZ-RR 1998, 105; BGH, Beschl. vom 18. November 1997 – 4 StR 546/97 – und vom 27. Juni 2001 – 5 StR 245/01).
Daran gemessen ist eine schutzlose Lage der Nebenklägerin hier auch nicht im Hinblick auf in der Person des Opfers liegende Umstände gegeben. Die Befürchtung der Nebenklägerin, der Angeklagte könne seine Drohung wahrmachen und ihre Ehe zerstören, reicht dazu nicht aus.
3. Die Sache bedarf daher neuerlicher Prüfung durch den Tatrichter. Dieser wird, wenn er die Voraussetzungen des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht feststellen kann, die Anwendung von § 240 Abs. 1, 4 Nr. 1 StGB zu prüfen haben.
Unterschriften
Tolksdorf, Winkler, Pfister, von Lienen, Hubert
Fundstellen
Haufe-Index 2558965 |
NJW 2003, 2250 |
JR 2004, 384 |
NStZ 2003, 533 |
Nachschlagewerk BGH |
Kriminalistik 2003, 609 |
StV 2003, 393 |