Entscheidungsstichwort (Thema)
Amtspflichten der Schulverwaltungsbehörde bei der Auswahl, Einrichtung und Überwachung einer Schulbushaltestelle
Leitsatz (amtlich)
Zu den Amtspflichten der Schulverwaltungsbehörde bei der Auswahl, Einrichtung und Überwachung einer Schulbushaltestelle (im Anschl. an das Senatsurteil vom 7. Oktober 1976 - III ZR 128/74).
Unfälle von Schülern an einer Schulbushaltestelle ereignen sich nicht bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr im Sinne von § 636 Abs. 1 RVO sondern sind "schulbezogen", wenn sie auf die Vor- oder Nachwirkungen des Schulbetriebs zurückzuführen sind.
Normenkette
BGB § 839; RVO § 636 Abs. 1, § 539 Abs. 1 Nr. 14b, § 550
Tenor
Auf die Revision des beklagten Landes wird das Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe - 13. Zivilsenat in Freiburg - vom 5. März 1980 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung des beklagten Landes zurückgewiesen worden ist.
Auf die Berufung des beklagten Landes wird unter entsprechender Abänderung des Urteils der 5. Zivilkammer des Landgerichts Konstanz vom 23. Juni 1978 die Klage in vollem Umfang abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Tatbestand
Die am 7. Februar 1968 geborene Klägerin wohnt in Fu.-L. und ist Schülerin der Grundschule in V.. Zur Fahrt zwischen Elternhaus und Schule benutzt sie den Schulbus, der von einer privaten Gesellschaft im Auftrag der Gemeinde V. zur Beförderung der Schüler eingesetzt ist.
In V. befand sich die Haltestelle des Schulbusses unmittelbar an der Grundschule; sie wurde von einer Aufsichtsperson der Schule beaufsichtigt. Ende 1975 wurde die Haltestelle wegen Bauarbeiten etwa 400 m weiter in Richtung Ortsmitte verlegt. Eine Aufsichtsperson der Schule wurde dafür nicht mehr abgestellt. Es war auch keine andere Sicherungsvorkehrung getroffen worden.
Am 6. September 1976 wartete die Klägerin nach Schulschluß zusammen mit weiteren etwa 80 Schulkindern an dieser provisorischen Schulbushaltestelle. Als der Schulbus nahte, lief eine Schar Kinder, darunter die Klägerin, neben und hinter dem Bus her, um möglichst als erste einzusteigen und noch einen Sitzplatz zu erhalten. Hierbei kam die Klägerin aus ungeklärter Ursache zu Fall und geriet mit ihrem linken Arm unter das rechte Vorderrad des Busses. Dabei wurde ihr linker Arm erheblich verletzt.
Die Verhältnisse an der provisorischen Schulbushaltestelle waren dem Schulleiter der Grundschule V. bekannt. Er hatte mit Schreiben vom 14. November 1975 den Bürgermeister der Gemeinde V. auf Gefahrenpunkte auf dem Weg zwischen Bushaltestelle und Schule hingewiesen. Dies hatte jedoch zu keiner Abhilfe geführt.
Die Klägerin hat mit der Klage ein angemessenes Schmerzensgeld in Form eines Kapitalbetrages und einer Schmerzensgeldrente verlangt sowie die Feststellung begehrt, daß das beklagte Land jeglichen materiellen Zukunftsschaden zu ersetzen habe, soweit ihre Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen seien. Das Landgericht hat den Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes (Kapitalbetrag und Rente) dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und dem Feststellungsbegehren stattgegeben. Das Berufungsgericht hat die Klage hinsichtlich der Schmerzensgeldrente abgewiesen; im übrigen hat es die Berufung des beklagten Landes zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt das beklagte Land seinen Antrag auf volle Abweisung der Klage weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht hat eine Haftung des beklagten Landes gemäß § 839 Abs. 1 BGB in Verb. mit Art. 34 GG wegen Verletzung der Aufsichtspflicht für die Schulbushaltestelle durch seine Bediensteten bejaht. Einen Ausschluß der Haftung des beklagten Landes nach § 636 Abs. 1 RVO wegen Eingreifens der gesetzlichen Unfallversicherung hat es verneint, da es sich um einen Unfall "im allgemeinen Verkehr" gehandelt habe, für den der Haftungsausschluß nicht gelte.
Die hiergegen gerichtete Revision hat Erfolg.
II.
1.
Das Berufungsgericht hat allerdings zutreffend die Verletzung der Aufsichtspflicht durch die zuständigen Bediensteten der Schulverwaltung des beklagten Landes bejaht. Wie der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 7. Oktober 1976 (III ZR 128/74 - VersR 1977, 222, 223) ausgeführt hat, obliegt dem Schulträger die Amtspflicht, Schulbushaltestellen möglichst gefahrlos einzurichten und zu sichern. Falls der Träger der Schule und derjenige der Schulverwaltung nicht identisch sind, hat die Schulverwaltung die Einhaltung dieser Verpflichtung zu überwachen. Sie muß, wenn die Haltestellen den genannten Anforderungen nicht genügen, die bestehende Gefahrenlage beseitigen lassen.
Diese Pflicht bestand auch im vorliegenden Fall für die der Schule nächstgelegene Schulbushaltestelle, an der die Schüler nach Schulschluß auf das Eintreffen des Busses warteten. Wie das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei festgestellt hat, stellte die Zusammenfassung einer so großen Zahl von Kindern und Jugendlichen mit ihrem nach Unterrichtsschluß besonders starken Bewegungsdrang, der regelmäßig zu einem Heranstürmen und Drängeln zahlreicher Kinder an den heranfahrenden Bus führte, eine besondere Gefahrenquelle dar. Die Bediensteten des beklagten Landes hatten diese Gefahr und ihre Verantwortung für die Gefahrenbeseitigung auch erkannt; denn sie hatten, solange sich die Schulbushaltestelle an ihrem eigentlichen Platz an der Schule befand, selbst für eine Beaufsichtigung gesorgt, indem sie einen Lehrer oder den Hausmeister als Aufsichtsperson zur Haltestelle entsandten.
Die Verpflichtung des beklagten Landes, bei dem Schulträger auf die Beseitigung der Gefahrenlage hinzuwirken, war entgegen der Ansicht der Revision nicht deshalb entfallen, weil die Schulbushaltestelle wegen Straßenbauarbeiten um 400 m in das Ortsinnere verlegt worden war. Auch diese - entferntere - Schulbushaltestelle war dem Schulbetrieb räumlich und funktionell noch so zugeordnet, daß vor allem die dort wartenden Jüngeren Schulkinder vor den beim Ein- und Aussteigen auftretenden Gefahren bewahrt werden mußten. Dazu bestand hier insbesondere deshalb eine dringende Notwendigkeit, weil die Haltestelle grobe und offensichtliche Sicherheitsmängel aufwies. Nach den unangegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts waren dort keinerlei Vorkehrungen für ein geordnetes Einsteigen der Schülergruppen, die nach Schulschluß bis zu 80 Kinder umfaßten, getroffen worden. Es waren weder eine erkennbare Haltestellenanlage noch ein Bordstein oder eine sonstige Fahrbahnmarkierung vorhanden.
Bei dieser Sachlage hätte die Schulverwaltung dafür sorgen müssen, daß die Gemeinde als Schulträger ihrer Verpflichtung zur Gefahrenbeseitigung nachkommt. Dies hat sie pflichtwidrig unterlassen. Insbesondere stellte das Schreiben des Schulleiters an den Bürgermeister vom 14. November 1975 keine ausreichende Maßnahme dar, um die Gemeinde zur Sicherung der Haltestelle zu veranlassen. In dem Schreiben wird nur darauf hingewiesen, daß die Schüler wegen der Verlegung der Bushaltestelle teilweise zu spät kämen und der Weg von der Haltestelle zur Schule an zwei verkehrsgefährlichen Straßenecken vorbeiführe. Auf die hier maßgebliche Gefahr beim Warten und Einsteigen der Schüler in den Schulbus und auf die entscheidende Tatsache, daß die Schule ihre bisherige Aufsicht über die wartenden und einsteigenden Schüler eingestellt hatte, wird in diesem Schreiben nicht hingewiesen. Die Schulverwaltung hätte bei ordnungsgemäßer Wahrnehmung ihrer Uberwachungspflichten in den gut zehn Monaten, die zwischen der Verlegung der Schulbushaltestelle und dem Unfall der Klägerin lagen, erkennen müssen, daß die Gemeinde weder auf diesen Brief hin noch aus eigenem Entschluß Sicherungsvorkehrungen treffen würde. Sie hätte daher die Notwendigkeit für ein wirkungsvolles Eingreifen sehen und entsprechende Aufsichtsmaßnahmen ergreifen müssen.
2.
Die Verletzung dieser Amtspflicht führt jedoch im Ergebnis nicht zur Haftung des beklagten Landes.
Der Klägerin stehen auf Grund des Unfalls, den sie als Schülerin auf dem Schulweg erlitten hat, Ansprüche aus der gesetzlichen Schülerunfallversicherung gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 14 b in Verb. mit § 550 RVO zu. Das Eingreifen dieser Unfallversicherung hat gemäß § 636 Abs. 1 RVO zur Folge, daß eine Haftung der Schulbehörden für Personenschäden nur eintritt, wenn sie den Unfall vorsätzlich herbeigeführt haben oder wenn dieser bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr eingetreten ist.
Das Berufungsgericht hat die Haftung des beklagten Landes bejaht, weil der Unfall bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr eingetreten sei. Es hat ausgeführt, die Fahrt eines Schülers mit einem Bus, der von einem Verkehrsbetrieb auch oder überwiegend zur Beförderung von Schulkindern eingesetzt werde, stehe nur in einem losen Zusammenhang zum Schulbetrieb. Der Schüler fahre zur Schule mit einem öffentlichen Verkehrsmittel, dessen Fahrplan allerdings im Einvernehmen mit dem Schulträger auf das Interesse der überwiegenden Zahl der Fahrgäste, der Schüler, ausgerichtet sei. Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
Für die Frage, ob ein Unfall bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr i.S. von § 636 Abs. 1 RVO oder bei einem innerbetrieblichen Vorgang eingetreten ist, sind die für den Dienst- und Arbeitsunfall entwickelten Grundsätze anzuwenden, die für den Schulbereich "gedanklich umzuformen" sind (vgl. BGHZ 67, 279, 282). Danach reicht es für eine Teilnahme am allgemeinen Verkehr nicht aus, daß sich der Unfall im Öffentlichen Straßenverkehr ereignet hat. Es ist vielmehr zu unterscheiden, ob die verunglückte Person den Unfall als normaler Verkehrsteilnehmer oder gerade als Betriebsangehöriger erlitten hat. Diese Frage ist nicht allgemein, sondern auf Grund der Beziehungen zwischen den Beteiligten bei dem Unfallgeschehen zu entscheiden (vgl. Amtliche Begründung des Gesetzes über die erweiterte Zulassung von Schadensersatzansprüchen bei Dienst- und Arbeitsunfällen vom 7. Dezember 1943 - RGBl I, 674 - DJ 1944, 21; Senatsurteile BGHZ 17, 65 f und BGHZ 64, 201, 203 f). Maßgeblich ist, ob der Verletzte den Unfall in einem Gefahrenkreis erleidet, für den seine Zugehörigkeit zum Organisationsbereich des Dienstherrn im Vordergrund steht oder ob der Unfall nur einen losen äußerlichen Zusammenhang damit hat (vgl. BGH Urt. v. 12. März 1974 - VI ZR 2/73 - VersR 1974, 784 f m.w.Nachw.).
In Anwendung dieser Grundsätze ist der Gefahrenbereich "Schulbushaltestelle" jedenfalls dann noch als "schulbezogen" anzusehen, wenn die Haltestelle nach ihrer Einrichtung und der Art ihrer Benutzung im konkreten Fall eine Gefahrenquelle darstellt, die noch durch den Schulbetrieb und seine Vor- oder Nachwirkungen geprägt wird. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts wurde an der Schulbushaltestelle, die für die gesamte Schülerbeförderung von und nach der Grundschule bestimmt war, üblicherweise in Gruppen (Klassen) ein- und ausgestiegen. Vor allem bei der Abfahrt brachte das gleichzeitige, gruppenweise Eintreffen der Schüler an der Haltestelle wegen des mit der Beendigung des Unterrichts erfahrungsgemäß eintretenden und noch nicht abgeklungenen starken Bewegungsdrangs die Gefahr mit sich, in dem an der Haltestelle herrschenden Gedränge in den Bereich des noch fahrenden Schulbusses zu geraten. Diese Gefahr wurde hier durch die Art der Einrichtung der Haltestelle noch verstärkt, weil diese keine Sicherung (etwa durch Anbringen eines Gitters) der Wartenden gegenüber dem fließenden Verkehr enthielt. Das sich hier noch als unmittelbare Nachwirkung des Schulbetriebs darstellende Verhalten namentlich der jüngeren, verkehrsungeübten Schulkinder stand deshalb noch in einem inneren Zusammenhang mit dem Schulbesuch und seiner Organisation, vor allem dem Entlassen ganzer Schulklassen in die Freizeit, so daß die Verwirklichung der sich daraus ergebenden Gefahr, wenn sie durch entsprechende Sicherung und Einrichtung der Haltestelle nicht verhindert wurde, im Sinne des § 636 Abs. 1 RVO einen "Arbeitsunfall" und nicht eine Teilnahme am allgemeinen Verkehr darstellte.
Auf die Frage, ob auch der Schulbusverkehr (im engeren Sinne) als "betrieblicher" Vorgang zu bewerten ist, braucht aus Anlaß des vorliegenden Unfalles nicht eingegangen zu werden, weil dieser Unfall nicht Ausdruck einer Gefahr ist, die im fahrenden Schulbus aus dem Verhalten des Fahrers, mangelhafter Einrichtung des Fahrzeugs oder fehlender Aufsicht entstehen kann.
Hinsichtlich des geltend gemachten Anspruchs auf Schmerzensgeld war die Klage daher wegen des Ausschlusses der Haftung des beklagten Landes nach § 636 Abs. 1 RVO abzuweisen.
3.
Der Klageantrag auf Feststellung, daß das beklagte Land der Klägerin jeglichen materiellen Zukunftsschaden zu ersetzen habe, soweit ihre Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen seien, hat ebenfalls keinen Erfolg. Nach dem Vorbringen der Klägerin handelt es sich bei dem zu besorgenden künftigen Schaden ebenfalls um "Personenschaden", zu dessen Ersatz das beklagte Land nach § 636 Abs. 1 RVO nicht verpflichtet ist.
Unterschriften
Krohn
Scheffen
Kröner
Boujong
Scholz-Hoppe
Fundstellen
Haufe-Index 1456528 |
NJW 1982, 37 |