Entscheidungsstichwort (Thema)
sexueller Mißbrauch einer Schutzbefohlenen
Leitsatz (amtlich)
Die Anwesenheit des Beistands in der Hauptverhandlung darf zeitweise eingeschränkt werden, wenn dies nach dem Rechtsgedanken des § 247 Satz 1 StPO aus Gründen, die in der Person des Beistands liegen, zur Wahrheitsermittlung geboten ist.
Normenkette
StPO §§ 149, 247
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bückeburg vom 20. Juni 2000 wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im übrigen wegen sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen in Tateinheit mit Beischlaf zwischen Verwandten zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts und erhebt zudem eine Verfahrensrüge. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
Die Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts ist das Vergehen des Beischlafs zwischen Verwandten nicht verjährt. Gegen die Beweiswürdigung der Strafkammer bestehen keine rechtlichen Bedenken. Näherer Erörterung bedarf allein die Verfahrensrüge, mit der der Angeklagte die Verletzung des § 149 Abs. 1 StPO beanstandet, weil seine als Beistand zugelassene Ehefrau während der Zeugenvernehmung des Tatopfers aus dem Sitzungssaal entfernt wurde. Dem liegt folgender Geschehensablauf zugrunde:
Der Strafkammervorsitzende hatte am ersten Verhandlungstag antragsgemäß die Ehefrau des Angeklagten als Beistand nach § 149 Abs. 1 StPO zugelassen und sie nach Eröffnung der Beweisaufnahme als erste Zeugin vernommen. Vor der anschließenden Vernehmung der Geschädigten, der gemeinsamen Tochter Jessica, mit der der Angeklagte nach dem Vorwurf der Anklage Geschlechtsverkehr ausgeübt hatte, wurden die Öffentlichkeit ausgeschlossen und der Angeklagte aus dem Sitzungssaal entfernt. Seine Ehefrau verließ freiwillig den Sitzungssaal. Am zweiten Verhandlungstag sollte die Geschädigte weiter vernommen werden. Die Öffentlichkeit wurde gemäß § 171 b GVG ausgeschlossen. Nachdem die Zeugin in ihrer Vernehmung „so gut wie keine Äußerungen mehr von sich gegeben hatte”, wurden der Angeklagte durch begründeten Gerichtsbeschluß gemäß § 247 Satz 1 StPO und seine Ehefrau als Beistand durch Anordnung des Vorsitzenden aus dem Sitzungssaal entfernt. Nach der Vernehmung wurden sie durch den Vorsitzenden vom Inhalt der Aussage der Geschädigten unterrichtet.
I. Die Rüge ist in einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO noch genügenden Form und damit in zulässiger Weise erhoben, obwohl die Revision weder den Grund noch die Dauer des Ausschlusses des Beistands mitteilt. Aus der Revisionsbegründung ergibt sich nämlich, daß der Revisionsführer allein das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für den Ausschluß des bereits als Zeugen vernommenen Beistands beanstandet und den Ausschluß unabhängig von einer im Einzelfall gegebenen Begründung für rechtsfehlerhaft hält. Das hierfür notwendige Vorbringen ist der Revisionsbegründung zu entnehmen.
II. Die Rüge ist unbegründet.
1. Nach § 149 Abs. 1 StPO ist der Ehegatte eines Angeklagten in der Hauptverhandlung als Beistand zuzulassen und auf sein Verlangen zu hören; weiterhin sollen ihm Zeit und Ort der Hauptverhandlung rechtzeitig mitgeteilt werden. Das Institut des Beistands nach § 149 Abs. 1 StPO hat seine Wurzel in dem aus der Ehe entspringenden Vertrauensverhältnis und der gegenseitigen Fürsorge der Ehepartner. Der Beistand unterstützt und berät den Angeklagten in der Hauptverhandlung als dessen natürlicher und persönlicher Vertrauter und Fürsprecher. In der Hauptverhandlung hat er einen Rechtsanspruch auf antragsgemäße alsbaldige Zulassung (vgl. BGHSt 4, 205, 206). Wegen seines Rechts auf Stellungnahme, Anhörung und Beratung steht ihm nach zutreffender Ansicht auch das Fragerecht nach § 240 Abs. 2 StPO zu (vgl. BGHSt 44, 82, 86; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 45. Aufl. § 240 Rdn. 3; a.M.: BayObLG NJW 1998, 1655; Laufhütte in KK 4. Aufl. § 149 Rdn. 6).
Voraussetzung für eine sinnvolle Ausübung der Rechte auf Anhörung und Stellungnahme ist grundsätzlich die Anwesenheit des Beistands in der Hauptverhandlung. Deshalb müssen ihm nach herrschender Meinung die Hauptverhandlungstermine so rechtzeitig mitgeteilt werden, daß er das Anwesenheitsrecht ausüben kann (vgl. Lüderssen in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 149 Rdn. 7; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 149 Rdn. 4; offengelassen in BGHSt 44, 82, 84 f.). In Rechtsprechung und Literatur besteht daher Einigkeit darüber, daß der Beistand das Recht hat, nach Möglichkeit an der gesamten Hauptverhandlung teilzunehmen, obwohl § 149 StPO ihm ein solches Anwesenheitsrecht nicht ausdrücklich einräumt (vgl. BGHSt 4, 205, 206; BGHSt 44, 82, 86; Laufhütte aaO § 149 Rdn. 6).
2. Weder aus dem Wortlaut des § 149 StPO noch aus dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift ergibt sich ein Recht des Beistands, an der gesamten Hauptverhandlung teilzunehmen. Hierin unterscheidet er sich vom Nebenkläger, der gemäß § 397 Abs. 1 Satz 1 StPO kraft Gesetzes zur ununterbrochenen Anwesenheit in der Hauptverhandlung berechtigt ist (vgl. Senge in KK 4. Aufl. § 397 Rdn. 2; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 397 Rdn. 2). Die Anwesenheit des Beistands kann vielmehr wegen vorrangiger strafprozessualer Grundsätze zeitweise eingeschränkt werden. Einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage bedarf es für den zeitweiligen Ausschluß des Beistands nicht. Bei Konflikten mit anderen Rechtspositionen und Interessen hat vielmehr die Rechtsprechung den Umfang des Anwesenheitsrechts zu bestimmen und zu konkretisieren.
a) Eine derartige Konkretisierung hat die Rechtsprechung bereits im Falle eines Konflikts zwischen der grundsätzlichen Anwesenheitsbefugnis des Beistands und dem prozessualen Gebot der Wahrheitsermittlung für den Fall vorgenommen, daß der Beistand als Zeuge zu vernehmen ist. Kommt dieser im Verfahren zugleich als Zeuge in Betracht, kann sein Anwesenheitsrecht in der Hauptverhandlung nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Literatur (vgl. BGHSt 4, 205, 206; Lüderssen aaO § 149 Rdn. 15) hinter seinen Zeugenpflichten zurücktreten. So darf er nach pflichtgemäßem Ermessen des Vorsitzenden aus dem Sitzungssaal entfernt werden bei der Verlesung des Anklagesatzes (§ 243 Abs. 3 Satz 1 StPO), der Vernehmung des Angeklagten (§ 243 Abs. 4 Satz 2 StPO) und den Vernehmungen vor ihm zu hörender Zeugen (§ 58 Abs. 1 StPO). Dies soll eine unbefangene und selbständige Aussage des Beistands als Zeuge gewährleisten und damit die Erforschung des wahren Sachverhalts ermöglichen (vgl. BGHSt 3, 386, 388; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 58 Rdn. 2).
b) In Fortführung dieser Rechtsprechung darf die Anwesenheit des Beistands in der Hauptverhandlung auch dann zeitweise eingeschränkt werden, wenn dies nach dem Rechtsgedanken des § 247 Satz 1 StPO aus in der Person des Beistands liegenden Gründen zur Wahrheitsermittlung geboten ist.
Die wegen der Kollision grundrechtlich geschützter Interessen erforderliche Abwägung ergibt, daß das Gebot der Wahrheitserforschung gegenüber dem durch Art. 6 des Grundgesetzes geschützten Anwesenheitsrecht des Beistands den Vorrang hat. Die Sachverhaltsaufklärung ist das zentrale Anliegen des Strafprozesses und Ausfluß des Rechtsstaatsprinzips gemäß Art. 20 GG (vgl. BVerfGE 57, 250, 275; 63, 45, 61). Sie dient der Sicherung einer funktionsfähigen Strafrechtspflege und damit dem Schutz des Gemeinwesens und seiner Bürger. Für den Angeklagten ist der Konflikt zwischen der Ermittlung des wahren Sachverhalts und seinem Anwesenheitsrecht in § 247 Satz 1 StPO geregelt, wonach die Entfernung angeordnet werden kann, wenn zu befürchten ist, der Zeuge werde andernfalls nicht die Wahrheit sagen. Der Gedanke dieser Vorschrift ist auf den Beistand entsprechend anzuwenden, wenn in seiner Person Umstände für eine solche Befürchtung vorliegen.
c) Die Rechtsstellung des Beistands steht dem nicht entgegen.
Sie hat nach der Strafprozeßordnung geringeres Gewicht als die des Angeklagten. Die Abwesenheit des Beistands fällt nicht unter den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO (vgl. Lüderssen aaO § 149 Rdn. 19; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 338 Rdn. 42). Er ist weder Vertreter des Angeklagten noch kann er für diesen in der Hauptverhandlung prozessuale Rechte wahrnehmen oder Rechtsmittel einlegen (vgl. RGSt 7, 403; BayObLG NJW 1998, 1655; OLG Düsseldorf NJW 1997, 2533; Lüderssen aaO § 149 Rdn. 5 a; Laufhütte aaO § 149 Rdn. 6; Müller in KMR 4. ErgLfg. § 149 Rdn. 5; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 149 Rdn. 3). Wenn schon der im Mittelpunkt des Strafverfahrens stehende Angeklagte trotz seiner herausgehobenen Rechtsstellung im Interesse der Wahrheitsermittlung unter den Voraussetzungen des § 247 Satz 1 StPO vorübergehend aus dem Sitzungssaal entfernt werden kann, muß dies auch für den Beistand gelten. Dieser ist ebenso wie der Angeklagte entsprechend § 247 Satz 1 und 4 StPO sofort nach der Vernehmung wieder zur Hauptverhandlung zuzulassen und über den Inhalt der Aussage zu unterrichten, damit er seine Rechte ausüben kann.
Mit der weiterreichenden Rechtsstellung und der Funktion des Verteidigers als unabhängiges Organ der Rechtspflege ist die des Beistands nach § 149 StPO nicht vergleichbar (vgl. BayObLG NJW 1998, 1655). Obwohl § 149 StPO im 11. Abschnitt der Strafprozeßordnung „Verteidigung” steht, ist der Beistand lediglich Unterstützer und Fürsprecher des Angeklagten und nicht dessen Verteidiger (vgl. Hahn, Die gesamten Materialien zur Strafprozeßordnung, 2. Aufl. Bd. III 1. Abt. S. 145 und 970). Dies zeigt auch ein Vergleich mit der Sonderregelung des Beistands im Jugendgerichtsverfahren, dem nach § 69 Abs. 3 JGG ausdrücklich Rechte eines Verteidigers eingeräumt sind. Die Aufgabe, in das Prozeßgeschehen einzugreifen, kommt dem Verteidiger und nicht dem Beistand zu (vgl. BGHSt 44, 82, 89; BayObLG NJW 1998, 1655). Die Vorschriften über das Akteneinsichtsrecht (§ 147 StPO), das Beweisantragsrecht und den ungehinderten Verkehr mit dem Beschuldigten (§ 148 StPO) sind auf ihn nicht anwendbar (vgl. BGHSt 44, 82, 84 ff.). Die strengen Voraussetzungen der §§ 138 a, 138 b StPO, die abschließend die Ausschließungsgründe für den Verteidiger regeln (Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 138 a Rdn. 1) und dessen Mitwirkung am Verfahren insgesamt betreffen, sind deshalb auf die zeitweise Entfernung des Beistands aus dem Sitzungssaal nicht entsprechend anwendbar.
d) Einen Rechtsfehler bei der Anwendung der Grundsätze des § 247 Satz 1 StPO rügt die Revision nicht. Gegen die vom Landgericht angenommene Befürchtung, das geschädigte Mädchen als das wichtigste Beweismittel werde in Gegenwart ihrer als Beistand zugelassenen Mutter nicht die Wahrheit sagen, erhebt sie keine Einwendungen.
3. Die Verfahrensrüge hat nicht deshalb Erfolg, weil die Entscheidung über die Entfernung durch eine Anordnung des Strafkammervorsitzenden und nicht durch einen Gerichtsbeschluß getroffen worden ist.
Der Senat neigt der Rechtsmeinung zu, daß der Vorsitzende die Entfernung des Beistands aus dem Sitzungssaal anordnen kann. Da der Angeklagte durch die Entfernung wegen des damit verbundenen Eingriffs in die Rechtsstellung des Beistands in seinem Verteidigungsinteresse beschwert ist, wird die Anordnung der Sachleitung des Vorsitzenden zuzurechnen sein (vgl. Tolksdorf in KK 4. Aufl. § 238 Rdn. 6, 16, 17 m.w.Nachw.; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 238 Rdn. 5, 10 ff.). Es besteht kein sachliches Bedürfnis, dafür entsprechend § 247 Satz 1 StPO einen Gerichtsbeschluß zu verlangen. Denn der Beistand ist – anders als der Angeklagte – kein Verfahrensbeteiligter, dessen Anwesenheit die Strafprozeßordnung vorschreibt. Seine zeitweilige Entfernung greift nicht mit derselben Intensität in die Rechte und Interessen des Angeklagten ein wie dessen Entfernung. Auch die Entscheidung, daß der Beistand, der noch als Zeuge zu vernehmen ist, den Sitzungssaal verlassen muß, trifft der Vorsitzende (vgl. BGHSt 4, 205, 206 f.). Im übrigen kann der Angeklagte eine Entscheidung des Gerichts herbeiführen. Wegen der mit dem Eingriff für ihn verbundenen Beschwer kann er in der Regel gegen die Anordnung den Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO einlegen und damit – wegen des Spielraums bei der erforderlichen Abwägung zwischen dem Anwesenheitsrecht des Beistands und der Pflicht des Gerichts zur Wahrheitserforschung – die Verwirkung des Rügerechts vermeiden (vgl. BGH NStZ 1992, 346; Tolksdorf aaO § 238 Rdn. 16, 17; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 238 Rdn. 22).
Diese Rechtsfragen brauchen hier nicht abschließend entschieden zu werden. Selbst wenn man für die Entfernung des Beistands entsprechend § 247 Satz 1 StPO einen Gerichtsbeschluß verlangen würde, führte dies nicht zum Erfolg der Verfahrensrüge. Denn der Senat kann ausschließen, daß das
Urteil auf dem Fehlen des Gerichtsbeschlusses beruht. Aus dem der Anordnung des Vorsitzenden vorausgegangenen Gerichtsbeschluß, daß „sich die Angeklagten während der weiteren Vernehmung der Zeugin Jessica S. aus dem Sitzungssaal zu entfernen haben, weil zu befürchten ist, daß die Zeugin in Gegenwart der Angeklagten und der Mutter nicht die Wahrheit sagen wird”, ergibt sich nämlich, daß das Gericht auch selbst die Entfernung angeordnet hätte.
Unterschriften
Kutzer, Rissing-van Saan, Pfister, von Lienen, Becker
Fundstellen
Haufe-Index 625176 |
BGHSt |
BGHSt, 62 |
NJW 2001, 3349 |
NStZ 2001, 552 |
Nachschlagewerk BGH |
ZAP 2001, 1135 |