Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung von Obhutspflichten aus Heimvertrag, Schutz der köperlichen Unversehrtheit der anvertrauten Heimbewohner. Ersatz der Heilbehandlungskosten. Begrenzung auf in Pflegeheimen übliche Maßnahmen. Darlegungs- und Beweispflicht der Heimbewohner. Normaler, alltäglicher Gefahrenbereich in eigenverantwortlicher Risikosphäre der Geschädigten. Unzumutbarkeit lückenloser Überwachung
Leitsatz (amtlich)
a) Zur Pflicht des Trägers eines Pflegewohnheims, die körperliche Unversehrtheit der Heimbewohner zu schützen.
b) Zur Beweislast für eine schuldhafte Pflichtverletzung des Pflegepersonals bei einem Unfall im Heim.
Normenkette
BGB § 276 a.F., § 282 a.F., § 823
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 12. Zivilsenats des KG v. 2.9.2004 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsrechtszuges zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin ist der gesetzliche Krankenversicherer der am 19.2.1912 geborenen, unter Betreuung stehenden Rentnerin G. W. Diese lebt seit dem 23.4.1997 in einem von der Beklagten betriebenen Pflegewohnheim. Ausweislich des von der Klägerin vorgelegten Pflegegutachtens hatte sie bereits im Jahre 1994 bei einem Sturz eine Oberschenkelfraktur links erlitten, auf Grund deren ihr das Gehen fortan nur noch mit Hilfe und Gehstütze möglich war; kurz vor ihrer Aufnahme in das Heim der Beklagten hatte sie sich bei einem weiteren Sturz ein Schädel-Hirn-Trauma ersten Grades und im Januar 1998 bei einem dritten Sturz ein solches zweiten Grades zugezogen. Wegen dieser Verletzungen musste sie jeweils stationär behandelt werden. Nach dem Pflegegutachten ist sie hochgradig sehbehindert, zeitweise desorientiert und verwirrt; ihr Gang ist sehr unsicher. Sie ist der Pflegestufe III zugeordnet.
Im Heim bewohnte sie ein Zimmer gemeinsam mit zwei weiteren Bewohnerinnen. Neben ihrem Bett befand sich eine Klingel; außerdem konnte sie sich durch Rufe bemerkbar machen. Das Pflegepersonal schaute regelmäßig jede Stunde, zu den Mahlzeiten und zur Inkontinenzversorgung nach der Bewohnerin.
Am 27.6.2001 fand gegen 13.00 Uhr die letzte Kontrolle statt. Die Bewohnerin lag zu dieser Zeit zur Mittagsruhe in ihrem Bett. In der Folgezeit war die zuständige Pflegekraft im Wohnbereich mit anderen Bewohnern beschäftigt. Gegen 14.00 Uhr wurde die Bewohnerin von der Pflegekraft in ihrem Zimmer vor dem Bett liegend aufgefunden. Sie hatte sich eine Oberschenkelhalsfraktur zugezogen und wurde bis zum 31.7.2001 stationär und anschließend ambulant behandelt.
Die Klägerin ist der Auffassung, dass der Unfall auf eine Verletzung von Pflichten aus dem Heimvertrag durch die Beklagte zurückzuführen ist. Mit ihrer Klage verlangt sie Ersatz der von ihr getragenen Heilbehandlungskosten. Das LG hat die Beklagte zur Zahlung von 7.185,13 EUR nebst Zinsen verurteilt. Auf die Berufung der Beklagten hat das KG die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision erstrebt die Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Der Klägerin steht wegen des Unfalls v. 27.6.2001 kein nach § 116 Abs. 1 SGB X übergegangener Schadensersatzanspruch der verletzten Heimbewohnerin gegen die Beklagte zu.
1. Allerdings erwuchsen der beklagten Heimträgerin aus den jeweiligen Heimverträgen Obhutspflichten zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der ihr anvertrauten Heimbewohner. Ebenso bestand eine inhaltsgleiche allgemeine Verkehrssicherungspflicht zum Schutze der Bewohner vor Schädigungen, die diesen wegen Krankheit oder einer sonstigen körperlichen oder geistigen Einschränkung durch sie selbst oder durch die Einrichtung und bauliche Gestaltung des Altenheims drohten (OLG Koblenz v. 21.3.2002 - 5 U 1648/01, NJW-RR 2002, 867 [868]). Eine schuldhafte Verletzung dieser Pflichten war daher geeignet, sowohl einen Schadensersatzanspruch aus positiver Vertragsverletzung des Heimvertrages als auch einen damit konkurrierenden deliktischen Anspruch aus §§ 823, 831 BGB zu begründen.
2. Diese Pflichten sind allerdings begrenzt auf die in Pflegeheimen üblichen Maßnahmen, die mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind (OLG München v. 25.7.2003 - 27 U 237/03, VersR 2004, 618 [619]; LG Essen v. 21.8.1998 - 3 O 266/98, VersR 2000, 893). Maßstab müssen das Erforderliche und das für die Heimbewohner und das Pflegepersonal Zumutbare sein (OLG Koblenz v. 21.3.2002 - 5 U 1648/01, NJW-RR 2002, 867 [868]). Dabei ist insb. auch zu beachten, dass beim Wohnen in einem Heim die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen und die Selbstständigkeit, die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der Bewohner zu wahren und zu fördern sind (vgl. nunmehr § 2 Abs. 1 Nr. 1 und 2 HeimG i.d.F. v. 5.11.2001 BGBl. I, 2970).
3. Wie das OLG Koblenz (OLG Koblenz v. 21.3.2002 - 5 U 1648/01, NJW-RR 2002, 867 [868]) zutreffend ausführt, kann nicht generell, sondern nur auf Grund einer sorgfältigen Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden, welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung hat, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines alten und kranken Menschen zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen. Im vorliegenden Fall ist der Unfallhergang im Einzelnen nicht mehr aufklärbar. Das Berufungsgericht hat es mit Recht abgelehnt, der Klägerin Beweiserleichterungen im Sinne einer Beweislastumkehr zugute kommen zu lassen. Allein aus dem Umstand, dass die Heimbewohnerin im Bereich des Pflegeheims der Beklagten gestürzt ist und sich dabei verletzt hat, kann nicht auf eine schuldhafte Pflichtverletzung des Pflegepersonals der Beklagten geschlossen werden. Darlegungs- und beweispflichtig ist vielmehr insoweit die Klägerin als Anspruchstellerin; Gegenteiliges lässt sich insb. nicht aus der Entscheidung des BGH v. 18.12.1990 (BGH v. 18.12.1990 - VI ZR 169/90, MDR 1991, 846 = NJW 1991, 1540 f. = VersR 1991, 310 f.) herleiten. Der VI. Zivilsenat hat dort ausgeführt, die Beweislastumkehr nach § 282 BGB a.F. (nunmehr § 280 Abs. 1 S. 2 BGB n.F.) könne nach dem Sinn der Beweisregel auch den Nachweis eines objektiven Pflichtverstoßes des Schuldners umfassen, wenn der Gläubiger im Herrschafts- und Organisationsbereich des Schuldners zu Schaden gekommen sei und die den Schuldner treffenden Vertragspflichten (auch) dahin gegangen seien, den Gläubiger gerade vor einem solchen Schaden zu bewahren. Daraus hat der VI. Zivilsenat für den damals zu beurteilenden Sachverhalt die Folgerung gezogen, wenn ein Patient im Krankenhaus bei einer Bewegungs- und Transportmaßnahme der ihn betreuenden Krankenschwester aus ungeklärten Gründen das Übergewicht bekomme und stürze, so sei es Sache des Krankenhausträgers, aufzuzeigen und nachzuweisen, dass der Vorfall nicht auf einem pflichtwidrigen Verhalten der Pflegekraft beruhe (ähnlich OLG Dresden v. 21.7.1999 - 6 U 882/99, OLGReport Dresden 1999, 420 = NJW-RR 2000, 761 für die Ursache des Sturzes einer Pflegeheimpatientin, die sich in Begleitung und Betreuung einer Pflegekraft befunden hatte). Um eine derartige Konstellation ging es hier nicht. Die Bewohnerin befand sich nicht in einer konkreten Gefahrensituation, die gesteigerte Obhutspflichten auslöste und deren Beherrschung einer speziell dafür eingesetzten Pflegekraft anvertraut worden war. Vielmehr ging es hier (lediglich) um den normalen, alltäglichen Gefahrenbereich, der grundsätzlich in der eigenverantwortlichen Risikosphäre der Geschädigten verblieb. Vergeblich versucht die Revision, hiergegen einzuwenden, dass bei dieser Betrachtungsweise der Geschädigte umso schlechter dastünde, je weniger man sich um ihn kümmere. Werde er sich selbst überlassen, treffe ihn die Darlegungs- und Beweislast. Sei hingegen eine Pflegeperson anwesend, die dem Betroffenen helfe und unmittelbaren Einfluss nehmen könne, solle sich der Träger des Pflegeheims entlasten müssen. Das könne nicht richtig sein. Dabei wird, worauf die Revisionserwiderung zutreffend hinweist, verkannt, dass es bei der Beweislastumkehr jeweils nur darum gehen kann, ob in der konkreten Unfallsituation eine Sicherungspflicht bestanden hatte, die gerade die Schädigung ausschließen sollte. Dementsprechend wird für vergleichbare Unfallhergänge auch in der Rechtsprechung der OLG eine Beweislastumkehr abgelehnt (OLG Hamm v. 25.6.2002 - 9 U 36/02, OLGReport Hamm 2002, 373 = MDR 2002, 1370 = NJW-RR 2003, 30 [31]; OLG München v. 25.7.2003 - 27 U 237/03, VersR 2004, 618 [619]).
4. Die Revision lastet der Beklagten insb. an, sie habe es versäumt, die Bewohnerin im Bett zu fixieren, mindestens aber die Bettgitter hochzufahren. Dieser Vorwurf ist indessen unbegründet.
a) In rechtsfehlerfreier tatrichterlicher Würdigung hat das Berufungsgericht festgestellt, dass das Pflegepersonal diese Sicherungsmaßnahmen für entbehrlich halten durfte. Insbesondere hat dabei der Umstand Gewicht, dass der von der Klägerin selbst nach dem bis dahin letzten Sturz der Bewohnerin (Januar 1998) beauftragte ärztliche Gutachter zwar schwere Einschränkungen des Stütz- und Bewegungsapparates diagnostiziert hatte (Liegen, Sitzen, Stehen mit Hilfe, Gehen mit Hilfe und Gehstütze, sehr unsicher, kleinschrittig), aber gleichwohl besondere Sicherungsmaßnahmen beim Liegen im Bett nicht in Erwägung gezogen hatte. Das OLG Koblenz (OLG Koblenz v. 21.3.2002 - 5 U 1648/01, NJW-RR 2002, 867 [868]), dem sich das Berufungsgericht angeschlossen hat, weist nicht ohne Grund darauf hin, dass dasjenige, was sich dem medizinischen Dienst der im Schadensfall eintrittspflichtigen Krankenkasse an Sicherungsmaßnahmen nicht aufdrängt, sich bei unverändertem Befund auch der Leitung eines Altenheims nicht aufdrängen muss. Dies gilt trotz des von der Revision - an sich zutreffend - hervorgehobenen Umstandes, dass das Gutachten der Feststellung der Pflegebedürftigkeit und der Zuordnung zu der entsprechenden Pflegestufe diente. Dieser beschränkte Zweck des Gutachtens änderte nichts daran, dass dort auch Vorschläge zur Versorgung in der stationären Pflegeeinrichtung sowie zur Ausstattung mit Pflegehilfsmitteln vorgesehen waren und derartige Empfehlungen auch - in anderen Bereichen - tatsächlich erteilt wurden. Dass aus der Sicht des Pflegepersonals keine besonderen weiter gehenden Maßnahmen ergriffen zu werden brauchten, wird indiziell dadurch bestätigt, dass in der Folgezeit, nach Erstattung des Gutachtens, die Bewohnerin über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren sturzfrei geblieben war.
b) Hinzu kommt Folgendes: Jene Sicherungsmaßnahmen hätten, da sie auch nach der Einschätzung der Klägerin nicht durch eine konkrete, einzelfallbezogene Gefahrensituation gefordert wurden, nur abstrakt-generalisierend, d.h. auf Dauer, getroffen werden müssen, um die allgemeine Gefahr eines Sturzes zu bannen. Damit aber hätten sie den Charakter von Maßnahmen erhalten, die der - unter Betreuung stehenden - Bewohnerin über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen und deshalb der Genehmigung durch das Vormundschaftsgericht bedurft hätten (§ 1906 Abs. 4 BGB). Die Beklagte hatte indessen aus den vorgenannten Gründen keinen hinreichenden Anlass, von sich aus auf eine derartige Entscheidung des Vormundschaftsgerichts hinzuwirken.
5. In rechtsfehlerfreier tatrichterlicher Würdigung hat das Berufungsgericht eine schuldhafte Pflichtverletzung auch nicht darin erblickt, dass die Mitarbeiter der Beklagten es unterlassen hatten, der Bewohnerin Hüftschutzhosen (Protektorhosen) anzulegen, durch die die Gefahr eines Knochenbruchs bei einem Sturz gemindert worden wäre. Die Klägerin selbst hatte erstmals in ihrer Berufungserwiderung eher beiläufig darauf hingewiesen, dass die Bewohnerin durch Tragen von Hüftprotektoren vor den hier eingetretenen Folgen eines Sturzes hätte bewahrt werden können. Entgegen der Auffassung der Revision durfte das Berufungsgericht davon ausgehen, dass dieses Vorbringen nicht hinreichend substantiiert war. Weder hatte die Klägerin konkret vorgetragen, noch unter Beweis gestellt, mit welchem Grad an Wahrscheinlichkeit Verletzungen, wie sie die Bewohnerin erlitten hatte, durch das Tragen dieser Schutzvorrichtungen zu verhindern gewesen wären. Die weitere Feststellung des Berufungsgerichts, dass das Tragen von Protektoren die Gefahr des Wundliegens erhöht, wird von der Revision nicht angegriffen.
6. Zu Unrecht macht die Revision weiter geltend, die Beklagte habe es versäumt, dafür Sorge zu tragen, dass der Bewohnerin beim Aufstehen Hilfe zuteil wurde. Dieser Pflicht war die Beklagte vielmehr hinreichend dadurch nachgekommen, dass sie in Reichweite der Bewohnerin eine Klingel bereitgestellt hatte, mit der diese im Bedarfsfall Hilfe hätte herbeirufen können. Das Berufungsgericht weist ferner zutreffend darauf hin, es sei weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Bewohnerin beim Aufstehen stets der Hilfe bedurft hätte. Die Forderung, der Bewohnerin jedes Mal beim Aufstehen (unaufgefordert) Hilfe zu leisten, würde auf eine lückenlose Überwachung durch die Mitarbeiter des Pflegeheims hinauslaufen. Dies würde über das einem Pflegeheim wirtschaftlich Zumutbare hinausgehen und zudem auch den Interessen der Heimbewohner an der Wahrung ihrer Privatsphäre widersprechen.
Fundstellen
Haufe-Index 1366769 |
BGHZ 2005, 53 |
NJW 2005, 1937 |
BGHR 2005, 1042 |
FamRZ 2005, 1074 |
JurBüro 2005, 556 |
KrV 2005, 190 |
NJ 2005, 415 |
VersR 2005, 1539 |
VersR 2005, 984 |
AUR 2005, 279 |
GV/RP 2006, 301 |
GesR 2005, 282 |
PflR 2005, 267 |
FuBW 2006, 658 |
FuHe 2007, 412 |
R&P 2005, 151 |
SozialRecht aktuell 2005, 157 |