Verfahrensgang
LG Görlitz (Urteil vom 07.08.2001) |
Tenor
1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Görlitz vom 7. August 2001 wird verworfen. Er trägt die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen.
2. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das genannte Urteil aufgehoben, soweit das Verfahren hinsichtlich der Fälle 52, 53 der Anklage eingestellt worden ist.
3. Die weitergehenden Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin werden verworfen.
4. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch eines Kindes in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Ferner hat die Strafkammer das Verfahren hinsichtlich der Anklagepunkte 52 und 53 durch Prozeßurteil eingestellt und den Angeklagten im übrigen freigesprochen. Gegen seine Verurteilung hat der Angeklagte im vollen Umfang Revision eingelegt. Die Staatsanwaltschaft und die Nebenklägerin wenden sich mit ihren Revisionen gegen die Mehrzahl der Freisprüche und die vom Tatgericht vorgenommene Teileinstellung.
Die Revision des Angeklagten zeigt keinen ihn beschwerenden Rechtsfehler auf. Demgegenüber haben die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin zum Teil Erfolg.
1. Zu Unrecht ist das Landgericht davon ausgegangen, daß einer Sachentscheidung hinsichtlich der Fälle 52, 53 der Anklage ein Verfahrenshindernis entgegenstehe.
Mit der – unverändert zugelassenen – Anklage ist dem Angeklagten vorgeworfen worden, in der Zeit von 1993/1994 bis zum 14. September 1997 die am 15. September 1984 geborene Nebenklägerin im Genitalbereich gestreichelt und mit ihr vaginal verkehrt zu haben (Fälle 1 – 51). Darüber hinaus ist ihm zur Last gelegt worden, die Nebenklägerin im genannten Zeitraum gezwungen zu haben, den – in der Anklageschrift näher beschriebenen – Oralverkehr an ihm durchzuführen (Fälle 52, 53). Wegen weiterer sexueller Handlungen zum Nachteil der Nebenklägerin in den Jahren 1992 – 1999 hatte die Staatsanwaltschaft gemäß § 154 Abs. 1 StPO von der Verfolgung abgesehen.
Hinsichtlich der durch das Prozeßurteil eingestellten Fälle ist das Landgericht der Ansicht, daß es insoweit an einer wirksamen Anklage fehle. Als Tatzeitraum sei in der Anklageschrift 1993/94 bis 14. September 1997 angegeben. Hierzu in der Hauptverhandlung befragt, habe die Geschädigte letztlich nicht sicher ausschließen können, daß diese Taten möglicherweise erst später stattgefunden hätten. Hinzu komme, daß die Staatsanwaltschaft wegen weiterer Taten nach § 154 Abs. 1 StPO von der Verfolgung abgesehen habe.
Dies hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Nach § 264 Abs. 1 StPO ist Gegenstand der Urteilsfindung „die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt”. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist das gesamte Verhalten des Täters, soweit es nach natürlicher Auffassung einen einheitlichen Lebensvorgang darstellt (Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 45. Aufl. § 264 Rdn. 2 m. w. N.). Verändert sich im Laufe eines Verfahrens das Bild eines Geschehens, auf das die Anklage hinweist, so ist entscheidend, ob die „Nämlichkeit der Tat” trotz dieser Abweichung noch gewahrt ist. Dies ist der Fall, wenn – ungeachtet gewisser Differenzen – bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als einmaliges, unverwechselbares Geschehen kennzeichnen (vgl. BGH NJW 1999, 802, insoweit in BGHSt 44, 256 nicht abgedruckt; BGH NStZ-RR 1998, 304).
So verhält es sich hier. Zwar mag bei dem sexuellen Mißbrauch von Kindern im häuslich-familiären Bereich nicht selten die zeitliche Einordnung des Geschehens für die Feststellung einzelner Taten von besonderer Bedeutung sein, da die Mehrzahl der Übergriffe einem bestimmten, gleichförmigen Handlungsmuster folgen (vgl. BGHSt 46, 130, 133; BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 19, 22). Im vorliegenden Fall besteht indes kein Zweifel, daß trotz der nicht näher bestimmbaren Tatzeit die in der Anklage unter Nr. 52 sowie Nr. 53 wiedergegebenen Vorgänge den im Urteil festgestellten entsprechen. Denn nach den – rechtsfehlerfrei als glaubhaft erachteten – Schilderungen der Nebenklägerin ist es vom Beginn der Tathandlungen an insgesamt „lediglich” zweimal zum Oralverkehr gekommen (UA S. 19). Vor allem aber hat die Strafkammer weitere die beiden Taten eindeutig kennzeichnende und der Anklage entsprechende Details festgestellt (vgl. im einzelnen UA S. 19 f.).
Nach alledem ist der Umstand, daß die beiden Handlungen möglicherweise erst nach dem Ende des in der Anklage bezeichneten Zeitraums begangen worden sein könnten (UA S. 74; anders allerdings UA S. 20), für die „Nämlichkeit der Taten” ohne Belang. Da die festgestellten Handlungen den „in der Anklage bezeichneten Taten” entsprechen (vgl. § 264 StPO), konnte auch die von der Staatsanwaltschaft vorgenommene Verfahrensbeschränkung gemäß § 154 Abs. 1 StPO insoweit keine Wirkung entfalten, da sie sich nur auf weitere (nicht angeklagte) Taten bezog.
2. Die weitergehenden Revisionen haben dagegen keinen Erfolg.
a) Die von der Nebenklägerin erhobene Verfahrensrüge, die Einholung eines weiteren aussagepsychologischen Gutachtens sei zu Unrecht abgelehnt worden, entspricht schon nicht den Formerfordernissen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, da der Inhalt des schriftlichen Gutachtens der gehörten Sachverständigen nicht mitgeteilt wird (vgl. BGH NStZ-RR 1996, 362; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 244 Rdn. 85). Im übrigen ist die Rüge auch unbegründet, da die Strafkammer den Antrag rechtsfehlerfrei unter Hinweis auf ihre eigene Sachkunde abgelehnt hat (vgl. § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO).
b) Auch die sachlichrechtliche Überprüfung gibt keinen Anlaß zu durchgreifenden Bedenken. Dies gilt letztlich auch soweit die Staatsanwaltschaft beanstandet, daß das Landgericht trotz der auf eine größere Anzahl sexueller Übergriffe hinweisenden Angaben der Nebenklägerin nur in sechs Fällen zu einer Verurteilung gelangt ist.
Zwar ist die Ermittlung des Mindestschuldumfangs unter bestimmten Voraussetzungen im Wege der Schätzung auf tragfähiger Grundlage möglich (vgl. zusammenfassend BGH NJW 2002, 1508, 1510 m. w. N.). Dies hat der Bundesgerichtshof auch für Taten, die sich – wie hier – gegen höchstpersönliche Rechtsgüter richten, bereits entschieden (vgl. BGHR StGB § 176 Serienstraftaten 8). Vor diesem Hintergrund wäre im vorliegenden Fall eine andere Bewertung nicht undenkbar gewesen. Gleichwohl ist die vom Landgericht vorgenommene Würdigung vom Revisionsgericht noch hinzunehmen. Die Strafkammer hat umfassend begründet, warum sie sich hinsichtlich weiterer Tatvorwürfe die für eine Verurteilung notwendige Überzeugung im Sinne des § 261 StPO nicht hat verschaffen können (UA S. 57, 71 f.). Soweit das Tatgericht in Übereinstimmung mit der Sachverständigen auf den lang zurückliegenden Tatzeitraum hinweist, ferner auf die in diesem Zusammenhang beschränkte Erinnerungsfähigkeit der Nebenklägerin – dies gerade auch vor dem Hintergrund, daß diese gegenüber Dritten zur Anzahl der Taten unterschiedliche Angaben gemacht hat – läßt die Beweiswürdigung keinen Rechtsfehler erkennen.
3. Für den Fall einer Verurteilung in den Anklagepunkten 52 und 53 wird der neue Tatrichter eine neue Gesamtstrafe mit den rechtskräftigen Einzelstrafen gemäß §§ 54, 55 StGB zu bilden haben.
Unterschriften
Harms, Basdorf, Gerhardt, Raum, Brause
Fundstellen
Haufe-Index 2560083 |
NStZ 2002, 659 |