Verfahrensgang
LG Oldenburg (Urteil vom 29.07.2015) |
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 29. Juli 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Tatbestand
Rz. 1
Das Landgericht hat das gegen den Angeklagten wegen des Verdachts des Betruges geführte Strafverfahren mit der Begründung eingestellt, es bestehe das Verfolgungshindernis des Art. 54 SDÜ. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
I.
Rz. 2
1. Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Oldenburg vom 23. Juni 2008 legt dem Angeklagten folgendes, als Betrug (§ 263 StGB) gewertetes Geschehen zur Last:
Rz. 3
a) Der anderweitig Verfolgte H. handelte unter der Firma „N.” mit Lastkraftwagen. Unter Vermittlung des anderweitig Verfolgten S. kamen der Angeklagte und H. im Mai 2006 überein, H. solle zum Schein einen Liefervertrag mit der litauischen Firma „U.” abschließen, um eine von dieser beauftragte finanzierende Bank zur Auszahlung des vereinbarten Kaufpreises zu veranlassen. Die so erlangten Zahlungen wollten sie untereinander aufteilen. Das „N.” bot der „U.” daraufhin zehn Lkws zum Gesamtpreis von 1.286.900 EUR an, wovon 45 % bei Vertragsschluss fällig sein sollten. Am 29. Juni 2006 schlossen das „N.”, die „U.” und die litauische „U. S.” – das von der „U.” eingeschaltete Leasing-Unternehmen – einen entsprechenden Vertrag. Die „U.S.” überwies die Anzahlung in Höhe von 579.105 EUR am 10. Juli 2006 auf das Konto H.s, der sich den Betrag wie vereinbart mit S. und dem Angeklagten teilte.
Rz. 4
b) In Kenntnis der Umstände trat unter Vermittlung des anderweitig Verfolgten St. am 11. August 2006 die „B. N.” des anderweitig Verfolgten K. – faktischer Geschäftsführer der anderweitig Verfolgte B. – anstelle des „N.” auf Verkäuferseite in den Vertrag ein. Alle Beteiligten wollten nun von der „U. S.” auch den Restkaufpreis erlangen und unter sich teilen. St. fertigte unter dem 29. August 2006 einen internationalen Frachtbrief sowie eine Rechnung der „B. N.” über die angebliche Lkw-Lieferung und reichte diese bei der B. L. ein. Auf der Grundlage eines von der „U. S.” darauf am 8. September 2006 ausgestellten Kreditbriefs überwies die B. L. am 9. September 2006 705.296,62 EUR auf das Konto der „B. N.”, die zu diesem Zeitpunkt unter „Br.” firmierte. An der Summe wurde vereinbarungsgemäß auch der Angeklagte beteiligt.
Rz. 5
2. Das Landgericht Oldenburg sprach den Angeklagten wegen dieses Sachverhalts am 29. April 2009 der Beihilfe zur Untreue (§§ 266, 27 StGB) schuldig und verurteilte ihn zu der Freiheitsstrafe von vier Jahren. Nach den Feststellungen sollten 42,5 % des von der „U. S.” ausbezahlten Kaufpreises vereinbarungsgemäß an die – sich mithin des Schein-charakters des Kaufvertrages bewussten – Verantwortlichen der „U.”zurückfließen. Da dies unvereinbar war mit der weiteren Feststellung, deren Geschäftsführer habe am 12. August 2006 die „B. N.” aufgesucht, um sich die Lkws zeigen zu lassen, S. und St. hätten sich aus diesem Anlass beraten, wie sie dem Besucher die Abstellmöglichkeiten der „B. N. GmbH” für die Fahrzeuge nachweisen könnten, hob der Senat das Urteil am 4. März 2010 auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurück (3 StR 498/09).
Rz. 6
3. Am 21. November 2011 erhob das Ermittlungsamt für Finanzstraftaten beim Ministerium des Inneren der Republik Litauen gegen den Angeklagten Anklage zum Bezirksgericht Vilnius/Litauen wegen des Vorwurfs der Geldwäsche (Art. 216 Teil 1 des Strafgesetzbuchs der Republik Litauen).
Rz. 7
a) Es ging von folgendem Sachverhalt aus:
Rz. 8
Der Angeklagte war als Mitglied einer in Litauen und in Deutschland agierenden Bande beteiligt am Abschluss eines Scheingeschäfts über die Lieferung von zehn Zugmaschinen durch das deutsche Unternehmen H., später durch die „B. G.”, an die litauische „U.”. Es war geplant, die bei den deutschen Firmen eingehenden Beträge in bar abzuheben und unter den Bandenmitgliedern aufzuteilen. Wie der Angeklagte wusste, überwies die „U. S. ” am 3. Juli 2006 579.105 EUR an H. und am 8. September 2006 707.795 EUR an die „B. G.”. Insgesamt 853.000 EUR hiervon nahm der Angeklagte an verschiedenen Orten in Deutschland in bar entgegen. Um dieses auf kriminelle Weise erlangte Bargeld zu legalisieren, zahlte er es teils auf seine Konten bei der litauischen Bank „A.” ein, teils nutzte er es für Geschäfte.
Rz. 9
b) Zum Beweis stützte sich diese Anklage in erster Linie auf das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 29. April 2009. Im Verlauf der Hauptverhandlung wurde dessen Aufhebung durch den Bundesgerichtshof am 4. März 2010 bekannt, weshalb das Bezirksgericht Vilnius das Verfahren am 20. März 2012 nach Art. 254 Teil 3, Art. 253d der litauischen Strafprozessordnung zu Nachermittlungen und neuer Entscheidung an die Staatsanwaltschaft zurückgab. Diese hielt es für zweckmäßig, das neue Urteil des Landgerichts Oldenburg abzuwarten. In der Folge verlängerte das insoweit zuständige Amtsgericht der Stadt Vilnius auf Antrag der Staatsanwaltschaft mehrfach die vom Bezirksgericht gesetzte Frist, zuletzt am 21. März 2013 für weitere drei Monate ab 22. März 2013.
Rz. 10
Auf die Beschwerde des Angeklagten hob das Bezirksgericht Vilnius durch Beschluss vom 9. April 2013 die Entscheidung des Amtsgerichts auf und stellte das Ermittlungsverfahren wegen zu langer Dauer ein (Art. 442 Teil 1 Ziffer 2, Art. 212 Ziffer 10 der litauischen Strafprozessordnung). Art. 2d, Art. 17 Teil 1 und Art. 44 Teil 5 der litauischen Strafprozessordnung sähen vor, Ermittlungen in der kürzest möglichen Zeit durchzuführen. Die bloße Verlängerung des Ermittlungsverfahrens ohne tatsächliche Ermittlungshandlungen und nur in Erwartung des rechtskräftigen Urteils eines deutschen Gerichts sei „keine rechtliche Grundlage für die Durchführung eines Ermittlungsverfahrens”.
Rz. 11
4. Auf die erneute Hauptverhandlung stellte das Landgericht Oldenburg das Verfahren gegen den Angeklagten mit Urteil vom 29. Juli 2015 gemäß § 260 Abs. 3 StPO ein. Infolge des unanfechtbaren Beschlusses des Bezirksgerichts Vilnius vom 9. April 2013 stehe einer Aburteilung der Tat nunmehr das Verbot der Doppelbestrafung nach Art. 54 SDÜ entgegen.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 12
Das Landgericht ist zu Unrecht von einem Verfahrenshindernis ausgegangen. Art. 54 SDÜ steht der weiteren Verfolgung des Angeklagten in dem in Deutschland gegen ihn anhängigen Strafverfahren nicht entgegen.
Rz. 13
1. Der Senat lässt offen, ob die Ansicht der Revision zutrifft, das deutsche und das litauische Strafverfahren beträfen nicht „dieselbe Tat” im Sinne von Art. 54 SDÜ. Der Beschluss des Bezirksgerichts Vilnius vom 9. April 2013 beinhaltet jedenfalls keine „rechtskräftige Aburteilung” der Tat durch eine andere Vertragspartei im Sinne dieser Vorschrift.
Rz. 14
a) Haben die in verschiedenen Vertragsstaaten geführten Strafverfahren dieselbe Straftat zum Gegenstand, so ist die Frage, ob diese in einem der Vertragsstaaten bereits im Sinne von Art. 54 SDÜ rechtskräftig abgeurteilt worden ist, unter zwei Gesichtspunkten zu prüfen (vgl. EuGH, Urteil vom 29. Juni 2016 – C-486/14, juris Rn. 34 ff.; 42 ff.).
Rz. 15
aa) Der im anderen Vertragsstaat ergangenen Entscheidung muss zunächst Rechtskraftwirkung dergestalt zukommen, dass sie einen endgültigen Abschluss des Verfahrens darstellt und einer weiteren Verfolgung des Betroffenen wegen der Tat ein rechtliches Hindernis entgegensteht (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 1999 – 4 StR 87/98, NJW 1999, 3134). Um als eine rechtskräftige Aburteilung im Sinne von Art. 54 SDÜ angesehen werden zu können, muss die Entscheidung endgültig die Strafverfolgung beenden und die Strafklage verbrauchen. Dies setzt die Prüfung voraus, ob das nationale Recht des Vertragsstaats, dessen Behörden die fragliche Entscheidung erlassen haben, diese als endgültig und bindend ansieht, und die Gewissheit darüber, ob die Entscheidung in diesem Staat den sich aus dem Verbot der Doppelbestrafung ergebenden Schutz bewirkt. Eine Entscheidung, die nach dem Recht des ersten Vertragsstaats, der die Strafverfolgung gegen einen Betroffenen einleitet, die Strafklage auf nationaler Ebene nicht endgültig verbraucht, kann grundsätzlich nicht als ein Verfahrenshindernis hinsichtlich der etwaigen Einleitung oder Fortführung der Strafverfolgung wegen derselben Tat gegen diesen Betroffenen in einem anderen Vertragsstaat angesehen werden (EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2008 – C-491/07, NStZ-RR 2009, 109, 110; Urteil vom 29. Juni 2016 – C-486/14, juris Rn. 34 f.). Die Form der Entscheidung und das entscheidende Strafverfolgungsorgan bleiben unter den genannten Voraussetzungen ohne Belang (vgl. EuGH, Urteil vom 11. Februar 2003 – C-187/01 und C-385/01, NJW 2003, 1173, zur Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft nach § 153a der deutschen StPO). Allein die von Art. 4 Abs. 2 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK zugelassene Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens, „falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen” geeignet sind, das ergangene Urteil in Zweifel zu ziehen, ändert am Strafklageverbrauch aber nichts; als eine rechtskräftige Aburteilung im Sinne von Art. 54 SDÜ ist danach etwa auch ein Einstellungsbeschluss ohne Eröffnung des Hauptverfahrens anzusehen, der in dem Vertragsstaat, in dem dieser Beschluss ergangen ist, erneute Ermittlungen aufgrund des gleichen Sachverhalts gegen die Person, zu deren Gunsten dieser Beschluss ergangen ist, verhindert, sofern keine neuen Belastungstatsachen gegen Letztere auftauchen (EuGH, Urteil vom 5. Juni 2014 – C-398/12, NJW 2014, 3010, 3012).
Rz. 16
bb) Zudem darf die Entscheidung nicht lediglich auf formalen Gründen beruhen, sondern muss aufgrund einer Prüfung der Tatvorwürfe in der Sache ergangen sein (EuGH, Urteil vom 29. Juni 2016 – C-486/14, juris Rn. 42). Auch hierzu hat sich der Europäische Gerichtshof bereits im Zusammenhang mit der gerichtlichen Nichtigerklärung einer von der Kommission verhängten wettbewerbsrechtlichen Sanktion grundsätzlich geäußert (EuGH, Urteil vom 15. Oktober 2002 – C-238/99 u.a., Slg. 2002, I-8375, 8652): Der in Art. 54 SDÜ normierte Grundsatz ne bis in idem, bei dem es sich um einen auch in Art. 4 Absatz 1 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK verankerten tragenden Grundsatz des Gemeinschaftsrechts handelt, verbietet, dass ein Betroffener, der in Bezug auf ein Verhalten in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, erneut verurteilt oder verfolgt wird. Die Anwendung dieses Grundsatzes setzt somit voraus, dass über das Vorliegen der Zuwiderhandlung entschieden oder die Rechtmäßigkeit ihrer Würdigung geprüft wurde. Der Grundsatz ne bis in idem verbietet daher nur eine neue sachliche Würdigung des Vorliegens der Zuwiderhandlung, die dazu führen würde, dass entweder – falls die Verantwortlichkeit erneut bejaht wird – eine zweite, zur ersten hinzukommende Sanktion oder – falls die in der ersten Entscheidung verneinte Verantwortlichkeit in der zweiten Entscheidung bejaht wird – eine erste Sanktion verhängt wird. Dagegen steht er einer Wiederaufnahme von Verfolgungsmaßnahmen, die das gleiche Verhalten betreffen, nicht entgegen, wenn eine erste Entscheidung aus formalen Gründen ohne materielle Beurteilung des zur Last gelegten Sachverhalts für nichtig erklärt wurde; die Nichtigerklärung stellt dann keinen „Freispruch” im strafrechtlichen Sinne dar. So findet Art. 54 SDÜ auch keine Anwendung auf eine Entscheidung der Gerichte eines Vertragsstaats, mit der ein Verfahren für beendet erklärt wird, nachdem die Staatsanwaltschaft beschlossen hat, die Strafverfolgung nur deshalb nicht fortzusetzen, weil in einem anderen Mitgliedstaat Strafverfolgungsmaßnahmen gegen denselben Beschuldigten wegen derselben Tat eingeleitet worden sind, und ohne dass eine Prüfung in der Sache stattgefunden hat (EuGH, Urteil vom 10. März 2005 – C-469/03, NJW 2005, 1337, 1338). Im Hinblick auf den Kohärenzgedanken des Art. 3 Abs. 2 EUV hat der Europäische Gerichtshof schließlich eine Sachentscheidung auch bei einer Verfahrenseinstellung verneint, die rechtlich zwar auf einer Beurteilung der Beweislage beruht, deren Gründe aber zu erkennen geben, dass in tatsächlicher Hinsicht eingehende Ermittlungen unterblieben sind (EuGH, Urteil vom 29. Juni 2016 – C-486/14, juris Rn. 46 ff., 54).
Rz. 17
b) Nach diesen Maßstäben begegnet die Annahme des Landgerichts, das Bezirksgericht Vilnius habe die Tat am 9. April 2013 bereits rechtskräftig abgeurteilt, durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Rz. 18
aa) Allerdings ist unzweifelhaft, dass der Beschluss vom 9. April 2013 das gegen den Angeklagten in Litauen geführte Strafverfahren endgültig beendete und der weiteren Verfolgung der Tat durch die litauischen Behörden auf Dauer entgegensteht. Das Bezirksgericht Vilnius teilt in den Gründen mit, dass dieser am Tage der Verkündung rechtskräftig werde und Rechtsmittel hiergegen nicht gegeben seien. Bestätigt wird dies durch eine vom Generalbundesanwalt im Rahmen des Europäischen justiziellen Netzes eingeholte Auskunft des am Obersten Gerichtshof Litauens tätigen Richters G., wonach der Beschluss des Bezirksgerichts, das Verfahren gemäß Art. 212 Ziffer 10 der litauischen Strafprozessordnung einzustellen, nach Art. 442 Teil 2 dieses Gesetzes unanfechtbar sei, einer Wiederaufnahme des Verfahrens auch bei Vorliegen neuer Tatsachen entgegenstehe und somit die Strafklage endgültig verbrauche.
Rz. 19
bb) Indes erging die Entscheidung des Bezirksgerichts Vilnius nicht aufgrund einer Prüfung der Tatvorwürfe in der Sache. Der Senat hat hierzu am 7. Juni 2016 im Wege des Freibeweises eine ergänzende Stellungnahme des Richters G. eingeholt. Danach beruht eine Einstellung des Verfahrens nach Art. 212 Ziffer 10 in Verbindung mit Art. 215 der litauischen Strafprozessordnung allein auf dem formalen Grund einer nach der ersten Vernehmung des Beschuldigten eingetretenen Überlänge des Verfahrens, welche die Staatsanwaltschaft nicht überzeugend mit der Schwierigkeit der Ermittlungen zu erklären vermag. Der Grad des gegen den Beschuldigten bereits bestehenden Tatverdachts bleibt dabei von Gesetzes wegen ohne Belang.
Rz. 20
2. Zwar hat der Europäische Gerichtshof den Freispruch wegen eingetretener Strafverfolgungsverjährung als eine Entscheidung in der Sache angesehen (EuGH, Urteil vom 28. September 2006 – C-467/04, NJW 2006, 3403). Dies ändert jedoch an obigem Ergebnis nichts, denn eine Verfahrensbeendigung wegen Strafverfolgungsverjährung ist mit einer solchen wegen überlanger Verfahrensdauer auch unter dem Blickwinkel des supranationalen Rechts nicht vergleichbar.
Rz. 21
a) Die Regelungen zur Strafverfolgungsverjährung dienen – ungeachtet einer möglichen unterschiedlichen Ausgestaltung in den einzelnen nationalen Rechtsordnungen als materielles oder prozessuales Rechtsinstitut – der Herstellung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit. Mit dem Ablauf der gesetzlich bestimmten Verjährungsfrist tritt Rechtsfrieden ein (BGH, Beschluss vom 22. Mai 2006 – 5 StR 578/05, NJW 2006, 2338, 2340). Angesichts der keiner Harmonisierung unterliegenden nationalen Verjährungsregeln hat es der Europäische Gerichtshof in der genannten Entscheidung als unvereinbar mit dem Unionsrecht auf Freizügigkeit angesehen, wenn der Beschuldigte in einem anderen Mitgliedstaat nicht auf den ihm vom Urteilsstaat rechtskräftig gewährten „Bürgerfrieden” vertrauen dürfte (EuGH aao, S. 3404).
Rz. 22
b) Sieht die nationale Rechtsordnung demgegenüber – wie Art. 442 Teil 1 Ziffer 2, Art. 212 Ziffer 10 der litauischen Strafprozessordnung – vor, ein Strafverfahren bei überlanger Dauer einzustellen, so bestimmt sie damit die Rechtsfolgen einer von den nationalen Strafverfolgungsorganen zu verantwortenden und zu kompensierenden Verletzung des Rechts des Angeklagten auf eine Verhandlung über den Tatvorwurf innerhalb angemessener Frist (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK). Ob die erreichte Dauer noch angemessen ist, beurteilt sich in erster Linie nach der konkreten Gestaltung des Verfahrensgangs durch die Behörden und Gerichte des jeweiligen Vertragsstaates, insbesondere auch nach dem Zeitpunkt der erstmaligen Bekanntgabe der Beschuldigung oder einer den Beschuldigten ernsthaft beeinträchtigenden Ermittlungsmaßnahme (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2004 – 49017/99, NJW 2006, 1645, 1646). Ein etwa konventionswidriger Verfahrensgang in einem Mitgliedsstaat der EMRK ist einem anderen Mitgliedsstaat, der hierauf keinen Einfluss nehmen konnte, nicht zuzurechnen (BGH, Beschluss vom 23. August 2011 – 1 StR 153/11, BGHSt 57, 1). Im Übrigen fordert das dem Betroffenen in Art. 13 EMRK eingeräumte Recht auf wirksame Beschwerde auch nicht, Strafverfahren im Falle einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK ausnahmslos einzustellen. Auf welche Weise dem Betroffenen ein Ausgleich für die ihm aus der Verletzung seiner Konventionsrechte entstandenen materiellen und immateriellen Nachteile verschafft wird, bleibt vielmehr dem nationalen Staatshaftungsrecht vorbehalten (vgl. EGMR, Urteile vom 26. Oktober 2000 – 30210/96, NJW 2001, 2694, 2700; vom 8. Juni 2006 – 75529/01, NJW 2006, 2389, 2390; zum Verfahrenshindernis von Verfassungs wegen als ultima ratio nach deutschem Recht BVerfG, Beschlüsse vom 5. Februar 2003 – 2 BvR 327/02 u.a., NJW 2003, 2225; vom 21. Januar 2004 – 2 BvR 1471/03, BVerfGK 2, 239, 248). Einen auf den Eintritt von Rechtsfrieden gegründeten Vertrauenstatbestand, künftig auch in anderen Vertragsstaaten vor Strafverfolgung geschützt zu sein, schafft eine von den nationalen Strafverfolgungsorganen für die Verletzung von Konventionsrecht ausgesprochene Wiedergutmachung somit auch dann nicht, wenn sie in der Einstellung des Strafverfahrens besteht.
Rz. 23
c) Eine Vorlage der Sache an den Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV scheidet insoweit aus. Entscheidungserheblich ist in diesem Zusammenhang allein die Frage, ob sich die Bundesrepublik Deutschland Verstöße eines anderen Vertragsstaats gegen die EMRK zurechnen lassen und, falls ja, eine dort ausgesprochene Kompensation in staatshaftungsrechtlicher Hinsicht auch für das hier geführte Verfahren anerkennen muss. Diese – vom Bundesgerichtshof wie dargelegt bereits entschiedene – Frage beurteilt sich nicht nach Europäischem Gemeinschaftsrecht, sondern nach den Vertragsbestimmungen der EMRK.
Rz. 24
3. Aus denselben Gründen folgt für das deutsche Strafverfahren entgegen der Ansicht des Verteidigers auch kein (weiteres) Verfahrenshindernis daraus, dass der Beschluss des Bezirksgerichts Vilnius vom 9. April 2013 auf der Feststellung einer mit Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK unvereinbaren Verfahrensverzögerung durch die litauischen Behörden beruht. Ob das deutsche Strafverfahren unter konventionswidrigen Verfahrensverzögerungen leidet und auf welche Weise diese gegebenenfalls zu kompensieren sind, wird der neue Tatrichter zu prüfen haben. Dem Senat sind Feststellungen hierzu verwehrt.
Unterschriften
Becker, Schäfer, Mayer, Gericke, Spaniol
Fundstellen
Haufe-Index 9695550 |
NJW 2016, 10 |
NJW 2016, 3044 |
NStZ 2016, 8 |
NStZ 2017, 174 |
wistra 2016, 456 |
StraFo 2016, 418 |