Leitsatz (amtlich)
Eine Erstveröffentlichung in einem Verbandsland im Sinne des Art. 6 Abs. 1 der Rom-Fassung der Revidierten Berner Übereinkunft ist auch bei einer erstmaligen Veröffentlichung des Werkes in einer Übersetzung gegeben.
a) Der Inhaber umfassender ausschließlicher Nutzungsrechte an einem Werk ist aufgrund seiner dinglichen Rechtsstellung befugt, die Vervielfältigung und Verbreitung einer unfreien Bearbeitung des Werkes zu untersagen, auch wenn ihm selbst eine Werknutzung in dieser Form nicht gestattet ist.
b) Einem Verlag, der Inhaber ausschließlicher Nutzungsrechte an einem Sprachwerk ist, aber einem anderen ein ausschließliches (Unter-)Verlagsrecht eingeräumt hat, können Ansprüche aus Urheberrechtsverletzung zustehen, wenn das Werk unbefugt in einer unfreien Bearbeitung benutzt wird, falls er – etwa wegen einer Beteiligung an den Einnahmen des Unterlizenznehmers – weiterhin ein berechtigtes Interesse an der Rechtsverfolgung hat. Ein Schadensersatzanspruch ist allerdings der Höhe nach auf den Ersatz des Schadens beschränkt, der dem Verlag selbst – trotz der Einräumung der Unterlizenz – durch die unbefugte Werknutzung entstanden ist.
Wenn die in einem urheberrechtlich geschützten Roman erzählte Geschichte unter Übernahme wesentlicher, charakteristischer Romangestalten fortgeschrieben wird, kann eine freie Benutzung nur unter ganz besonderen Umständen angenommen werden.
Normenkette
RBÜ-Rom Art. 6 Abs. 1; UrhG § 31 Abs. 3, § 97 Abs. 1, § 98 Abs. 1, §§ 23-24
Verfahrensgang
OLG Karlsruhe (Aktenzeichen I ZR 65/96) |
LG Mannheim (Aktenzeichen 7 O 158/94) |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 13. März 1996 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin, ein italienisches Verlagsunternehmen, hat im November 1957 den Roman „Dr. Shiwago” von Boris Pasternak in Italien erstmals – in italienischer Übersetzung – veröffentlicht. Das in russischer Sprache geschriebene Originalwerk erschien – mit Genehmigung der Klägerin – 1958 in den USA. Im Jahr 1965 wurde „Dr. Shiwago” von einer amerikanischen Filmgesellschaft verfilmt.
Unter dem Pseudonym Alexander Mollin schrieb ein englischer Rechtsanwalt als Fortsetzung von „Dr. Shiwago” einen Roman mit dem Titel „Lara's Child”. Aufgrund einer Anfrage erfuhr er, daß der in Moskau lebende Sohn von Pasternak dem Vorhaben nicht zustimme; dieser halte es vielmehr für die Angelegenheit des Autors, was er zu schreiben beabsichtige. Der englische Verlag T. erwarb von Mollin die Rechte für die weltweite Nutzung dieses Werkes. Die Beklagte, die wiederum von T. die Nutzungsrechte an dem Roman für Deutschland erworben hat, vertreibt diesen im Inland in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Laras Tochter” (1. Auflage 1994).
Die Klägerin ist der Ansicht, durch die Vervielfältigung und Verbreitung der deutschen Übersetzung des Romans „Laras Tochter” werde in ihr zustehende Rechte an „Dr. Shiwago” eingegriffen. Pasternak habe nach der Revidierten Berner Übereinkunft (RBÜ) durch die Erstveröffentlichung seines Romans in Italien für diesen auch in Deutschland Urheberrechtsschutz erworben. „Laras Tochter” sei eine unfreie Bearbeitung von „Dr. Shiwago” (u.a. wegen der Übernahme von Romanfiguren, des zeitlichen Hintergrunds und der Schauplätze des Geschehens).
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen,
- es zu unterlassen, das Werk Laras Tochter von Alexander Mollin (ISBN 3-570-12026-0) zu vervielfältigen und/oder zu verbreiten und/oder vervielfältigen und/oder verbreiten zu lassen und/oder für den Vertrieb dieses Werkes zu werben oder werben zu lassen,
- an den Buchhandel bereits ausgelieferte Vervielfältigungsstücke des Werkes gem. Ziff. 1.1 zurückzurufen,
- die gesetzlichen Ordnungsmittel anzudrohen,
die Beklagte zu verurteilen,
- der Klägerin Rechnung darüber zu legen, in welchem Umfang sie die zu 1.1 bezeichneten Handlungen begangen hat, und zwar insbesondere unter Angabe der Gesamtzahl der hergestellten Vervielfältigungsstücke, der Liefermengen, Lieferzeiten, Lieferpreise und der Namen und Anschriften der Abnehmer, einschließlich der Gestehungskosten und einschließlich sämtlicher Kostenfaktoren und des erzielten Gewinns, ferner unter Angabe der Art und des Umfangs der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Kalendervierteljahren, Bundesländern und Werbeträgern, wobei der Beklagten nach ihrer Wahl vorbehalten bleiben mag, die Namen und Anschriften ihrer Abnehmer und Angebotsempfänger nicht der Klägerin, sondern einem von ihr zu bezeichnenden und ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten vereidigten Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagte die Kosten seiner Einschaltung trägt und ihn zugleich ermächtigt, der Klägerin auf konkretes Befragen Auskunft darüber zu geben, ob ein bestimmt bezeichneter Name, eine bestimmt bezeichnete Anschrift oder eine bestimmt bezeichnete Lieferung in der Rechnungslegung enthalten ist,
- die noch in ihrem Besitz befindlichen sowie die nach Ziff. 1.2 zurückzurufenden Vervielfältigungsstücke zu vernichten,
- festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die zu 1.1 gekennzeichneten Handlungen entstanden ist und künftig noch entstehen wird.
Weiter hat die Klägerin einen Antrag auf Urteilsveröffentlichung gestellt.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie hat die Aktivlegitimation der Klägerin bestritten. Sie hat weiter die Auffassung vertreten, daß der Roman „Dr. Shiwago” in Deutschland keinen Urheberrechtsschutz genieße, weil die Sowjetunion im Jahr 1957 weder Vertragsstaat der RBÜ noch des Welturheberrechtsabkommens gewesen sei. Der Klägerin stünden Ansprüche wegen der Vervielfältigung und Verbreitung von „Laras Tochter” aber vor allem deshalb nicht zu, weil dieses Werk den Roman „Dr. Shiwago” nur frei benutzt habe.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht die Klageanträge zugesprochen (OLG Karlsruhe AfP 1997, 717).
Mit ihrer Revision hat die Beklagte begehrt, das landgerichtliche Urteil wiederherzustellen. In der mündlichen Revisionsverhandlung haben die Parteien übereinstimmend den Rückrufanspruch (Klageantrag zu 1.2), den Vernichtungsanspruch, soweit er sich auf zurückzurufende Vervielfältigungsstücke bezieht (Klageantrag zu 3.2) und den Antrag auf Urteilsveröffentlichung für erledigt erklärt. Die Beklagte verfolgt im übrigen mit ihrer Revision, deren Zurückweisung die Klägerin beantragt, ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg.
I. Das Berufungsgericht hat die Beklagte zu Recht verurteilt, es zu unterlassen, das Werk „Laras Tochter” von Alexander Mollin zu vervielfältigen und zu verbreiten (§ 97 Abs. 1 Satz 1, §§ 16, 17 UrhG).
1. Das Berufungsgericht hat zutreffend entschieden, daß der Roman „Dr. Shiwago” von Boris Pasternak in Deutschland gemäß § 121 Abs. 4 UrhG aufgrund staatsvertraglicher Regelung urheberrechtlich geschützt ist.
Der Schutz wurde durch Art. 6 Abs. 1 der Revidierten Berner Übereinkunft (RBÜ) – in der für die Beurteilung dieser Frage weiterhin maßgeblichen Rom-Fassung (vgl. BGHZ 95, 229, 237 – Puccini; Schricker/Katzenberger, Urheberrecht, 2. Aufl., Vor §§ 120 ff. Rdn. 46) – dadurch begründet, daß das Werk im Jahr 1957 erstmals in Italien als einem Verbandsland der Revidierten Berner Übereinkunft veröffentlicht (Art. 4 Abs. 4 Satz 1 RBÜ-Rom) worden ist. Dem steht nicht entgegen, daß der Roman im Jahr 1957 nicht in seiner russischen Originalfassung, sondern in italienischer Übersetzung erschienen ist (vgl. insbesondere Hoffmann, Die Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst, 1935, Art. 4 S. 79 f.; Nordemann/Vinck/Hertin, International Copyright and Neighboring Rights Law, Art. 3/4 BC, Rdn. 3 f.; Schricker/Katzenberger aaO § 6 Rdn. 45; Ulmer, GRUR Int. 1964, 613, 617 f.; Schiefler, UFITA 48 (1966) S. 81, 99; Dittrich, ÖJZ 1971, 225, 234; a.A. Goldbaum, UFITA 29 (1959) S. 32 ff.; Hirsch, UFITA 42 (1964) S. 8, 39 f.; Stroth, UFITA 43 (1964) S. 92 ff.; noch offengelassen in BGHZ 64, 183, 187 – August Vierzehn). Dies folgt zwar (anders als bei dem früheren § 55 Abs. 2 LUG und jetzt § 121 Abs. 1 Satz 2 UrhG für den inländischen Schutz der Werke ausländischer Urheber nach nationalem Recht) nicht bereits aus dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 RBÜ-Rom, aber aus dessen Sinn und Zweck. Eine Übersetzung enthält mit Ausnahme des Wortlauts alle wesentlichen Elemente des Originalwerkes und ermöglicht insoweit der Öffentlichkeit, das Werk kennenzulernen. Mit der Schutzgewährung bei einer Erstveröffentlichung in einem Verbandsland verfolgt Art. 6 Abs. 1 RBÜ-Rom das Ziel, einen Anreiz für verbandsfremde Urheber zu schaffen, ihre Werke in einem Verbandsland der Berner Übereinkunft erscheinen zu lassen. In aller Regel wird dies – dem normalen Bedarf entsprechend – nur in einer Übersetzung in die Sprache des betreffenden Verbandslandes geschehen können. Das Ziel, Erstveröffentlichungen in einem Verbandsland zu fördern, kann dementsprechend nur dann in der angestrebten Weise erreicht werden, wenn das Originalwerk durch die Erstveröffentlichung in einer Übersetzung Schutz nicht nur in dieser Form, sondern auch in seiner Originalgestalt erlangt (vgl. Ulmer, GRUR Int. 1964, 613, 617 f.).
Boris Pasternak hat nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts der Erstveröffentlichung in Italien – wie erforderlich (vgl. Nordemann/Vinck/Hertin aaO Art. 3/4 BC Rdn. 2 m.w.N.) – zugestimmt.
2. Die Klägerin ist befugt, die erhobenen Unterlassungsansprüche gegen die Beklagte geltend zu machen.
a) Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts haben Pasternak und seine Erben der Klägerin umfassende Nutzungsrechte an dem Werk „Dr. Shiwago” eingeräumt. Aufgrund ihrer Rechtsstellung als ausschließlich Nutzungsberechtigte ist die Klägerin befugt, die Vervielfältigung und Verbreitung des Werkes „Laras Tochter” als einer unfreien Bearbeitung des Werkes „Dr. Shiwago” in der Form eines Fortsetzungsromans zu untersagen, obwohl davon auszugehen ist, daß ihr selbst eine derartige Werknutzung von „Dr. Shiwago” nicht gestattet ist. Der Schutzumfang umfassender ausschließlicher Nutzungsrechte, wie sie der Klägerin zustehen, ist insoweit – nicht anders als der Schutzumfang des Urheberrechts selbst – weiter als das positive Benutzungsrecht. Er schließt das Verbietungsrecht gegen eine unfreie Bearbeitung ein, das erforderlich ist, um einen wirksamen Schutz des Rechts zu gewährleisten (vgl. BGHZ 118, 394, 398 – ALF; Ulmer, Urheber- und Verlagsrecht, 3. Aufl., S. 543; vgl. weiter Schricker/Loewenheim aaO § 23 Rdn. 1; Plassmann, Bearbeitungen und andere Umgestaltungen in § 23 Urheberrechtsgesetz, 1996, S. 51 ff.; vgl. auch – zum Geschmacksmusterrecht – BGH, Urt. v. 11.12.1997 - I ZR 134/95, GRUR 1998, 379, 381 = WRP 1998, 406 - Lunette; v. Gamm, GeschmMG, 2. Aufl., § 3 Rdn. 48, § 5 Rdn. 18, 26). Diese Rechtsmacht steht der Klägerin schon als Inhaberin der ihr umfassend eingeräumten ausschließlichen Nutzungsrechte zu und ergibt sich damit bereits aus der dinglichen Rechtslage. Diese richtet sich hier nach deutschem Recht als dem Recht des Staates, für den Schutz begehrt wird (vgl. BGHZ 118, 394, 397 - ALF).
b) Nach der zutreffenden und unbeanstandet gebliebenen Beurteilung des Berufungsgerichts kann die Klägerin die Unterlassungsansprüche gegen die Beklagte geltend machen, obwohl sie selbst einem anderen Verlag ein ausschließliches (Unter-)Verlagsrecht eingeräumt hat. Der Inhaber eines ausschließlichen Nutzungsrechts bleibt auch nach der Einräumung eines solchen Nutzungsrechts weiterer Stufe klageberechtigt, wenn er – wie hier – an den Verkaufserlösen des Unterlizenznehmers beteiligt ist (vgl. BGHZ 118, 394, 399 - ALF; vgl. auch Schricker/Schricker aaO Vor §§ 28 ff. Rdn. 23). Der Feststellung, daß die Lizenzeinnahmen der Klägerin durch die Verletzungshandlung tatsächlich beeinträchtigt sind, bedarf es dazu nicht.
3. Die tatrichterliche Beurteilung des Berufungsgerichts, daß „Laras Tochter” als Forterzählung von „Dr. Shiwago” dieses Werk ohne Zustimmung der Urheberberechtigten in unfreier Bearbeitung benutzt hat, wird von der Revision ohne Erfolg angegriffen.
a) Das Berufungsgericht, dem zwei von den Parteien eingereichte literaturwissenschaftliche Gutachten vorlagen, hat den Umfang, in dem Mollin Romanstoff aus „Dr. Shiwago” in „Laras Tochter” übernommen hat, eingehend dargelegt. Es hat dazu u.a. ausgeführt, Mollin habe die im älteren Werk zu findenden Handlungsfäden in linearer Fortschreibung aufgenommen und – bei allen Unterschieden, die sich naturgemäß ergäben, wenn sich zwei grundverschiedene Autoren desselben Themas annähmen – im Sinne der Vorlage weitergesponnen. „Laras Tochter” habe als Disposition fast alle Teile der Handlung (Fabel) von „Dr. Shiwago” verwendet, die sich für eine Fortsetzung eigneten. Dies gelte insbesondere für das Schicksal der Hauptpersonen, d.h. von Lara (der Geliebten von Shiwago), von Tonja (seiner Ehefrau), von Katja (der Tochter von Lara aus deren Ehe mit Pawel Antipow) und des Rechtsanwalts Komarowski. Lediglich das Schicksal Tanjas (der zweiten – von Shiwago stammenden – Tochter Laras), die freilich auch in „Dr. Shiwago” nur am Rande vorkomme, verfolge der Autor von „Laras Tochter” nurmehr beiläufig.
Mollin habe von Pasternak nicht nur die Personen seines Romans übernommen, sondern auch ihre Umgebung und das Beziehungsgeflecht, das diese Personen verbinde.
In erster Linie sei dabei die Person der Lara zu nennen, die der Leserschaft des „Dr. Shiwago” als die große Liebe von Juri Shiwago in lebendiger Erinnerung sei. Diese werde einerseits als eine eigenständige, starke Persönlichkeit geschildert, andererseits aber in ihrer Abhängigkeit von dem verabscheuten und verabscheuungswürdigen Liebhaber Viktor Komarowski. Zwar lasse sich die in „Laras Tochter” erzählte Geschichte mit einigen anfänglichen Schwierigkeiten auch dann verstehen, wenn man „Dr. Shiwago” nicht gelesen habe. Die Gestalt der Lara werde gleichwohl mit ihren in „Dr. Shiwago” beschriebenen Facetten und ihrer dort erzählten Geschichte als Persönlichkeit vorausgesetzt. Auch die Ehe von Lara mit Pawel Antipow (Strelnikow) gehöre zu den in „Laras Tochter” vorausgesetzten Gegebenheiten.
Wie das Schicksal Laras spinne Mollin auch die Geschichte von Tonja, der Ehefrau Shiwagos, fort. Von ihrer Emigration nach Frankreich und dem Aufbau ihres Lebens dort handle das zweite Buch von „Laras Tochter”. Wie in „Dr. Shiwago” werde Tonja in dem jüngeren Roman als der blassere Charakter, als die Tochter aus gutbürgerlichem Elternhaus, geschildert.
Die Beziehung zwischen Tonja und Lara – und damit das Verhältnis der Ehefrau zur Geliebten des Ehemanns – werde in „Laras Tochter”, in Anknüpfung an einen in „Dr. Shiwago” wiedergegebenen Brief von Tonja an Shiwago, mit der ganzen Ambivalenz der Gefühle wiedergegeben. Mit den weiblichen Hauptpersonen Tonja und Lara und dem zwischen ihnen bestehenden Spannungsfeld nehme „Laras Tochter” einen zentralen Teil der Fabel aus „Dr. Shiwago” auf.
In beiden Romanen sei das Schicksal Laras mit dem von Komarowski eng verbunden. Mit ihm reise sie in „Dr. Shiwago” nach der Trennung von Shiwago im Schlitten nach Jurjatin, um von dort mit dem Zug in die Fernöstliche Republik zu fahren. „Laras Tochter” erzähle dies im ersten Buch. Komarowski trete dem Leser als die aus „Dr. Shiwago” bekannte Gestalt entgegen, als gewiefter, opportunistischer Rechtsanwalt, der sich mit den Verhältnissen nach der Russischen Revolution arrangiert habe. Seine Beziehung zur Familie Shiwago werde auch in „Laras Tochter” wieder aufgegriffen.
Neben diesen Hauptpersonen seien eine Reihe anderer Gestalten aus „Dr. Shiwago” in „Laras Tochter” übernommen. Sascha, der Sohn Shiwagos aus seiner Ehe mit Tonja, und Katja, die Tochter Laras aus deren Ehe mit Pawel Antipow, träten in „Dr. Shiwago” allerdings nur als Kinder auf, während sie im Roman „Laras Tochter” im Mittelpunkt stünden. Weiter übernehme „Laras Tochter” den Vater Tonjas, Professor Gromeko, und die Schwestern Tunzewa, deren von Pasternak beschriebene Eigenschaften jeder Leser von „Laras Tochter” dort im Kapitel „Die drei Schwestern” wiedererkenne.
Aus dem älteren Buch übernehme Mollin für einige Kapitel auch die Schauplätze der Handlung, die Stadt Jurjatin und das in deren Nähe gelegene Gut Warykino. Mollin führe den Leser dorthin zurück und lasse ihn Personen begegnen, die er bereits aus „Dr. Shiwago” kenne (Mikulizyn und Galiullin).
Auch die Art und Weise, wie Mollin den übernommenen Stoff mit der zu erzählenden Fortsetzung verknüpft habe, zeige, daß es sich bei „Laras Tochter” um eine lineare Fortschreibung von „Dr. Shiwago” handle. „Laras Tochter” beginne nicht erst dort, wo „Dr. Shiwago” ende. Vielmehr seien die Erzählstränge in der Weise ineinander verwoben, daß die beiden Handlungen noch eine Reihe von Jahren nebeneinander herliefen. Dabei enthalte das erste Buch von „Laras Tochter”, das sich zeitlich mit dem letzten Teil von „Dr. Shiwago” überschneide, besonders viele Bezüge. Diese träten im zweiten Buch, das im wesentlichen in Paris spiele und in erster Linie das Schicksal von Tonja und ihrer beiden Kinder erzähle, und vor allem im dritten Buch zurück, dessen Schauplatz Spanien zur Zeit des Bürgerkriegs sei.
Mollin beginne etwa im Jahr 1921 mit der Szene, in der Lara, ihre Tochter Katja und Komarowski das Gut Warykino im Schlitten verließen, und damit dem Zeitpunkt der endgültigen Trennung von Shiwago und Lara. Der Roman „Dr. Shiwago” erzähle die Geschichte Shiwagos in seinem fünfzehnten Teil noch zu Ende und schließe – abgesehen von seinem Epilog – mit dem Tod Shiwagos und seiner Beerdigung im Jahr 1929. Die zeitliche Überschneidung mit dem älteren Werk erlaube es Mollin, Ereignisse, die dem Leser aus diesem bekannt seien, aus einer anderen Perspektive zu schildern. So werde die besonders dramatische Schlittenszene nun statt aus der Sicht Shiwagos, der in Warykino zurückbleibe, aus der Sicht Laras geschildert. Dabei stimmten auch Einzelheiten der Szene und des Erzählstils, wie der Übergang zur Ich-Form, überein. Auch die Szene, in der Lara im Jahr 1929 Shiwago ein letztes Mal – nunmehr aber auf der Totenbahre – sehe, werde von Mollin aus Laras Sicht dargestellt. Ein Beispiel für einen solchen Perspektivenwechsel biete auch die Geschichte Tonjas: Während in „Dr. Shiwago” ausführlich aus dem – bereits erwähnten – Brief Tonjas an Shiwago zitiert und geschildert werde, in welcher Situation Shiwago diesen Brief erhalten habe, werde in „Laras Tochter” dieselbe Begebenheit aus der Sicht Tonjas dargestellt.
An anderen Stellen bediene sich Mollin einfacher Rückblenden, um an die in „Dr. Shiwago” erzählte Geschichte anzuknüpfen, so durch Wiedergabe von Katjas Erinnerungen an Shiwago, der Schilderung eines Zusammentreffens von Tonja mit Lara oder durch Hinweise auf Laras Verhältnis mit Komarowski. Anspielungen an die Originalgeschichte (z.B. als Erinnerung Katjas an „das Haus mit den Figuren” in Jurjatin) seien in „Laras Tochter” über das ganze Buch verstreut.
Wie auch die Beklagte nicht in Abrede stelle, sei der in dieser Weise kunstvoll in „Laras Tochter” integrierte Erzählstoff aus „Dr. Shiwago” urheberrechtlich schutzfähig. Die Geschichte des Romans „Dr. Shiwago”, der nach seinem Erscheinen in den fünfziger Jahren einen überwältigenden Erfolg gehabt habe und als großes Werk der Weltliteratur gefeiert worden sei, ziehe auch heute noch den Leser in ihren Bann. Nach Ansicht des Berufungsgerichts hat Mollin mit „Laras Tochter” keinen ausreichenden inneren Abstand zu dem älteren Werk gehalten.
Das Vorbringen der Beklagten dazu, daß „Laras Tochter” in Distanz zu „Dr. Shiwago” geschrieben sei, könne nicht überzeugen. Es sei nicht zutreffend, daß das jüngere Werk den Erzählstoff ganz aus der Perspektive von Frauen, sozusagen aus feministischer Sicht, betrachte. Es seien zwar Teile dieses Romans vor allem aus der Sicht Laras, Tonjas und Katjas geschrieben, wichtige Teile aber auch aus der Sicht von Sascha, des Sohnes von Shiwago und Tonja. Die Erzählperspektive aus der Sicht der Frauen leite sich zudem allein daraus ab, daß am Ende von „Dr. Shiwago” im wesentlichen nur noch weibliche Hauptpersonen überlebt hätten. Die Sicht von Komarowski als der einzigen Ausnahme komme als Erzählperspektive nicht in Betracht, weil sich der Leser mit diesem nicht identifizieren könne. Die Ansicht der Beklagten, Mollin habe wichtige Romanfiguren wie etwa Komarowski ganz anders als Pasternak dargestellt, sei mit dem Inhalt von „Laras Tochter” nicht zu belegen.
b) Entgegen der Ansicht der Revision hat das Berufungsgericht auf der Grundlage dieser Feststellungen rechtsfehlerfrei angenommen, daß „Laras Tochter” eine unfreie Bearbeitung von „Dr. Shiwago” ist.
(1) Aus den getroffenen Feststellungen ergibt sich, daß Mollin für seinen Roman „Laras Tochter” in weitem Umfang eigenschöpferisch gestalteten Romanstoff aus „Dr. Shiwago” übernommen hat, auch wenn an keiner Stelle aus dem älteren Werk Teile in das jüngere einfach übertragen worden sind. Das jüngere Werk übernimmt als erzählerische Ausgangslage wesentliche Züge der in „Dr. Shiwago” geschaffenen Romanwelt mit ihren handelnden Personen, dem Geflecht ihrer Beziehungen untereinander, ihrem Schicksal und ihrer gesamten sonstigen Lebenssituation bis hin zu Schauplätzen, an denen sich in „Dr. Shiwago” entscheidendes Geschehen abspielt. Dabei wird die dichterische Welt aus diesem Roman im Ausgangspunkt nicht nur als Folie verwendet, vor der eine von Beginn an vollständig neue Handlung in Szene gesetzt wird. „Laras Tochter” ist vielmehr in den Handlungssträngen so geschickt mit „Dr. Shiwago” verknüpft, daß der Leser vom Autor in den Anfangskapiteln weiter in der Romanwelt dieses Werkes geführt werden kann. Dazu dient der Kunstgriff, daß „Laras Tochter” mit der besonders bewegenden Schlittenszene aus „Dr. Shiwago” einsetzt, in der auch noch der im Gutshaus Warykino zurückbleibende Shiwago, die Hauptgestalt des älteren Romans, von weitem auf der Vortreppe des Gutshauses zu sehen ist. Diese Szene, die bereits in „Dr. Shiwago” eine Schlüsselszene im Handlungsablauf ist, weil sich danach die Lebensrichtung der Hauptgestalten Shiwago und Lara entscheidend verändert, dient „Laras Tochter” ebenfalls unter Übernahme einer Vielzahl von Einzelheiten und Umständen, die diese Szene prägen, als Schlüssel, um den Leser erneut in den Erlebnisraum von „Dr. Shiwago” einzuführen. Dabei und auch in den folgenden Kapiteln ist das jüngere Werk fast durchweg bemüht, beim Leser den Eindruck zu erwecken, die weitere Entwicklung der Geschichte des „Dr. Shiwago”, wenn auch nunmehr aus anderer Perspektive, mitzuerleben. Dementsprechend sind – wie das von der Beklagten vorgelegte Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. A. zutreffend ausführt – die von „Dr. Shiwago” vorgegebenen Ausgangsbedingungen in der Regel geradezu akribisch beachtet; es wird – wie der Sachverständige dies ausdrückt – nicht versucht, das bei Pasternak Erzählte auf gleicher Ebene zu dementieren. Eine seltene und verhältnismäßig wenig bedeutsame Abwandlung liegt in der abweichenden Darstellung des Schicksals Tanjas. Insofern spricht das Berufungsurteil zutreffend davon, daß „Laras Tochter” das Werk „Dr. Shiwago” linear – in der von dem älteren Werk angelegten Spur – fortschreibe. Auch in den späteren Kapiteln bleibt die Romanwelt des „Dr. Shiwago” in verschiedenster Weise gegenwärtig. Dies geschieht zum einen dadurch, daß Handlungsstränge fortgeführt werden, die in „Dr. Shiwago” angelegt sind, wie insbesondere die Reise von Lara, Komarowski und Katja in den fernen Osten Rußlands, die Emigration der Familie Shiwago nach Paris oder die Anknüpfung an die Umstände des Todes von Shiwago einige Jahre später in Moskau. Zum anderen wird die Erinnerung an die Welt des „Dr. Shiwago” beim Leser durch Rückblenden, Gedanken und Gespräche handelnder Personen oder durch sonstige Bezugnahmen wachgehalten.
(2) Der von Mollin aus „Dr. Shiwago” übernommene Romanstoff ist – wie das Berufungsgericht zu Recht angenommen hat – seiner Art nach urheberrechtlich gegen Entlehnungen geschützt. Bei einem Roman als Werk der Literatur im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 UrhG ist nicht nur die konkrete Textfassung oder die unmittelbare Formgebung eines Gedankens urheberrechtlich schutzfähig. Auch eigenpersönlich geprägte Bestandteile und formbildende Elemente des Werkes, die im Gang der Handlung, in der Charakteristik und Rollenverteilung der handelnden Personen, der Ausgestaltung von Szenen und in der „Szenerie” des Romans liegen, genießen Urheberrechtsschutz (vgl. – jeweils zu Bühnenwerken – BGH, Urt. v. 30.1.1959 - I ZR 82/57, GRUR 1959, 379, 381 - Gasparone; KG GRUR 1926, 441, 442 f. - Alt-Heidelberg/Jung-Heidelberg; OGH ÖBl. 1983, 173, 174 f. - Die rote Brieftasche; zum Urheberrechtsschutz von Figuren, Handlungsabläufen usw. bei einer Comic-Serie vgl. BGH, Urt. v. 11.3.1993 - I ZR 264/91, GRUR 1994, 191 ff. - Asterix-Persiflagen; vgl. weiter – insbesondere auch zum Schutz der Fabel literarischer Werke – OLG Karlsruhe GRUR 1957, 395, 396 - Trotzkopf; OLG Hamburg Schulze OLGZ 190 S. 9 - Häschenschule; Schricker/Loewenheim aaO § 2 Rdn. 50 ff., § 24 Rdn. 17; Fromm/Nordemann/Vinck, Urheberrecht, 9. Aufl., § 2 Rdn. 24; Ulmer, Urheber- und Verlagsrecht, 3. Aufl., S. 121; Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht, Rdn. 160; Wanscher, Probleme der Fortsetzung eines urheberrechtlich geschützten Werkes, 1976, S. 94 ff.). Die hier aus „Dr. Shiwago” übernommenen Elemente sind – entgegen der Ansicht der Revision – auch in dem Umfang der Übernahmen für sich urheberrechtlich schutzfähig; unerheblich ist, daß die Erlebniswelt aus „Dr. Shiwago” nicht vollständig und vor allem nicht mit ihrer Vielschichtigkeit und atmosphärischen Dichte in das jüngere Werk übertragen ist.
(3) Wie das Berufungsgericht weiter rechtsfehlerfrei entschieden hat, sind die aus „Dr. Shiwago” entlehnten Elemente in „Laras Tochter” nur unfrei benutzt (§ 23 UrhG).
Bei der Frage, ob in freier Benutzung eines geschützten älteren Werkes ein selbständiges neues Werk geschaffen worden ist, kommt es entscheidend auf den Abstand an, den das neue Werk zu den entlehnten eigenpersönlichen Zügen des benutzten Werkes hält. Dabei ist kein zu milder Maßstab anzulegen. Eine freie Benutzung setzt daher voraus, daß angesichts der Eigenart des neuen Werkes die entlehnten eigenpersönlichen Züge des geschützten älteren Werkes verblassen (vgl. BGH GRUR 1959, 379, 381 - Gasparone; Urt. v. 26.3.1971 - I ZR 77/69, GRUR 1971, 588, 589 - Disney-Parodie; BGHZ 122, 53, 60 - Alcolix, jeweils m.w.N.). In der Regel geschieht dies dadurch, daß die dem geschützten älteren Werk entlehnten eigenpersönlichen Züge in dem neuen Werk in der Weise zurücktreten, daß das neue Werk nicht mehr in relevantem Umfang das ältere benutzt, so daß dieses nur noch als Anregung zu neuem, selbständigem Werkschaffen erscheint.
aa) Aus den Feststellungen des Berufungsgerichts ergibt sich, daß der aus „Dr. Shiwago” für „Laras Tochter” entlehnte Romanstoff nicht in diesem wörtlichen Sinn verblaßt und zurücktritt. In dem Roman „Laras Tochter” ist vielmehr große Sorgfalt darauf verwendet, die Fortschreibung der Romanwelt aus „Dr. Shiwago” möglichst nahtlos mit dem älteren Werk zu verzahnen und – zumindest über weite Strecken des jüngeren Werkes – die Erlebniswelt des älteren Werkes dem Leser als die Welt gegenwärtig zu halten, der maßgebliche Gestalten aus „Laras Tochter” entstammen und die in ihnen und in ihrem weiteren Schicksal fortwirkt.
bb) Das Berufungsgericht hat dies gesehen und deshalb auch geprüft, ob bei „Laras Tochter” nach den Umständen des vorliegenden Falles aus anderen Gründen eine freie Benutzung anzunehmen ist.
Der für eine freie Benutzung erforderliche Abstand zu den entlehnten eigenpersönlichen Zügen des benutzten Werkes kann – selbst bei deutlichen Übernahmen – auch dadurch gegeben sein, daß das neue Werk zu den entlehnten eigenpersönlichen Zügen des älteren Werkes einen so großen inneren Abstand hält, daß das neue Werk seinem Wesen nach als selbständig anzusehen ist. Auch in einem solchen Fall „verblassen” in einem weiteren Sinn die entlehnten eigenpersönlichen Züge des älteren Werkes in dem neuen; sie werden von dessen eigenschöpferischem Gehalt „überlagert” (vgl. BGHZ 122, 53, 60 f. - Alcolix; vgl. auch Chakraborty, Das Rechtsinstitut der freien Benutzung im Urheberrecht, 1997, S. 72 ff.). Die sicher häufigste Fallgestaltung dieser Art ist die eigenschöpferische Parodie. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß aus einem Werk auch in anderer Weise eigenpersönliche Elemente zu dem Zweck entlehnt werden, sich mit diesem Werk und dessen Thematik schöpferisch auseinanderzusetzen. Gerade in einem solchen Fall ist aber eine strenge Beurteilung angebracht, ob das neue Werk durch eigenschöpferische Leistung in dem Maß einen inneren Abstand zu den entlehnten eigenpersönlichen Zügen gewonnen hat, daß von einem selbständigen Werk gesprochen werden kann (vgl. BGHZ 122, 53, 61 - Alcolix). So wird allenfalls unter ganz besonderen Umständen eine freie Benutzung anzunehmen sein, wenn die in einem Roman erzählte Geschichte unter Übernahme wesentlicher, charakteristischer Gestalten daraus fortgeschrieben wird (vgl. dazu auch Möhring/Nicolini, UrhG, § 24 Anm. 2 j cc; Schricker/Loewenheim aaO § 24 Rdn. 21; Fromm/Nordemann/Vinck, Urheberrecht, 9. Aufl., § 24 Rdn. 6; Ulmer, Urheber- und Verlagsrecht, 3. Aufl., S. 121, 276 f.; Schack aaO Rdn. 245; Rehbinder, Urheberrecht, 9. Aufl., S. 169; Wanscher aaO S. 108 ff.; Ruijsenaars, Character Merchandising, 1997, S. 208 f.).
Nach der rechtsfehlerfreien Beurteilung des Berufungsgerichts erfüllt „Laras Tochter” diese strengen Anforderungen an eine freie Benutzung nicht. Über bloße Bezugnahmen auf Gestalten und Geschehnisse in „Dr. Shiwago”, die urheberrechtlich unbedenklich wären (vgl. BGHZ 26, 52, 57 - Sherlock Holmes; 122, 53, 59 - Alcolix; BGH GRUR 1971, 588, 589 - Disney-Parodie; GRUR 1994, 191, 194 - Asterix-Persiflagen), gehen die Übernahmen aus „Dr. Shiwago” weit hinaus, ohne in „Laras Tochter” als einem selbständigen Werk mit entsprechendem inneren Abstand zur Vorlage aufzugehen.
Entgegen der Ansicht der Revision wird „Laras Tochter” nicht dadurch zu einem selbständigen Werk, daß es sich nach seinen Anfängen, die weitgehend von den Übernahmen aus „Dr. Shiwago” leben, insbesondere der Übernahme von Teilen der Fabel (mit den Personen, Ereignissen, Handlungen und Schicksalen) und der Disposition (im Sinne der Ausgangssituation und des Hintergrunds), immer mehr von dem älteren Werk löst, neue Begebenheiten erzählt und dabei die Erzählhandlung auf das Schicksal und die Perspektive anderer, wenn auch aus „Dr. Shiwago” teilweise bekannter Personen verlagert. Die Übernahmen sind besonders deutlich in den Teilen von „Laras Tochter”, in denen aus „Dr. Shiwago” bekannte Geschehnisse erneut, nun aber aus der Sicht anderer Beteiligter geschildert werden, wie die erwähnte Schlittenszene in Warykino oder die Umstände im Zusammenhang mit dem Tod von Shiwago in Moskau. Diese Übernahmen werden nicht dadurch aufgehoben, daß sich der jüngere Roman im weiteren Verlauf immer mehr aus der Abhängigkeit vom älteren löst, etwa indem er Personen der nächsten Generation wie Katja und Sascha, die Kinder von Lara und Shiwago, in den Vordergrund treten läßt, oder indem er tragende Personen aus „Dr. Shiwago” wie Tonja im Fortgang der Erzählhandlung näher und auch etwas anders beleuchtet, als dies in „Dr. Shiwago” geschehen ist.
Weder durch dieses Fortspinnen von Handlungsfäden aus „Dr. Shiwago” noch durch den Wechsel der Erzählperspektive, aus der heraus Begebenheiten aus „Dr. Shiwago” erneut dargestellt werden, gewinnt „Laras Tochter” in diesen Teilen zu seiner Vorlage in dem Maß einen inneren Abstand, wie dies für ein selbständiges Werk erforderlich wäre. Es wird auch insoweit nur Romanstoff aus „Dr. Shiwago” verwendet, um damit selbst zu erzählen. Darin liegt lediglich eine benutzende Arbeit mit dem Stoff der Vorlage, die zwar eine ebenfalls urheberrechtlich schutzfähige Bearbeitung (§ 3 UrhG) mit – vor allem im weiteren Verlauf – eigener Erzählung, neuen Themen und eigener Atmosphäre hervorgebracht hat, nicht aber eine künstlerisch eigenständige Verarbeitung und Anverwandlung des Übernommenen, wie sie für die Entstehung eines selbständigen Werkes, das in freier Benutzung des Werkes eines anderen geschaffen worden ist, notwendig ist.
Aus den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Berufungsgerichts ergibt sich weiter, daß „Laras Tochter” auch nicht in der Weise ein urheberrechtlich schutzfähiges Werk ist, daß es durch inhaltliche Auseinandersetzung mit dem älteren Werk von diesem einen ausreichenden inneren Abstand gewonnen hat. Es trifft allerdings zu, daß in „Laras Tochter” etwa die Sichtweise von Frauen stärker in den Vordergrund gerückt wird und das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern in anderer Weise behandelt wird. Auch wenn darin eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Aussage von „Dr. Shiwago” gesehen werden könnte und nicht lediglich ein Übergang zu der Erzählhaltung, die dem Autor des neuen Werkes eigen ist, wäre dies allenfalls eine gewisse Interpretation der Vorlage im Rahmen ihrer unselbständigen Benutzung, die das jüngere Werk von dieser nicht ablöst.
Eine abschließende wertende Gesamtschau, in der zu prüfen ist, ob angesichts der Eigenart des neuen Werkes die eigenpersönlichen Züge des Übernommenen so zurücktreten, daß von einem selbständigen neuen Werk gesprochen werden kann (vgl. BGHZ 122, 53, 59 - Alcolix; BGH, Urt. v. 28.5.1998 - I ZR 81/96, GRUR 1998, 916, 918 [zum Abdruck in BGHZ vorgesehen] – Stadtplanwerk, jeweils m.w.N.), bestätigt die Beurteilung des Berufungsgerichts. Das Berufungsgericht hat dabei zutreffend die besondere schöpferische Eigenprägung des hier benutzten Werkes berücksichtigt (vgl. BGH, Urt. v. 24.1.1991 - I ZR 72/89, GRUR 1991, 533, 534 - Brown Girl II; Schricker/Loewenheim aaO § 24 Rdn. 10, jeweils m.w.N.) und ebenso zu Recht als bedeutungslos angesehen, wieviel dem Übernommenen an Neuem, insbesondere durch die Fortentwicklung der Handlung, angefügt worden ist (vgl. BGH, Urt. v. 21.11.1980 - I ZR 106/78, GRUR 1981, 352, 353 - Staatsexamensarbeit, m.w.N.).
Die Erwägungen, die das Berufungsgericht bei seinem Vergleich der einander gegenüberstehenden Werke angestellt hat, tragen bereits seine Entscheidung. Es ist deshalb im Ergebnis unschädlich, daß das Berufungsgericht daneben zu Unrecht mehr als nur zur Bestätigung der urheberrechtlichen Beurteilung auf die Art und Weise der Werbung für „Laras Tochter”, Äußerungen des Autors dieses Werkes und auf den nach „Dr. Shiwago” geschaffenen Film Bezug genommen hat.
4. Das Berufungsgericht hat – entgegen der Ansicht der Revision – zu Recht ohne Beschränkung auf die urheberrechtsverletzenden Teile ausgesprochen, daß die Beklagte die Vervielfältigung und Verbreitung des Romans „Laras Tochter” zu unterlassen hat. Das Berufungsgericht hat damit rechtsfehlerfrei und allein sachgerecht auf die konkrete Verletzungshandlung, in der die Beklagte die Urheberrechtsverletzung begangen hat, abgestellt. Sollte die Beklagte ein Interesse daran haben, den nicht urheberrechtsverletzenden Teil von „Laras Tochter” zu nutzen, ist sie daran jedenfalls durch die Unterlassungsverurteilung nicht gehindert.
II. Das Berufungsgericht hat den Schadensersatzanspruch wegen Urheberrechtsverletzung zu Recht zugesprochen (Urteilsausspruch I 4). Die Klägerin, die lediglich aus eigenem Recht geklagt hat, ist als Inhaberin ausschließlicher Nutzungsrechte zur Geltendmachung dieses Anspruchs – ebenso wie zur Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs (vgl. oben unter I. 2. b) – befugt, obwohl sie einem anderen Verlag ein ausschließliches (Unter-)Verlagsrecht eingeräumt hat. Dabei beschränkt sich allerdings ihr Schadensersatzanspruch der Höhe nach auf den Schaden, der gerade ihr selbst – trotz der Einräumung einer Unterlizenz – durch die Vervielfältigung und Verbreitung des Romans „Laras Tochter” als einer unfreien Bearbeitung entstanden ist (vgl. dazu BGH, Urt. v. 10.7.1986 - I ZR 102/84, GRUR 1987, 37, 39 f. - Videolizenzvertrag; Stumpf/Groß, Der Lizenzvertrag, 8. Aufl., Rdn. 398, 400, 406).
Aus den Umständen ergibt sich, daß die Beklagte zumindest fahrlässig gehandelt hat. Auch wenn sie die Rechtslage als zweifelhaft angesehen haben sollte, durfte sie ihr Vorgehen nicht einfach auf die ihr günstigere Ansicht stützen. Fahrlässig handelt vielmehr schon derjenige, der sich erkennbar in einem Grenzbereich des rechtlich Zulässigen bewegt, in dem er eine von der eigenen Einschätzung abweichende Beurteilung der rechtlichen Zulässigkeit seines Verhaltens in Betracht ziehen muß (vgl. BGH, Urt. v. 18.12.1997 - I ZR 79/95, GRUR 1998, 568, 569 - Beatles-Doppel-CD; Urt. v. 28.1.1999 - I ZR 178/96, WRP 1999, 523, 525 f. - Altberliner, jeweils m.w.N.). Die Beklagte mußte hier schon deshalb damit rechnen, daß die Gerichte dem Roman „Dr. Shiwago” Urheberrechtsschutz in Deutschland zubilligen würden, weil die insoweit maßgeblichen Rechtsfragen in der Literatur – teilweise gerade auch mit Bezug auf dieses Werk – bereits in diesem Sinne beantwortet worden waren (vgl. nur Ulmer, GRUR Int. 1964, 613, 617; Schiefler, UFITA 48 (1966) S. 81, 99). Im Hinblick auf die schon vorliegende Rechtsprechung und Literatur konnte die Beklagte ebensowenig davon ausgehen, daß ein Fortsetzungsroman wie „Laras Tochter” als urheberrechtlich selbständiges Werk eingestuft werden würde.
III. Das Berufungsgericht hat auch den Anspruch auf Rechnungslegung als Hilfsanspruch zur Durchsetzung des Schadensersatzanspruchs auf der Grundlage des § 97 Abs. 1 Satz 2 UrhG, § 242 BGB zu Recht zuerkannt (Urteilsausspruch I 3 Buchst. a).
IV. Der Vernichtungsanspruch (vgl. Urteilsausspruch I 3 Buchst. b) ist, soweit er nicht übereinstimmend für erledigt erklärt worden ist, nach § 98 Abs. 1 UrhG begründet. Die Klägerin kann den Vernichtungsanspruch geltend machen, weil sie umfassende ausschließliche Nutzungsrechte an dem Roman „Dr. Shiwago” erworben hat und auch nach der Weiterübertragung eines ausschließlichen (Unter-)Verlagsrechts an einen anderen Verlag wegen ihrer wirtschaftlichen Beteiligung an den Verkaufserlösen des Unterlizenznehmers ein berechtigtes Interesse an der Abwehr von Urheberrechtsverletzungen hat (vgl. BGHZ 128, 220, 223, 225 - Kleiderbügel [zu § 140 a PatG, § 24 a GebrMG]; Diekmann, Der Vernichtungsanspruch, 1993, S. 106; Retzer, Festschrift für Piper, 1996, S. 421, 427). Der Vernichtungsanspruch bezieht sich – wie die aus dem Vervielfältigungsrecht folgenden Ansprüche (vgl. BGH, Urt. v. 10.12.1987 - I ZR 198/85, GRUR 1988, 533, 535 - Vorentwurf II; Urt. v. 28.2.1991 - I ZR 88/89, GRUR 1991, 529, 530 - Explosionszeichnungen; Schricker/Loewenheim aaO § 16 Rdn. 8) – auch auf die Vervielfältigungsstücke unfreier Bearbeitungen (vgl. Schricker/Loewenheim aaO §§ 98, 99 Rdn. 4; Diekmann aaO S. 163 f.).
V. Die Revision der Beklagten war danach zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91a Abs. 1, § 92 Abs. 2, § 97 Abs. 1 ZPO. Ob die übereinstimmend für erledigt erklärten Ansprüche auf Rückruf von Vervielfältigungsstücken und auf Urteilsveröffentlichung im Zeitpunkt der Erledigungserklärung (noch) begründet waren, kann nach dem zugrunde zu legenden Sach- und Streitstand nicht entschieden werden. Derartige Ansprüche, die ihrem Wesen nach Beseitigungsansprüche sind, setzen u.a. voraus, daß noch zur Zeit der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung ein fortdauernder Störungszustand gegeben war. Dazu sind jedoch keine Feststellungen getroffen worden. Insoweit wären deshalb die Kosten unter den Parteien nach billigem Ermessen zu teilen. Gemessen an dem Wert der anderen Klageansprüche, mit denen die Klägerin durchgedrungen ist, wäre der danach auf die Klägerin entfallende Kostenanteil jedoch verhältnismäßig so geringfügig, daß die Vorschrift des § 92 Abs. 2 ZPO anzuwenden war.
Unterschriften
Erdmann, Mees, v. Ungern-Sternberg, Starck, Pokrant
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 29.04.1999 durch Walz Justizamtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 538592 |
BGHZ |
BGHZ, 267 |
BB 1999, 1997 |
NJW 2000, 2202 |
BGHR |
EWiR 1999, 967 |
GRUR 1999, 984 |
Nachschlagewerk BGH |
AfP 1999, 277 |
MDR 1999, 1454 |
WRP 1999, 869 |
ZUM 1999, 644 |
K&R 2000, 355 |
MMR 1999, 624 |
GRUR-Int. 1999, 884 |