Verfahrensgang
LG Neuruppin (Urteil vom 17.09.2014) |
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 17. September 2014 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist.
Auf die Revision des Angeklagten wird das genannte Urteil mit den Feststellungen aufgehoben, soweit gegen ihn die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.
Tatbestand
I.
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen fahrlässigen Vollrausches zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je fünf Euro verurteilt, seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und ihn im Übrigen freigesprochen. Mit seiner gegen die Verurteilung gerichteten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts. Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihrer Revision gegen den Freispruch; sie beanstandet die Beweiswürdigung. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Die Revision des Angeklagten hat lediglich hinsichtlich der Anordnung der Maßregel Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet.
Rz. 2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts konsumierten der Angeklagte und sein Bekannter K., die beide Alkoholiker sind, am 31. Oktober 2013 in der Wohnung des Angeklagten erhebliche Mengen Bier und Schnaps. Sie schliefen am Abend ein. Am nächsten Morgen tranken sie ihre Alkoholvorräte leer. Es kam zum Streit, wer von beiden weiteren Alkohol beschaffen und bezahlen sollte. Der Angeklagte, der so schwer alkoholisiert war, dass seine Steuerungsfähigkeit aufgehoben war, ergriff ein auf dem Wohnzimmertisch liegendes Brotmesser und versetzte K. damit einen Hieb auf die Stirn, der eine mehrere Zentimeter lange, blutende Schnittverletzung verursachte.
Rz. 3
Das Schwurgericht hat aufgrund der exzessiven Trinkgewohnheiten des (geständigen) Angeklagten nicht ausschließen können, dass er durch die „morgendliche Auffrischung seines Alkoholspiegels” in einen Vollrausch geraten war. Es liege zwar nicht nahe, dass er sich bewusst und gewollt in den Zustand der Schuldunfähigkeit getrunken habe. Jedoch sei er im Laufe des nächtlichen Schlafs soweit ernüchtert gewesen, dass er habe beurteilen können, bei Wiederaufnahme des Trinkens in einen Vollrausch geraten zu können.
Rz. 4
2. Dem Angeklagten lag darüber hinaus zur Last, seinen Bekannten S. in den Abend- oder Nachtstunden des 13. Februar 2014 in dessen Wohnung getötet zu haben. Nach den Urteilsfeststellungen tranken der Angeklagte und S. oftmals gemeinsam erhebliche Mengen Alkohol, so auch an diesem Abend. Der Angeklagte schlief anschließend auf der Couch ein. Als er aufwachte, stellte er fest, dass S. vor dem laufenden Fernseher in einem Sessel saß und sich nicht bewegte. Der Angeklagte versuchte, S. zu wecken; er bemerkte hierbei, dass dieser „vollkommen kalt war”. Seitlich unterhalb des Sessels war eine große Blutlache sichtbar. Der Angeklagte verließ nun die Wohnung und begab sich nach Hause. Am nächsten Tag offenbarte er einem Bekannten, dass S. tot sei; dieser verständigte die Polizei.
Rz. 5
Der Leichnam wies eine etwa 7 cm tiefe Stichverletzung unterhalb der rechten Leistengegend auf. Hierbei waren – todesursächlich – die rechte Oberschenkelarterie und -vene durchtrennt worden. Weitere nicht todesursächliche Stich- bzw. Schnittverletzungen befanden sich im Bereich des Brustkorbes sowie am rechten Oberarm. Das Leichenblut wies eine Blutalkoholkonzentration von 3,03 ‰ auf.
Rz. 6
Das Landgericht hat sich nicht von der Täterschaft des Angeklagten überzeugen können. Es sei angesichts des Vorfalls vom 1. November 2013 zwar naheliegend, dass der die Tat bestreitende Angeklagte auch mit S. in Streit geraten sei und ihn dabei mit einem Messer angegriffen habe. Nachzuweisen sei dies aber nicht. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass S. sich die Verletzungen in depressiver Stimmung selbst beigebracht oder dass er – wie vom Angeklagten eingewendet – eine weitere Person in seine Wohnung eingelassen habe, die ihn getötet habe.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 7
1. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg, denn die Beweiswürdigung des Landgerichts (§ 261 StPO) hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.
Rz. 8
a) Das Revisionsgericht muss es zwar grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts; die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit übertriebene Anforderungen gestellt worden sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 6. November 1998 – 2 StR 636/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 16). Insbesondere ist es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (vgl. BGH, Urteile vom 18. September 2008 – 5 StR 224/08, NStZ 2009, 401, 402; vom 7. Juni 2011 – 5 StR 26/11).
Rz. 9
b) Solche Rechtsfehler liegen hier vor. Die Beweiswürdigung der Schwurgerichtskammer enthält Lücken. Des Weiteren hat sie die Anforderungen an die tatgerichtliche Überzeugungsbildung überspannt und sich dadurch den Blick für eine Gesamtwürdigung der für und gegen die Täterschaft des Angeklagten sprechenden Tatumstände verstellt.
Rz. 10
aa) Zu Recht weist der Generalbundesanwalt hinsichtlich der vom Landgericht in Betracht gezogenen Möglichkeit eines Suizids darauf hin, dass ein grundlegender Erörterungsmangel vorliegt. Zwar geht die Schwurgerichtskammer in Übereinstimmung mit dem rechtsmedizinischen Sachverständigen davon aus, dass die vorgefundenen Verletzungen keine typischen Suizidmerkmale aufwiesen, zumal es an „Probeschnitten” fehle. Es seien jedoch nicht die „normalen” und typischen Verhältnisse einer Selbsttötung der Beurteilung zugrunde zu legen, weil es sich bei S. um einen (depressiven) Alkoholiker handelte, der zum Zeitpunkt des Todes stark betrunken gewesen sei. Deshalb halte sie „es in dem genau so hohen Grad für möglich, dass S. sich durch einen Stich in die Beinschlagader das Leben nahm, wie sie es für unwahrscheinlich halte, dass der Angeklagte dem S. in Tötungsabsicht ausgerechnet ins Bein stach” (UA S. 15).
Rz. 11
Ungeachtet dessen, dass eine fehlende Tötungsabsicht des Angeklagten nicht die Täterschaft insgesamt in Frage stellen könnte, verhält sich das Urteil nicht dazu, inwieweit S. sich die weiteren, im Einzelnen nicht näher beschriebenen Verletzungen im Bereich des Brustkorbes und am rechten Oberarm zugefügt haben kann und soll. In diesem Zusammenhang wäre vor allem dessen (verbliebene) Handlungsfähigkeit zur Selbstbeibringung aller Verletzungen zu erörtern gewesen. Des Weiteren geht das Landgericht nicht auf den der Selbsttötungsthese widerstreitenden Umstand ein, dass in der – wenn auch von Angehörigen des S. gesäuberten – Wohnung kein Messer mit Blutanhaftungen vorgefunden worden ist.
Rz. 12
bb) Es gibt keinen hinreichenden Anhaltspunkt dafür, dass eine weitere unbekannte Person dem Opfer die tödlichen Verletzungen beigebracht haben könnte. Das Landgericht selbst hält es für „nicht besonders naheliegend”, dass S. eine dritte Person in seine Wohnung eingelassen hat, die ihn dann getötet habe, ohne dass der Angeklagte hiervon geweckt worden wäre. Die – von der Schwurgerichtskammer in Zweifel gezogene – Einlassung des Angeklagten, er habe „dunkel in Erinnerung, dass es geklingelt habe”, und der Umstand, dass sich Personen aus dem Trinkermilieu „nicht selten” in der Tatwohnung getroffen haben, vermögen Anhaltspunkte für eine Alternativtäterthese über die bloß theoretische Ebene hinaus nicht zu begründen.
Rz. 13
2. Die Revision des Angeklagten ist unbegründet, soweit sie den Schuld- und den Strafausspruch angreift. Das Landgericht hat ohne Rechtsfehler die Voraussetzungen eines fahrlässigen Vollrausches (§ 323a Abs. 1 StGB), insbesondere den von der Revision vermissten Zeitpunkt des vorwerfbaren Sichberauschens festgestellt (UA S. 9). Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) hat hingegen keinen Bestand.
Rz. 14
a) Die Voraussetzungen für die gemäß § 64 Satz 2 StGB erforderliche hinreichend konkrete Aussicht eines Behandlungserfolges sind vom Landgericht nicht dargetan. Es verweist lediglich auf die Beurteilung des forensisch-psychiatrischen Sachverständigen, dass der Angeklagte zurzeit zwar nicht motiviert sei, an einer solchen Behandlung teilzunehmen, was einer Heilbehandlung aber nicht entgegenstehe, weil dieser motivierungsfähig sei. Dieser Einschätzung hat sich das Landgericht ohne Begründung angeschlossen.
Rz. 15
b) Das Landgericht hat damit rechtsfehlerhaft eine eigene und ausreichende Würdigung hinsichtlich einer konkreten Aussicht eines Behandlungserfolgs nicht vorgenommen. Vor dem Hintergrund des fortgeschrittenen Alters des Angeklagten, seiner langjährigen Alkoholabhängigkeit und körperlichen Verwahrlosung sowie zahlreicher im Ergebnis erfolgloser stationärer Entgiftungsbehandlungen hätte es mit Blick auf dessen geäußerte Therapieunwilligkeit einer eingehenderen Darlegung in den Urteilsgründen bedurft, auf welche Umstände das Landgericht die hinreichend konkrete Erfolgsaussicht stützt. Soweit es sich zudem nicht zur prognostizierten Therapiedauer verhält, kann schließlich auch nicht beurteilt werden, ob insoweit überhaupt eine tragfähige Basis für eine konkrete Therapieerfolgsaussicht besteht (vgl. BGH, Urteil vom 10. April 2014 – 5 StR 37/14, NStZ 2014, 315 mwN).
Unterschriften
Sander, Dölp, König, Berger, Bellay
Fundstellen