Leitsatz (amtlich)
Der Deckungsanspruch gegen seinen Rechtsschutzversicherer schließt die Annahme eines (Kosten-)Schadens des Mandanten infolge einer Beratungspflichtverletzung des Rechtsanwalts auch dann nicht aus, wenn der Mandant nur einen Auftrag unter der Bedingung einer Deckungszusage erteilt.
Normenkette
BGB §§ 280, 675 Abs. 1; VVG § 86 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
OLG Dresden (Entscheidung vom 04.11.2021; Aktenzeichen 10 U 1231/20) |
LG Dresden (Entscheidung vom 20.05.2020; Aktenzeichen 8 O 3028/18) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 4. November 2021 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger nimmt den beklagten Rechtsanwalt aus abgetretenem Recht seines Rechtsschutzversicherers auf Ersatz eines Kostenschadens in Anspruch. Der Schaden soll dadurch entstanden sein, dass der Beklagte einen von vornherein aussichtslosen Rechtsstreit geführt habe.
Rz. 2
Der Beklagte erwirkte in 2009 im Auftrag des Klägers gegen K. A. ein Versäumnisurteil über eine Hauptforderung in Höhe von 30.000 € nebst Zinsen. Im Oktober 2011 beauftragte der Kläger den Beklagten, gegenüber der Bank des A. als Drittschuldnerin vorzugehen und hierfür bei dem Rechtsschutzversicherer des Klägers eine Deckungszusage zu erwirken. Nachdem der Rechtsschutzversicherer die Deckungszusage erteilt hatte, beantragte der Beklagte den Erlass eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses bezüglich angeblicher Ansprüche des A. gegen die Bank "aus allen bestehenden Geschäftsverbindungen, sämtlicher Art und Rechtsnatur", der antragsgemäß erlassen wurde. Nach Zustellung des Beschlusses erklärte die Bank, eine Kontoverbindung zu A. würde nicht mehr bestehen. Der Beklagte erhob Klage gegen die Bank, gerichtet auf Auskunft und Zahlung. Das Landgericht wies die Klage ab. Das Oberlandesgericht erteilte einen Hinweis gemäß § 522 Abs. 2 ZPO, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg habe, da die gepfändete Forderung in dem Pfändungs- und Überweisungsbeschluss nicht hinreichend bestimmt sei. Mit Beschluss vom 10. Dezember 2012 wies das Oberlandesgericht die Berufung zurück.
Rz. 3
Der Kläger verlangt mit seiner Klage Schadensersatz wegen der erfolglosen Prozessführung gegen die Bank. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers, mit der nur noch die Rechtsverfolgungskosten geltend gemacht werden, hat das Berufungsgericht zurückgewiesen.
Rz. 4
Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen zuletzt gestellten Klageantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Rz. 5
Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
Rz. 6
Das Berufungsgericht hat gemeint, der Rechtsschutzversicherer des Klägers habe keine Schadensersatzforderung gegen den Beklagten erlangt, die er an den Kläger hätte abtreten können.
Rz. 7
Der Rechtsschutzversicherer habe nur im Wege des gesetzlichen Forderungsübergangs nach § 86 Abs. 1 VVG einen Schadensersatzanspruch des Klägers gegen den Beklagten wegen Verletzung anwaltlicher Pflichten erlangen können, den er sodann an den Kläger hätte zurückabtreten können. Es könne dahinstehen, ob der Beklagte seine Pflichten aus dem Anwaltsvertrag verletzt habe, da dem Kläger jedenfalls kein Schaden entstanden sei. Erbringe der Versicherungsnehmer vor der Deckungszusage des Rechtsschutzversicherers weder Zahlungen noch erteile er einen unbedingten Auftrag an den Rechtsanwalt, erleide der Versicherungsnehmer zu keinem Zeitpunkt einen Vermögensschaden. Ein Schaden entstehe allenfalls dem Rechtsschutzversicherer, der die Kosten des Rechtsstreits zu tragen habe. Es sei auch kein übergangsfähiger Schaden des Versicherungsnehmers zu fingieren, da der Rechtsschutzversicherer selbst die Erfolgsaussichten einer Klage zu prüfen habe und den Eintritt eines Schadens vermeiden könne.
II.
Rz. 8
Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Rz. 9
Ein unter dem Gesichtspunkt der Rechtsanwaltshaftung in Betracht kommender und für das Revisionsverfahren zu unterstellender Schadensersatzanspruch des Klägers gegen den Beklagten wäre auf den Rechtsschutzversicherer des Klägers übergegangen (§ 86 Abs. 1 VVG). Dieser Anspruch konnte an den Kläger zurückabgetreten werden.
Rz. 10
1. Die Rechtsschutzversicherung ist eine Schadensversicherung, für die § 86 Abs. 1 Satz 1 VVG gilt. Nach dieser Regelung geht ein dem Versicherungsnehmer gegen einen Dritten zustehender Ersatzanspruch auf den Versicherer über, soweit dieser den Schaden ersetzt. Hierbei handelt es sich um einen gesetzlichen Anspruchsübergang im Sinne von § 412 BGB (vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2021 - IX ZR 165/19, NJW 2021, 3324 Rn. 17 mwN). Die Voraussetzungen für den Anspruchsübergang sind erfüllt.
Rz. 11
a) Der streitgegenständliche Schadensersatzanspruch des Klägers gegen den Beklagten ist ein Ersatzanspruch im Sinne des § 86 Abs. 1 Satz 1 VVG.
Rz. 12
aa) Der Annahme eines Ersatzanspruchs gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 VVG steht der versicherungsvertragliche Deckungsanspruch nicht entgegen. Dieser schließt die Annahme eines (Kosten-)Schadens des Versicherungsnehmers nicht aus (vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2021 aaO Rn. 19 mwN). Die Auffassung des Berufungsgerichts, der Kläger habe bezüglich der angefallenen Rechtsverfolgungskosten zu keinem Zeitpunkt einen Vermögensschaden erlitten, der eine Schadensersatzforderung gegen den Beklagten begründen würde, die nach § 86 Abs. 1 VVG auf den Rechtsschutzversicherer habe übergehen können, ist nicht zu teilen.
Rz. 13
bb) Ausgangspunkt einer Schadensberechnung ist die sogenannte Differenzhypothese. Hiernach beurteilt sich die Frage, ob und inwieweit ein nach den §§ 249 ff BGB zu ersetzender Vermögensschaden vorliegt, nach einem Vergleich der infolge des haftungsbegründenden Ereignisses eingetretenen Vermögenslage mit derjenigen, die ohne jenes Ereignis eingetreten wäre. Erforderlich ist ein Gesamtvermögensvergleich, der alle von dem haftungsbegründenden Ereignis betroffenen finanziellen Positionen umfasst (BGH, Urteil vom 29. Juni 2022 - XII ZR 6/21, ZIP 2022, 1647 Rn. 13 mwN). Diese Differenzrechnung muss stets einer normativen Kontrolle unterzogen werden, weil sie eine wertneutrale Rechenoperation darstellt. Dabei ist einerseits das konkrete haftungsbegründende Ereignis als Haftungsgrundlage zu berücksichtigen. Andererseits ist die darauf beruhende Vermögensminderung unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände sowie der Verkehrsauffassung in die Betrachtung einzubeziehen. Erforderlich ist also eine wertende Überprüfung des anhand der Differenzhypothese gewonnenen Ergebnisses gemessen am Schutzzweck der Haftung und an der Ausgleichsfunktion des Schadensersatzes (BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2020 - VII ARZ 1/20, NJW 2021, 53 Rn. 25; vgl. auch BGH, Urteil vom 30. November 1979 - V ZR 214/77, BGHZ 75, 366 Rn. 28; vom 28. Oktober 2014 - VI ZR 15/14, WM 2014, 231 Rn. 17; vom 29. Oktober 2019 - VI ZR 45/19, VersR 2020, 174 Rn. 15; vom 6. Juli 2021 - VI ZR 40/20, BGHZ 230, 224 Rn. 20).
Rz. 14
cc) In der Rechtsschutzversicherung stellt der Anspruch auf Kostenbefreiung die Hauptleistung des Versicherers dar. Die Kosten der Rechtsverfolgung bilden den Schaden, dessen Deckung der Rechtsschutzversicherer übernommen hat (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 2021 - IX ZR 76/20, NJW 2021, 2589 Rn. 10).
Rz. 15
dd) Entschließt sich der Versicherungsnehmer in Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen zu einem gerichtlichen Vorgehen, handelt es sich bei den für das Verfahren anfallenden Kosten um seinen Schaden (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 2021 aaO Rn. 11). Dies gilt auch dann, wenn - wie das Berufungsgericht annimmt - der Mandant nur einen Auftrag unter der Bedingung einer Deckungszusage erteilt.
Rz. 16
b) Der Rechtsschutzversicherer hat die Kosten des Rechtsstreits aufgrund der dem Kläger erteilten Deckungszusage getragen. Dass die Deckungszusage in dem Wissen erteilt worden sei, ein Deckungsanspruch bestehe nicht, ist weder festgestellt noch sonst ersichtlich (vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2021 aaO Rn. 21 mwN).
Rz. 17
2. Die Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs durch den Rechtsschutzversicherer aus übergegangenem Recht verstößt nicht gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB). Die Rechtsverfolgung ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Rechtsschutzversicherer die Deckungsanfrage des Beklagten geprüft und die zur Begründung des Schadensersatzanspruchs des Klägers geltend gemachte Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung selbst hätte erkennen können (vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2021 - IX ZR 165/19, NJW 2021, 3324 Rn. 23 mwN).
III.
Rz. 18
Das Urteil ist aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 ZPO). Eine eigene Sachentscheidung kann der Senat nicht treffen, weil die Sache nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO).
Rz. 19
1. Aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden ist die tatrichterliche Würdigung des Berufungsgerichts, dass der Kläger das Abtretungsangebot des Rechtsschutzversicherers angenommen und dieser auf eine Annahmeerklärung des Klägers verzichtet hat.
Rz. 20
2. Für die Beurteilung der Frage, ob der Beklagte dem Kläger aus übergegangenem und nachfolgend abgetretenem Recht zur Zahlung von Schadensersatz verpflichtet ist, kommt es darauf an, ob es bei einem pflichtgemäßen Handeln des Beklagten im Ausgangsverfahren zur Durchführung des Klage- und Berufungsverfahrens gekommen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2021 aaO Rn. 24 f mwN).
Rz. 21
3. Eine mandatsbezogene Pflicht, einen von Anfang an aussichtslosen Rechtsstreit nicht zu führen, gibt es als solche nicht. Maßgeblich ist, ob der Rechtsanwalt seiner Pflicht zur Beratung des Mandanten über die Erfolgsaussichten des in Aussicht genommenen Rechtsstreits genügt hat. Für den Inhalt dieser Pflicht ist es ohne Bedeutung, ob der Mandant eine Rechtsschutzversicherung unterhält oder nicht. Verletzt der Rechtsanwalt die ihm obliegende Beratungspflicht, kommt es darauf an, wie sich der Mandant im Falle pflichtgemäßer Unterweisung verhalten hätte. Erst hier kann von Bedeutung sein, ob eine Rechtsschutzversicherung besteht (vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2021 aaO Rn. 26).
Rz. 22
a) Soweit der Mandant nicht eindeutig zu erkennen gibt, dass er des Rates nur in einer bestimmten Richtung bedarf, ist der Rechtsanwalt grundsätzlich zur allgemeinen, umfassenden und möglichst erschöpfenden Beratung des Auftraggebers verpflichtet. Unkundige muss er über die Folgen ihrer Erklärungen belehren und vor Irrtümern bewahren. In den Grenzen des Mandats hat der Rechtsanwalt dem Mandanten diejenigen Schritte anzuraten, die zu dem erstrebten Ziel zu führen geeignet sind, und Nachteile für den Auftraggeber zu verhindern, soweit solche voraussehbar und vermeidbar sind. Dazu hat er dem Auftraggeber den sichersten und gefahrlosesten Weg vorzuschlagen und ihn über mögliche Risiken aufzuklären, damit der Mandant zu einer sachgerechten Entscheidung in der Lage ist (vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2021 - IX ZR 165/19, NJW 2021, 3324 Rn. 27 ff mwN).
Rz. 23
b) Die Pflicht des Rechtsanwalts zur Beratung über die Erfolgsaussichten eines in Aussicht genommenen Rechtsstreits gilt gleichermaßen sowohl gegenüber einem nicht rechtsschutzversicherten Mandanten als auch gegenüber einem Mandanten mit Rechtsschutzversicherung (vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2021 aaO Rn. 33 f mwN).
Rz. 24
c) Fällt dem Rechtsanwalt eine schuldhafte Verletzung der ihm obliegenden Beratungspflicht zur Last, kommt es darauf an, wie sich der Mandant im Falle pflichtgemäßer Unterweisung verhalten hätte. Insoweit kann von Bedeutung sein, ob der Mandant eine Rechtsschutzversicherung unterhält (vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2021 aaO Rn. 35 ff mwN).
Rz. 25
Die Beantwortung der Frage, ob im Falle sachgerechter Aufklärung aus der (verobjektivierten) Sicht eines vernünftig urteilenden Mandanten eindeutig eine bestimmte tatsächliche Reaktion nahegelegen hätte, obliegt dem Tatrichter. Dieser muss in seine Überlegungen auch einbeziehen, ob das Risiko des Mandanten, im Falle einer Niederlage die Kosten des Rechtsstreits tragen zu müssen, durch einen bestehenden Deckungsanspruch aus einer Rechtsschutzversicherung oder eine bereits vorliegende Deckungszusage herabgemindert war (vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2021 - IX ZR 165/19, NJW 2021, 3324 Rn. 38 mwN).
Rz. 26
Die Wirkungen des versicherungsvertraglichen Kostenschutzes auf die Frage des Eingreifens des Anscheinsbeweises finden jedoch ihre Grenze, wenn die (weitere) Rechtsverfolgung des Mandanten objektiv aussichtslos war (vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2021 aaO Rn. 39 mwN). Auch über die Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung hat der Tatrichter zu befinden (vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2021 aaO Rn. 40).
Rz. 27
4. Das Berufungsgericht hat keine Feststellungen dazu getroffen, wann der Kläger Kenntnis von den die geltend gemachte Schadensersatzforderung begründenden Umständen und der Person des Beklagten als Anspruchsschuldner erlangt hat. Mit Blick auf die durch den Beklagten erhobene Verjährungseinrede wird das Berufungsgericht bei Bejahung eines Schadensersatzanspruchs diese Feststellungen nachzuholen haben.
Schoppmeyer |
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Möhring |
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Röhl |
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Selbmann |
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Harms |
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Fundstellen
DB 2022, 2986 |
NJW 2022, 9 |
NJW 2023, 449 |
WM 2022, 2369 |
AnwBl 2023, 240 |
VersR 2023, 108 |
ZfS 2023, 156 |
ErbR 2023, 246 |
r+s 2023, 71 |
BRAK-Mitt. 2023, 25 |
BRAK-Mitt. 2023, 62 |