Leitsatz (amtlich)
Enthält ein Urteil des Oberlandesgerichts keinen Tatbestand, so verfällt es grundsätzlich der Aufhebung durch das Revisionsgericht.
Normenkette
ZPO § 543
Verfahrensgang
OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 04.04.1978) |
LG Frankfurt am Main |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 4. April 1978 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin macht gegen den Beklagten eine Forderung von 16.931,33 DM (nebst Zinsen) geltend. Dieser bestreitet die Klageforderung nach Grund und Höhe; hilfsweise hat er mit mehreren Gegenforderungen aufgerechnet.
Das Landgericht hat den Beklagten antragsgemäß verurteilt. Dessen Berufung hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Aus den Entscheidungsgründen dieses Urteils – einen Tatbestand enthält es nicht – läßt sich entnehmen, daß das Berufungsgericht den Klageanspruch, der offenbar aus mehr als zehn einzelnen Posten zusammengesetzt ist, für begründet hält und die Gegenforderungen nicht für erwiesen ansieht.
Die Revision des Beklagten wendet sich mit zahlreichen Rügen bei jedem der streitigen Posten der Klageforderung gegen deren Zuerkennung zugunsten der Klägerin und in gleicher Weise bei jedem Posten der mehreren Gegenforderungen gegen deren Aberkennung zu Lasten des Beklagten. Sie rügt auch, daß das Berufungsurteil keinen Tatbestand enthält.
Entscheidungsgründe
I. Das angefochtene Urteil unterliegt schon deshalb der Aufhebung, weil es keinen Tatbestand enthält. Das Berufungsgericht war offenbar davon ausgegangen, daß gegen sein Urteil keine Revision stattfinde (§ 543 Abs. 2 ZPO), weil es die Beschwer des Beklagten auf 33.862,66 DM festgesetzt hatte; es hatte dabei dem Wert der Klageforderung von 16.931,33 DM gemäß § 19 Abs. 3 Gerichtskostengesetz den Wert der Gegenforderungen in der gleichen Höhe hinzugerechnet. Das war unrichtig: Rechnet der Beklagte mit mehreren Forderungen nacheinander auf, so wird ihm gemäß § 322 Abs. 2 ZPO gegebenenfalls jede dieser Forderungen (jeweils bis zur Höhe der Klageforderung) aberkannt. Der Senat hat daher durch Beschluß vom 11. Juli 1978 den Streitwert, der hier dem Beschwerdewert entspricht, auf insgesamt 57.226 DM festgesetzt. Infolgedessen war für den Beklagten die Revision auch ohne Zulassung durch das Berufungsgericht statthaft.
II. Nach § 549 ZPO kann das Revisionsgericht nur prüfen, ob das angefochtene Urteil auf einer Gesetzesverletzung beruht oder ob das Berufungsgericht eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig „auf das von ihm festgestellte Sachverhältnis” (§§ 550, 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO) angewandt hat. Daher bilden die tatsächlichen Feststellungen die Grundlage des mit der Revision angefochtenen Urteils; an diese Feststellungen ist das Revisionsgericht gemäß § 561 Abs. 2 ZPO grundsätzlich gebunden. Es kann somit seine Aufgabe nur erfüllen, wenn das Berufungsurteil einen Tatbestand enthält, aus dem sich ergibt, von welchen tatsächlichen Voraussetzungen das Gericht ausgegangen ist (so zutreffend Grunsky, ZPO 20. Aufl. Rdn. 5 zum neugefaßten § 543 ZPO).
1. Nach der bis zur „Vereinfachungsnovelle” vom 3. Dezember 1976 (BGBl. I 3281, 3290) geltenden Fassung von § 543 ZPO mußte jedes Berufungsurteil einen Tatbestand enthalten. Wohl war eine Bezugnahme auf den Tatbestand im erstinstanzlichen Urteil „nicht ausgeschlossen”; machte das Oberlandesgericht von dieser Befugnis Gebrauch, so bedeutete dies nicht ein Weglassen eines Tatbestandes, sondern nur die Möglichkeit, im Falle teilweiser oder gänzlicher Übereinstimmung mit den Feststellungen des Landgerichts diese, ohne sie wiederholen zu müssen, auch zu berufungsgerichtlichen Feststellungen zu erklären. Das Revisionsgericht hatte dann an Hand der Akten zu prüfen, welchen Sachverhalt das Berufungsgericht seiner Entscheidung zugrundegelegt hatte, was allerdings zu einer starken Belastung des Revisionsgerichts führen konnte (BGHZ 23, 28 ff; 32, 28, 30). Indes stand für das Revisionsgericht außer Frage, von welchem Sachverhalt das Oberlandesgericht bei seiner Entscheidung ausgegangen war.
Enthielten aber Urteile der Oberlandesgerichte keinen Tatbestand, so war es allgemeine Ansicht, daß sie ohne weiteres aufzuheben waren. Ließ sich ein Bild von dem Sach- und Streitstand nicht gewinnen, wäre dazu vielmehr die Durchsicht der Akten unerläßlich, so fehlte es an der für die Entscheidung des Revisionsgerichts unentbehrlichen festen tatsächlichen Grundlage (so RGZ 71, 131, 132; ähnlich BGHZ 40, 84, 87; BArbG NJW 1970, 813). Daher stellte das Fehlen eines Tatbestandes einen jederzeit von Amts wegen zu beachtenden Mangel des angefochtenen Urteils dar. Denn dann vermag das Revisionsgericht nicht zu erkennen, aufgrund welcher tatsächlichen Feststellungen das Berufungsgericht zu seinem rechtlichen Ergebnis gekommen ist, auch mangelt es dem Revisionsgericht an einer bindenden tatsächlichen Grundlage für seine rechtliche Überprüfung (so BArbG 23, 58 = NJW 1971, 214).
2. Hieran hat die Neufassung des § 543 ZPO nichts geändert.
a) Diese Fassung beruht zwar auf der Vereinfachungsnovelle; indes hat sie den Berufungsgerichten nicht nur eine Vereinfachung gebracht (dies vor allem bei den Berufungsurteilen der Landgerichte und den nach § 545 Abs. 2 nicht revisiblen Urteilen der Oberlandesgerichte), sie enthält vielmehr in dem neuen Absatz 2 auch eine Erschwernis. Während früher das Oberlandesgericht auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils Bezug nehmen durfte, muß es jetzt, falls gegen das Urteil die Revision „stattfindet”, seinen Entscheidungsgründen einen Tatbestand in Form einer gedrängten Darstellung des Sach- und Streitstandes auf der Grundlage der mündlichen Vorträge der Parteien voranstellen. Insoweit ist es also bei dem verblieben, was bis zum 1. Juli 1977 in Nr. 3 des § 313 Abs. 1 ZPO für die Tatbestände aller Urteile vorgeschrieben war. Demgegenüber heißt es jetzt im Satz 2 des § 543 Abs. 2 ZPO, eine Bezugnahme auf das angefochtene Urteil sei nur dann – insoweit also über den bis zur „Vereinfachungsnovelle” geltenden Rechtszustand sogar hinausgehend – zulässig, soweit hierdurch die Beurteilung des Parteivorbringens durch das Revisionsgericht nicht wesentlich erschwert wird. Diese Gesetzesänderung ist übrigens gerade auf die Vorstellungen des Bundesgerichtshofs in seinen Stellungnahmen zu den verschiedenen ZPO-Änderungsentwürfen zurückzuführen.
b) Wenn es im neuen Absatz 2 des § 543 ZPO nur heißt, daß der Tatbestand des Urteils eines Oberlandesgerichts eine Darstellung des Sach- und Streitstandes enthalten „soll”, so besagt das nicht, daß der Verstoß gegen diese Vorschrift auch dann keine Gesetzesverletzung enthielte, wenn das Urteil überhaupt keinen Tatbestand aufweist. Das Wort „soll” drückt nur aus, daß dann, wenn den Gründen des Berufungsurteils ein Tatbestand vorangestellt ist, dieser nicht – wie dies bis zum 1. Juli 1977 zulässig war – lediglich Bezug nehmen soll, sondern, die nunmehr im Gesetz näher beschriebene Darstellung des Sach- und Streitstandes enthalten „soll” (so zutreffend Grunsky a.a.O. § 543 Rdn. 5). Erfüllt der Tatbestand diese Anforderungen nicht, so liegt darin noch kein (relativer oder sogar absoluter) Revisionsgrund (Baumbach/Albers, ZPO 37. Aufl. § 543 Anm. 2 B). Anders ist dies indessen, wenn es überhaupt an einem Tatbestand fehlt; dann muß das Urteil, wenn es revisibel und angefochten ist, der Aufhebung verfallen (vgl. auch Thomas/Putzo, ZPO 10. Aufl. Anm. 3 a zu § 543 und Grunsky a.a.O.).
Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob das Fehlen eines Tatbestandes ausdrücklich gerügt worden ist. Denn das Revisionsgericht kann dann, wie ausgeführt, seiner Aufgabe, die Anwendung des Rechts auf den festgestellten Sachverhalt nachzuprüfen, nicht nachkommen; dies führt notwendigerweise dazu, den Mangel des fehlenden Tatbestandes von Amts wegen zu beachten. Es kann nicht angehen, daß sich Revisionskläger und Revisionsbeklagter vor dem Revisionsgericht, dies gar in der mündlichen Verhandlung, darüber streiten, welcher Sachverhalt (etwa bei einem Verkehrsunfall) der Nachprüfung zugrundezulegen ist; noch weniger ist es angängig, daß das Revisionsgericht darüber berät und beschließt, wer von den Streitteilen nach dem Inhalt der Akten den richtigen Sachverhalt vorgetragen hat. Daher kann es nicht im Belieben des Revisionsklägers stehen, ob er den „Mangel eines Tatbestandes” rügen will und damit die Aufhebung des Urteils erreicht, oder ob er, weil er sich von einer Zurückverweisung im Ergebnis nichts verspricht, auf diese Rüge verzichtet.
c) Der hier zu entscheidende Fall gibt keinen Anlaß zur Prüfung der Frage, ob auch dann die Aufhebung eines Berufungsurteils unumgänglich ist, wenn die Parteien ersichtlich nur um eine Rechtsfrage streiten, deren Beantwortung die Feststellung eines konkreten Sachverhalts nicht voraussetzt. Der Streitfall ist nicht von dieser Art. Schon ein Blick in die Revisionsbegründung des Beklagten und die Erwiderung der Klägerin zeigt, daß der Senat zunächst erörtern müßte, um welchen Sachverhalt es geht, und daß er diesen dann selbst zu ermitteln und festzustellen hätte.
III. Das angefochtene Urteil mußte somit aufgehoben werden. Da gegen dieses Urteil – entgegen der Annahme des Oberlandesgerichts – die Revision stattfindet, war der Tatbestand unverzichtbar.
Das Berufungsgericht hat im übrigen – gleichfalls ausgehend von der unrichtigen Annahme, eine Revision finde nicht statt – die Frage des Vollstreckungsschutzes unzutreffend entschieden. Es hätte, als es das Urteil gemäß § 708 Nr. 10 ZPO für vorläufig vollstreckbar erklärte, dem Beklagten gemäß § 711 ZPO Vollstreckungsschutz gewähren müssen; davon, daß die Voraussetzungen, unter denen die Revision „unzweifelhaft” nicht stattfindet (so § 713 ZPO), vorlagen, konnte hier nicht die Rede sein.
Das Berufungsgericht wird demnächst bei seiner Kostenentscheidung die Anwendung des § 8 GKG in Betracht zu ziehen haben.
Unterschriften
Dr. Weber, Dr. Steffen, Dr. Kullmann, Dr. Ankermann, Dr. Deinhardt
Fundstellen
Haufe-Index 1502198 |
BGHZ |
BGHZ, 248 |
DRiZ 1979, 152 |
Nachschlagewerk BGH |
JZ 1979, 312 |