Leitsatz (amtlich)
Zu den Anforderungen, die an die Voraussetzungen eines auf § 826 BGB gestützten Anspruchs auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung aus einem rechtskräftigen Vollstreckungsbescheid zu stellen sind.
Normenkette
BGB § 826
Verfahrensgang
OLG Frankfurt am Main |
LG Gießen |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 1. April 1997 aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Gießen vom 11. März 1996 wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Unterlassung der Zwangsvollstreckung durch die Beklagte aus einem gegen ihn erwirkten Vollstreckungsbescheid, die Herausgabe dieses Titels und die Bewilligung der Löschung einer auf der Grundlage des Vollstreckungsbescheids zu Lasten seines Hausgrundstücks eingetragenen Zwangshypothek.
Die Beklagte hatte zur Durchführung eines Bauvorhabens den Inhaber H. eines Bauplanungsbüros mit der Bauplanung, statischen Berechnung und Bauleitung beauftragt. Die von H., der gegenüber der Baubehörde nicht vorlageberechtigt war, gefertigten Baupläne und der Bauantrag wurden auf dessen Bitte hin vom Kläger unterschrieben, einem selbständigen Architekten, der auch als verantwortlicher Bauleiter zeichnete. Der Kläger stellte gegenüber H. für „Teilbauleitung, Versicherung sowie Vorlageberechnung” 387,60 DM in Rechnung.
Die Beklagte machte nach Erstellung des Gebäudes Schadensersatzansprüche gegen H. und den Kläger wegen Mängel der Architektenleistung geltend. Sie führte gegen beide selbständige Beweisverfahren durch und leitete das Mahnverfahren ein. Der Mahnbescheid über eine Schadensersatzforderung von 241.568,50 DM nebst Zinsen wurde dem Kläger durch Niederlegung zugestellt. Den in derselben Weise zugestellten Vollstreckungsbescheid übergab der Kläger an H. mit dem Hinweis, daß er mit dieser Sache nichts zu tun habe und H. sich darum kümmern solle. Der Vollstreckungsbescheid wurde rechtskräftig.
Im Rechtsstreit der Beklagten gegen H. kam es zu einem Prozeßvergleich, in dem sich H. verpflichtete, an die Beklagte 102.000 DM zu bezahlen; eine Erlaßwirkung dieses Vergleichs gegenüber dem Kläger wurde ausgeschlossen.
Der Kläger ist der Ansicht, die Beklagte mißbrauche den gegen ihn erwirkten Vollstreckungsbescheid, dem keine berechtigte Forderung zugrunde liege, in sittenwidriger Weise; die Zwangsvollstreckung aus dem Titel sei unzulässig.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht nach dessen Klageantrag erkannt. Mit der Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht hält das Klagebegehren auf der Grundlage des § 826 BGB für gerechtfertigt. Zwar sei die Anwendung dieser Vorschrift gegenüber der Vollstreckung aus rechtskräftigen Titeln auf besonders schwerwiegende und eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt. Ein solcher Fall liege jedoch hier vor.
Die Beklagte habe nicht von einem zwischen ihr und dem Kläger bestehenden Architektenvertrag ausgehen können. Sie stütze ihr Schadensersatzbegehren nur auf die „formale Rechtsposition des vom Kläger unterschriebenen Bauantrages”. In Wahrheit stehe ihr keine Forderung gegen den Kläger zu.
Zwar könne nicht davon ausgegangen werden, daß die Beklagte die Besonderheiten des Mahnverfahrens bewußt dazu ausgenutzt habe, um für einen materiell nicht gerechtfertigten Anspruch einen rechtskräftigen Vollstreckungsbescheid zu erwirken. Vielmehr sei der Titel auf das nachlässige, seine wirtschaftlichen Interessen gröblich vernachlässigende Verhalten des Klägers selbst zurückzuführen. Dessen nachlässige Prozeßführung sei grundsätzlich geeignet, einen Anspruch aus § 826 BGB auszuschließen. Es spreche auch nichts dafür, daß die Beklagte damit gerechnet habe, der Kläger werde die für jeden nicht ganz unerfahrenen Bürger selbstverständliche Gegenwehr im Mahnverfahren unterlassen. Der Sachverhalt sei hier anders gelagert als in den Ratenkreditfällen, in denen eine Kreditgeberin das Mahnverfahren im Hinblick auf die Ungewandtheit von Kreditnehmern im Geschäftsleben mißbrauche.
Gleichwohl seien im vorliegenden Fall eindeutig als sittenwidrige Ausnutzung eines Titels einzuschätzende Umstände gegeben, so daß eine nachträgliche Korrektur aus dem Gebot der Einzelfallgerechtigkeit notwendig erscheine. Der den Vollstreckungsbescheid erlassende Rechtspfleger sei durch die Formulierung getäuscht worden, es handele sich um eine Schadensersatzforderung wegen mangelhafter Architektenleistung. Die Beklagte habe genau gewußt, daß der Kläger nicht als Architekt für sie tätig gewesen sei; sie habe ihn nie gesehen und er sei nie auf der Baustelle gewesen. Bei dieser Sachlage sei es mit dem Gerechtigkeitsgedanken nicht vereinbar, daß die Beklagte, die nur wegen der reduzierten Schlüssigkeitsprüfung im Mahnverfahren einen Titel erhalten habe, einen Betrag von nun sicherlich 300.000 DM gegen den Kläger vollstrecken könne, der ihr unter keinen Umständen zustehe.
II.
Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand. Die Auffassung des Berufungsgerichts, dem Kläger stehe auf der Grundlage des § 826 BGB ein Anspruch auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung, Herausgabe des Titels und Einwilligung in die Löschung der Zwangshypothek zu, beruht auf durchgreifenden Rechtsfehlern.
1. Im Ansatz zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, daß die Durchbrechung der Rechtskraft eines Vollstreckungstitels, auch eines Vollstreckungsbescheides, auf der Grundlage eines Anspruchs aus § 826 BGB nur in besonders schwerwiegenden, eng begrenzten Ausnahmefällen gewährt werden darf, weil sonst die Rechtskraft ausgehöhlt und die Rechtssicherheit beeinträchtigt würde. Die Rechtskraft muß nur dann zurücktreten, wenn es mit dem Gerechtigkeitsgedanken schlechthin unvereinbar wäre, daß der Titelgläubiger seine formelle Rechtsstellung unter Mißachtung der materiellen Rechtslage zu Lasten des Schuldners ausnutzt (st. Rspr., vgl. z.B. BGHZ 101, 380, 383; 103, 44, 46).
Voraussetzung hierfür ist nicht nur die materielle Unrichtigkeit des Vollstreckungstitels und die Kenntnis des Gläubigers hiervon; hinzutreten müssen vielmehr besondere Umstände, die sich aus der Art und Weise der Titelerlangung oder der beabsichtigten Vollstreckung ergeben und die das Vorgehen des Gläubigers in sittenwidriger Weise prägen, so daß es letzterem zugemutet werden muß, die ihm unverdient zugefallene Rechtsposition aufzugeben (vgl. hierzu auch Senatsurteil vom 13. Juli 1982 – VI ZR 300/79 – VersR 1982, 975, 976). Grundsätzlich muß die Durchbrechung der Rechtskraft mit Hilfe des § 826 BGB nach Erwirkung eines rechtskräftigen Titels über einen nicht schlüssigen Anspruch im Mahnverfahren auf Fälle beschränkt bleiben, die, wie dies etwa bei der Fallgruppe der Ratenkreditverträge zu bejahen sein kann, nach der Art der zugrundeliegenden Rechtsbeziehungen eine klar umrissene sittenwidrige Typik aufweisen und in denen ein besonderes Schutzbedürfnis des mit dem Mahnverfahren überzogenen Schuldners hervortritt (vgl. Senatsurteil BGHZ 103, 44, 50).
2. Die Revision rügt zu Recht, daß unter Berücksichtigung dieser Rechtsgrundsätze im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts die Voraussetzungen des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs aus § 826 BGB nicht erfüllt sind.
a) Zwar ist im vorliegenden Revisionsverfahren davon auszugehen, daß dem von der Beklagten erwirkten Vollstreckungsbescheid materiell-rechtlich kein berechtigter, auf eine mangelhafte Architektenleistung des Klägers gegründeter Schadensersatzanspruch zugrunde lag. Für die nötige Kenntnis des Titelgläubigers von der Unrichtigkeit des Vollstreckungstitels kann es ausreichen, wenn dem Gläubiger diese Kenntnis erst während des Rechtsstreits über den Anspruch aus § 826 BGB vermittelt wird (vgl. BGHZ 101, 380, 385); jedenfalls unter diesem Gesichtspunkt ist hier revisionsrechtlich die erforderliche Kenntnis der Beklagten bezüglich einer Unrichtigkeit des Vollstreckungsbescheids zu bejahen.
b) Dem Berufungsgericht kann jedoch, auch wenn die von ihm getroffenen Feststellungen zugrunde gelegt werden, nicht in der rechtlichen Beurteilung gefolgt werden, es seien die für einen Anspruch aus § 826 BGB zusätzlich erforderlichen besonderen, die Sittenwidrigkeit begründenden Umstände als gegeben zu erachten.
aa) Das Berufungsgericht geht nicht davon aus, die Beklagte habe die Besonderheiten des Mahnverfahrens bewußt dazu ausgenutzt, um für einen in der Sache nicht gerechtfertigten Anspruch einen rechtskräftigen Vollstreckungsbescheid zu erwirken. Im Berufungsurteil wird ausdrücklich festgestellt, es spreche nichts dafür, daß die Beklagte damit gerechnet habe, der Kläger werde die für jeden nicht ganz unerfahrenen Bürger selbstverständliche Gegenwehr im Rahmen des Mahnverfahrens unterlassen.
bb) Der vorliegende Fall weist auch keinerlei Merkmale typisch sittenwidriger Fallgestaltungen auf, wie sie in der Rechtsprechung etwa bei der Fallgruppe der Ausnutzung des Mahnverfahrens im Rahmen von Ratenkreditverträgen mit unerfahrenen Darlehensnehmern herausgearbeitet worden sind. Vor allem ist ein besonderes Schutzbedürfnis des Klägers nicht zu erkennen:
Auch das Berufungsgericht betont, daß der Kläger seine eigenen wirtschaftlichen Interessen gröblich vernachlässigt und dadurch in entscheidendem Maße zum Entstehen des Vollstreckungstitels selbst beigetragen hat. Der Kläger, ein freiberuflich tätiger Architekt, von dem Geschäftserfahrenheit erwartet werden kann, wußte bereits aus den durchgeführten selbständigen Beweisverfahren, daß er von der Beklagten wegen behaupteter Mängel der Architekten- und Bauleistung in Anspruch genommen wird; dort hatte er sich zeitweise auch anwaltlich vertreten lassen. Er hatte im Mahnverfahren den Vollstreckungsbescheid in Händen und hat dennoch die naheliegendsten, in dieser Lage von ihm als selbstverständlich zu verlangenden Maßnahmen unterlassen. Bei diesem Sachverhalt fehlt es von vornherein an dem besonderen Schutzbedürfnis des Schuldners, das als Voraussetzung einer Rechtskraftdurchbrechung auf der Grundlage des § 826 BGB unerläßlich ist.
cc) Wenn das Berufungsgericht dem Begehren des Klägers dennoch mit der Begründung stattgegeben hat, der Rechtspfleger sei beim Erlaß des Vollstreckungsbescheides durch die Formulierung getäuscht worden, es handele sich um eine Schadensersatzforderung wegen mangelhafter Architektenleistung, so kann dem nicht gefolgt werden. Das Berufungsgericht stützt seine Beurteilung darauf, die Beklagte habe genau gewußt, daß der Kläger nicht als Architekt für sie tätig gewesen sei; sie habe ihn nie gesehen, er sei nie auf der Baustelle gewesen. Diese Überlegungen sind bereits aufgrund der im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen rechtsfehlerhaft:
(a) Der Kläger hat den an die zuständige Baubehörde gerichteten Bauantrag sowie sämtliche eingereichten Entwurfspläne unterschrieben und gegenüber dem Bauamt als verantwortlicher Bauleiter gezeichnet. Damit hat er, unabhängig davon, wie die Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten im einzelnen ausgestaltet gewesen sein mögen, Architektenleistungen erbracht, hinsichtlich derer ihn die Beklagte für einstandspflichtig halten konnte; nicht entscheidend war insoweit, ob er die Baustelle jemals besucht und mit der Beklagten zu irgendeinem Zeitpunkt verhandelt hat oder nicht. Bei dieser Sachlage kann aus der seitens der Beklagten im Mahnverfahren angegebenen Anspruchsbegründung, mag sie auch materiell-rechtlich nicht zutreffend gewesen sein, bereits aus Rechtsgründen kein die besondere Sittenwidrigkeit ihres Vorgehens begründendes Merkmal hergeleitet werden. Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung sind den getroffenen Feststellungen keine relevanten Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß die Beklagte den Vollstreckungstitel „erschlichen” hat.
(b) Es kommt daher insoweit nicht auf die von der Revision zu Recht erhobene Verfahrensrüge an, mit welcher die Beklagte beanstandet, das Berufungsgericht habe ihren durch Zeugnis des H. unter Beweis gestellten Vortrag verfahrensfehlerhaft übergangen, daß der Kläger mit H. eine Honorarteilung vereinbart und im Hinblick auf das Bauvorhaben der Beklagten eine Arbeitsgemeinschaft gebildet habe. Ob dies zutrifft, kann ebenso dahinstehen wie die, worauf die Revision ebenfalls hinweist, vom Berufungsgericht unberücksichtigt gelassene Tatsache, daß der in den selbständigen Beweisverfahren zeitweilig anwaltlich vertretene Kläger seinerzeit gerade nicht geltend gemacht hatte, er habe keine vertraglichen Verpflichtungen gegenüber der Beklagten gehabt.
dd) Auch die weiteren vom Berufungsgericht angeführten Überlegungen rechtfertigen das Klagebegehren nicht. Es mag dahinstehen, ob es Extremfälle geben kann, in denen auf die – als Voraussetzung für die Anwendung des § 826 BGB grundsätzlich zu fordernden – zusätzlichen besonderen Umstände für die Sittenwidrigkeit deshalb verzichtet werden kann, weil die materielle Unrichtigkeit des Titels bereits so eindeutig und so schwerwiegend ist, daß jede Vollstreckung allein schon deswegen das Rechtsgefühl in unerträglicher Weise verletzen würde (vgl. dazu BGHZ 112, 54, 57). Von einem derartigen Extremfall kann vorliegend unter Berücksichtigung aller Umstände nicht die Rede sein, auch nicht in Anbetracht der Höhe der titulierten Forderung.
III.
Das Berufungsurteil war daher aufzuheben. Da weitere tatsächliche Feststellungen nicht zu treffen sind, entscheidet der Senat in Anwendung des § 565 Abs. 3 Ziff. 1 ZPO selbst abschließend. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO.
Fundstellen
Haufe-Index 609594 |
BB 1998, 2178 |
NJW 1998, 2818 |
BauR 1998, 1027 |
WM 1998, 1950 |
WuB 1998, 1039 |
ZIP 1998, 1731 |
InVo 1999, 52 |
JA 1999, 267 |
MDR 1998, 1225 |
VersR 1999, 78 |