Verfahrensgang
LG Darmstadt (Urteil vom 11.08.2004) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 11. August 2004 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes in Tateinheit mit Beteiligung an einer Schlägerei zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Seine Revision hat mit der Verfahrensrüge Erfolg, ein Hilfsbeweisantrag der Verteidigung sei rechtsfehlerhaft zurückgewiesen worden. Auf die Rüge eines Verstoßes gemäß § 261 StPO kommt es daher nicht an.
1. a) Nach den Feststellungen des Landgerichts erstach der Angeklagte das Tatopfer S. während einer Massenschlägerei, die im Rahmen einer öffentlichen Kickbox-Veranstaltung in dem Kampfring aus Unzufriedenheit mit dem Ausgang eines Kampfes zwischen Mitgliedern und Anhängern der beteiligten Mannschaften ausgebrochen war. Das gesamte Geschehen wurde mit einer Videokamera aufgezeichnet. Nachdem den Ermittlungsbehörden zunächst eine durch Löschungen verfälschte Kopie dieser Aufzeichnung zugespielt worden war, übergab der Zeuge B. in der Hauptverhandlung die Original-Kassette. Diese Aufzeichnung wurde in der Hauptverhandlung auf verschiedene Weise mehrfach in Augenschein genommen:
Die Bildaufzeichnung des Tatgeschehens war mittels eines Camcorders auf eine sog. Mini-DV-Kassette erfolgt. Der Polizei wurde nach der Tat eine CD-ROM zugespielt, auf welcher sich eine durch Löschungen manipulierte, für die Beweiserhebung unbrauchbare Kopie befand. Die originale Mini-DV-Kassette übergab der Zeuge B. im Rahmen seiner Vernehmung im Hauptverhandlungstermin vom 29. Juli 2004. Auf Beschluss des Gerichts wurde sie durch Abspielen auf einem Bildschirm in Augenschein genommen.
Die Kassette, auf welcher sich die Filmsequenz von etwa zwei Minuten dreißig Sekunden Länge im Pal-Standard (= 50 Halbbilder pro Sekunde) befand, wurde nach dem Termin vom 29. Juli 2004 vom Gericht zur weiteren „Aufbereitung” an das BKA übersandt. Der Zeuge M. übertrug dort einen Ausschnitt von 36 Sekunden auf eine DVD. Auf die DVD wurden so 1.800 Einzelbilder übertragen, die auf Grund der technischen Gegebenheiten bei Speicherung und Darstellung nur mit einer Verlangsamung von etwa 12 Bildern pro Sekunde abgespielt werden konnten.
Im Hauptverhandlungstermin vom 4. August 2004 wurden der Zeuge M. vernommen und die von ihm hergestellte DVD zunächst durch Projektion an die Wand des Sitzungssaals in Augenschein genommen.
Sodann wurde auf Beschluss des Gerichts die auf der DVD gespeicherte Filmsequenz erneut auch auf dem Bildschirm eines Laptop in Augenschein genommen. Dabei wurden einzelne Passagen zurückgespielt und mehrfach betrachtet. Etwa 20-mal wurde der Abspielvorgang angehalten, so dass das sich jeweils ergebende Standbild betrachtet werden konnte.
Von 30 der auf der DVD gespeicherten Einzelbilder hatte der Zeuge M. Ausdrucke auf Papier hergestellt. Diese wurden in der Hauptverhandlung in Augenschein genommen. Ausdrucke aller 1.800 Einzelbilder sind nicht hergestellt worden. Es wurden auch nicht 1.800 Einzelbilder im Wege einer Einzelbildschaltung als Standbilder am Bildschirm betrachtet. Dies geschah vielmehr nur mit etwa 20 Einzelbildern; im Übrigen wurde der Film mit ca. 12 Bildern pro Sekunde, also im „Zeitlupentempo”, zwei- oder dreimal abgespielt und in Augenschein genommen.
b) Der Angeklagte hat die Tat bestritten. Nach Schluss der Beweisaufnahme und nach den Schlussvorträgen stellte ein Verteidiger des Angeklagten im Hauptverhandlungstermin vom 11. August 2004 unmittelbar vor der Urteilsverkündung einen zuvor mit Telefax angekündigten Hilfsbeweisantrag. Darin wurde hilfsweise für den Fall, dass das Gericht davon ausgehen sollte, der Angeklagte habe auf den getöteten S. eingestochen und dadurch dessen Tod verursacht, beantragt,
„das gesamte Bildmaterial von dem in der Hauptverhandlung durch den Zeugen B. übergebenen Video-Band durch das BKA untersuchen und auswerten zu lassen, insbesondere Einzelbilder herstellen zu lassen”.
Der Antrag führte aus, die Beweiserhebung werde – unter anderem – ergeben, „dass durch die Anfertigung von Einzelbildern der gesamten Bildaufzeichnung (1.800 Bilder) im Gegensatz zu den jetzt bereits vorliegenden Einzelbildern (30 Bilder) dabei zu sehen ist, dass zwei Personen mit einem glänzenden Gegenstand in der Hand zu sehen sind, die nicht Herr Ü. sind”.
Weiter wurde beantragt,
„die entsprechenden Einzelbilder, auf denen die beiden Personen mit dem glänzenden Gegenstand in der Hand zu sehen sind, technisch aufzubereiten und zu vergrößern”;
dies werde „ergeben, dass es sich bei den glänzenden Gegenständen in den Händen der beiden Personen jeweils um ein Messer gehandelt hat”.
Das Landgericht hat diesen Antrag in den Urteilsgründen mit folgender Begründung zurückgewiesen (UA S. 62/63):
„Zum einen wurde die von dem Zeugen B. überreichte Mini-DV-Kassette … bereits mehrfach in der Hauptverhandlung am 29.07.2004 in Augenschein genommen. Zudem wurden von den Filmaufnahmen dieser Kassette …1.800 Standbilder gefertigt, die ebenfalls in Augenschein genommen wurden. Insoweit stellen sich die vorgenannten Anträge als Anträge auf Wiederholung der Beweiserhebung dar (…), denen die Kammer nicht zu entsprechen brauchte, nachdem der Sachverhalt aus Sicht der Kammer hinreichend aufgeklärt worden ist.
Zum anderen ist die beantragte Beweiserhebung durch Augenscheinseinnahme gemäß § 244 Abs. 5 StPO zur Erforschung der Wahrheit auch nicht erforderlich. Eine Inaugenscheinnahme der von dem Zeugen B. überreichten Videokassette sowie der gefertigten 1.800 Standbilder ist erfolgt. Aus den in Augenschein genommenen Filmaufnahmen sowie Bildsequenzen waren (…) alle um das Opfer stehenden Personen mit Ausnahme des Angeklagten als Täter der Messerstiche auszuschließen.”
Seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten hat das Landgericht wesentlich auch auf die Würdigung der Inaugenscheinnahme des Bildmaterials gestützt und dazu unter anderem ausgeführt:
„Die Täterschaft des Angeklagten steht für die Kammer (…) fest aufgrund (…) der von dem Zeugen B. überreichten Mini-DV (…) und aufgrund der aus den Filmaufzeichnungen der Mini-DV gefertigten 1.800 Standbilder, die allesamt mehrfach in der Hauptverhandlung in Augenschein genommen worden sind” (UA S. 22).
2. Der Hilfsbeweisantrag durfte mit der vom Landgericht gegebenen Begründung nicht zurückgewiesen werden.
a) Durch die vom Senat eingeholten dienstlichen Erklärungen der Berufsrichter und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft sowie die anwaltlichen Erklärungen der Verteidiger und des Nebenklägervertreters in Verbindung mit dem Protokoll der Hauptverhandlung ist bewiesen, dass 1.800 einzelne Standbilder als solche weder hergestellt noch in Augenschein genommen wurden. Die Formulierungen in den Gründen des angefochtenen Urteils, die Überzeugung des Landgerichts stütze sich auf die „aus den Filmaufzeichnungen der Mini-DV gefertigten 1.800 Standbilder” (UA S. 22); es seien „von den Filmaufnahmen (…) 1.800 Standbilder gefertigt (worden), die ebenfalls in Augenschein genommen wurden” (UA S. 63), sind allerdings missverständlich, namentlich weil das Landgericht hier und an anderen Stellen zwischen „Filmaufnahmen”, „Filmsequenzen”, „Sequenzen mit Standbildern”, „Lichtbildern (Standbildern)” und „Standbildern” durchaus zutreffend differenziert hat.
Auch der von der Verteidigung vor der Urteilsverkündung am 11. August 2004 gestellte Hilfsbeweisantrag unterschied ausdrücklich zwischen „aufbereitetem Videomaterial (DVD)” und „Standbildern”; danach hatte „das BKA Standbilder gefertigt und diese am 4. August 2004 mitgebracht. Die Standbilder wurden in Augenschein genommen, das vom BKA aufbereitete Video-Material (DVD) wurde durch Projektor vorgeführt”. Der Antrag bemängelte, es sei bislang „speziell die in der ursprünglichen CD geschnittene Sequenz (…) nicht in Einzelbilder aufgeteilt und überprüft worden”. Hieran anknüpfend verlangte der Antrag die „Anfertigung von Einzelbildern der gesamten Bildaufzeichnung (1.800 Bilder) im Gegensatz zu den jetzt bereits vorliegenden Einzelbildern (30 Bilder)”. Der Begriff der „bereits vorliegenden 30 Einzelbilder” konnte sich ersichtlich nur auf die von dem Zeugen M. gefertigten 30 Papierausdrucke von Standbildern beziehen. Dass der Antrag sich nicht darauf richtete, die Filmsequenz (nochmals) mit einer Geschwindigkeit von 12 Bildern pro Sekunde abzuspielen, war offensichtlich und ergab sich auch aus dem weiter gehenden Antrag, „die entsprechenden Einzelbilder, auf denen die beiden Personen mit dem glänzenden Gegenstand in der Hand zu sehen sind, technisch aufzubereiten und zu vergrößern, damit die Hand mit dem Gegenstand deutlich und größer zu sehen ist”. Dieser Antrag zielte auf eine vorbereitende sachverständige Bearbeitung der Beweismittel ab und machte unmissverständlich deutlich, dass der Beweisantrag auf die Inaugenscheinnahme von Standbildern – sei es als Papierausdrucke, sei es durch Darstellung am Bildschirm oder durch Projektion – gerichtet war, somit auf die Heranziehung und Verwendung eines qualitativ anderen Beweismittels.
b) Der Antrag konnte daher nicht mit der Begründung zurückgewiesen werden, er ziele nur auf eine Wiederholung der Beweisaufnahme ab. Es mangelt hier schon an einer Identität des Beweismittels, denn die Inaugenscheinnahme eines Films – sei es auch in Zeitlupengeschwindigkeit – und diejenige von (vergrößerten) Einzelbildern (Standbildern) haben nicht denselben Beweisgegenstand zum Inhalt, auch wenn eine Filmsequenz notwendig aus einer Abfolge von Einzelbildern besteht; diese können bei der genannten Abspielgeschwindigkeit vielmehr als solche, d.h. als Stand-Bilder gar nicht wahrgenommen werden.
Der Antrag richtete sich somit – was das Landgericht im Ergebnis wohl auch nicht übersehen hat – auf die Herstellung und Auswertung von Augenscheinsobjekten, die bislang nicht Gegenstand der Beweisaufnahme gewesen waren. Die Ablehnung mit der Begründung, die „gefertigten 1.800 Standbilder” seien bereits „allesamt in Augenschein genommen” worden, war vor diesem Hintergrund nicht zulässig.
c) Auch die weitere Begründung, die Kammer habe den beantragten Beweis nicht zu erheben brauchen, „nachdem der Sachverhalt aus Sicht der Kammer hinreichend aufgeklärt ist” (UA S. 63), und die beantragte Beweisaufnahme sei „zum anderen (…) gemäß § 244 Abs. 5 StPO zur Erforschung der Wahrheit auch nicht erforderlich” (ebd.), erweist sich im Ergebnis als nicht tragfähig. Das Landgericht hat hier zwar im Grundsatz zutreffend auf den in § 244 Abs. 5 Satz 1 StPO genannten Maßstab der Sachaufklärungspflicht abgestellt. Danach gilt für einen Antrag auf Augenscheinsbeweis das grundsätzliche Verbot der Beweisantizipation nicht; er kann auch mit der Begründung abgelehnt werden, die Beschaffenheit des Augenscheinsgegenstands stehe auf Grund der schon erhobenen Beweise bereits fest (vgl. Meyer-Goßner, StPO 48. Aufl. § 244 Rdn. 78 mit Nachw. zur Rspr.).
Aus der vom Landgericht gegebenen Begründung ergibt sich aber nicht, dass das Gericht insoweit von einem zutreffenden Maßstab der Erforderlichkeit weiterer Sachaufklärung ausgegangen ist. Die Ansicht, die beantragte Inaugenscheinnahme sei nicht erforderlich, hat das Landgericht vielmehr erneut ausdrücklich auf den Hinweis gestützt, „eine Inaugenscheinnahme der (…) Videokassette sowie der gefertigten 1.800 Standbilder (sei) erfolgt”; andere Personen als der Angeklagte seien „aus den in Augenschein genommenen Filmaufnahmen sowie Bildsequenzen (…) auszuschließen” (UA S. 63). Es bleibt hier schon unklar, was mit dem Begriff „Bildsequenzen” (im Unterschied zu „Filmaufnahmen”) gemeint sein soll. Im Übrigen bleibt unberücksichtigt, dass der Beweisantrag auf eine Inaugenscheinnahme nicht nur der auf der DVD gespeicherten Bilder jeweils als stehende Einzelbilder, sondern von (antragsgemäß) durch einen Sachverständigen „technisch aufbereiteten” Vergrößerungen und daher auf die Auswertung anderer und dem bisher vorliegenden Material überlegener Beweismittel gerichtet war, überdies auf die Inaugenscheinnahme eines nach der Antragsbegründung bislang noch gar nicht ausgewerteten Teils der Aufzeichnung. Die Urteilsgründe lassen nicht erkennen, dass sich das Landgericht dessen bewusst gewesen ist und aus welchem Grunde die beantragte Beweiserhebung nicht zu weiterer Sachaufklärung hätte führen können. Der bloße Hinweis, die bisherige Beweisaufnahme habe ausgereicht und das Gericht sei von der Täterschaft des Angeklagten schon überzeugt, reichte unter den hier gegebenen Umständen nicht aus.
d) Der Senat kann das Beruhen des Urteils auf dem Rechtsfehler nicht ausschließen. Zwar kann, wenn ein Hilfsbeweisantrag in zulässiger Weise erst in den Urteilsgründen beschieden worden ist, das Revisionsgericht die Ursächlichkeit eines Verstoßes gegen § 244 Abs. 5 StPO mit der Begründung verneinen, der Antrag habe mit anderer Begründung rechtsfehlerfrei abgelehnt werden können (BGH, Beschluss vom 21. Oktober 1997 – 1 StR 578/97, NStZ 1998, 98; vgl. Meyer-Goßner aaO § 244 Rdn. 86). Hierfür reicht aber nicht die bloß abstrakte Möglichkeit eines tragfähigen anderen Ablehnungsgrunds. Ein solcher muss sich vielmehr, wenn er nicht offenkundig ist, aus den Urteilsgründen selbst ergeben (vgl. auch BGH, Beschluss vom 30. September 1992 – 3 StR 430/92). Das Revisionsgericht kann die tatrichterliche Abwägung zwischen dem durch die bisherige Beweisaufnahme vermittelten Erkenntnisstand und der in einem Beweisantrag behaupteten weiteren Aufklärungsmöglichkeit nur dann ersetzen, wenn der Antrag vom Tatrichter in seinem Gehalt zutreffend und erschöpfend erfasst wurde. Daran fehlt es hier.
3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass das angefochtene Urteil auch sachlich-rechtlich insoweit nicht frei von Rechtsfehlern ist, als die Schlussfolgerungen des Landgerichts zum subjektiven Vorstellungsbild sowie zur Tatmotivation des Angeklagten und hieran anknüpfend die Annahme des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe von den Feststellungen nicht getragen werden. So bleibt insbesondere unklar, wie das Landgericht zu der Feststellung gelangt ist, der Angeklagte habe mit der Motivation gehandelt, die anderen an der Schlägerei Beteiligten zu „übertrumpfen” (UA S. 10, 64). Hiergegen sprechen schon sonstige Feststellungen des Landgerichts, wonach der Angeklagte die Tötungshandlung versteckt ausführte, sich danach sofort zurück zog und später auch gegenüber anderen Beteiligten die Tat bestritt.
Auch im Übrigen erscheinen die Darlegungen zu den Gedanken und zur Motivation des Angeklagten eher spekulativ; eine Tatsachengrundlage fehlt ihnen. Zwar können grundsätzlich aus dem äußeren Ablauf der Geschehnisse und den näheren Umständen der Tatbegehung Schlüsse auch auf das subjektive Vorstellungsbild des Täters gezogen werden. Mangelt es aber an indiziellen äußeren Tatsachen, so können, wie der Senat schon im Beschluss vom 9. Oktober 2002 – 2 StR 297/02 (NStZ-RR 2003, 49, 50 f.) ausgeführt hat, den Angeklagten belastende Schlussfolgerungen nicht allein auf eine besonders nachdrückliche Darlegung des Tatrichters gestützt werden, er sei „überzeugt”. Wenn der Tatrichter aus einer Mehrzahl möglicher Tatmotivationen und subjektiver Vorstellungen solche feststellen will, deren Annahme den Angeklagten belastet, so darf diese Feststellung nicht nur auf Vermutungen beruhen; ihre Begründung darf sich nicht in der bloßen Behauptung von Plausibilität erschöpfen.
Unterschriften
Rissing-van Saan, Bode, Rothfuß, Fischer, Appl
Fundstellen
Haufe-Index 2554956 |
NStZ 2006, 406 |
StV 2007, 172 |