Leitsatz (amtlich)
›Die Entscheidung, ob das Urteil auf einer Verletzung des § 245 Abs. 1 StPO beruht, kann nur aufgrund aller im Einzelfall in Betracht kommenden Umstände getroffen werden. Eine allgemeine Rechtsregel derart, daß das Beruhen bei der Nichtvernehmung eines Zeugen kaum jemals auszuschließen sei, gibt es nicht.‹
Verfahrensgang
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes sowie wegen räuberischen Angriffs auf einen Kraftfahrer in Tateinheit mit schwerem Raub, schwerer räuberischer Erpressung und Freiheitsberaubung zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt; es hat die besondere Schwere der Schuld festgestellt und Maßregeln nach den §§ 69, 69 a sowie § 74 StGB angeordnet.
Die Revision des Angeklagten gegen diese Entscheidung hat keinen Erfolg.
Der Erörterung bedarf lediglich die Verfahrensrüge, das Landgericht habe durch die Nichtvernehmung der Zeugin G. § 245 Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 52 StPO verletzt.
Die vom Vorsitzenden geladene Zeugin G. war zum Hauptverhandlungstermin erschienen, wurde aber darauf hingewiesen, daß ihr ein Zeugnisverweigerungsrecht zustehe, und machte deshalb keine Angaben zur Sache. Tatsächlich hatte die Zeugin aber als Cousine des Angeklagten als lediglich im vierten Grad Verwandte kein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO.
Der Beschwerdeführer trägt vor, die Zeugin G. sei im Verlaufe des Ermittlungsverfahrens zweimal polizeilich vernommen worden. Sie sei keine Tatzeugin, gehöre vielmehr zu dem Personenkreis von dem sich das Gericht nähere Aufklärung über die Person und die Persönlichkeit des Angeklagten erhofft habe. Sie sei bereits von der Polizei darüber befragt worden; das Gericht habe es für erforderlich gehalten, sie hierzu in der Hauptverhandlung zu vernehmen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, daß die Zeugin, zu Eigenheiten und Eigenarten des Angeklagten befragt, Dinge berichtet hätte, die die Persönlichkeit des Angeklagten in ein milderes Licht gerückt hätten und daß das Gericht nach der gemäß § 57 a StGB gebotenen Gesamtwürdigung bei der Entscheidung über das Vorliegen besonderer Schwere der Schuld zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.
In der Hauptverhandlung hat der Verteidiger seinen Vortrag dahin ergänzt, nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils habe der Angeklagte in der Hauptverhandlung die Vorgeschichte der Tat und die Tat selbst in einer Weise geschildert, die den Verdacht von Wahnvorstellungen aufkommen lasse. Es sei möglich, daß Angaben der Zeugin G. diesen Verdacht erhärtet hätten.
1. Der Senat hat bereits Bedenken, ob die Verteidigung in ihrer Revisionsbegründung in dem gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gebotenen Umfang Tatsachen vorgetragen hat, die dem Revisionsgericht die Prüfung ermöglichen, ob das Urteil auf dem geltend gemachten Verfahrensfehler beruhen kann (vgl. BGHSt 30, 131, 135). Der Revisionsführer hat in Konsequenz seines Standpunktes, daß generell kaum je auszuschließen sei, daß die unter Verstoß gegen § 245 Abs. 1 StPO unterbliebene Anhörung von Zeugen einen Einfluß auf das Urteil haben kann, weder vorgetragen, zu welchen Beweisthemen die Zeugin im Ermittlungsverfahren im einzelnen gehört wurde, noch angegeben, welche von der Zeugin in der Hauptverhandlung zu bekundenden Tatsachen für die Entscheidung bedeutsam gewesen wären.
Der Senat vertritt hingegen die Ansicht, daß die Fragen, ob ein Urteil auf der unterbliebenen Vernehmung eines Zeugen beruhen kann, auch bei einem Verstoß gegen § 245 Abs. 1 StPO unter Berücksichtigung aller Umstände zu prüfen ist. Zu diesen Umständen gehören insbesondere die Urteilsgründe und das dort niedergelegte Beweisergebnis sowie die Verfahrensvorgänge, aus denen sich Anhaltspunkte dafür ergeben können, welche Bedeutung die Zeugenaussage für die Entscheidung des Gerichts hätte erlangen können.
Geht man hiervon aus, dann muß mit der Revision vorgetragen werden, zu welchen Beweisthemen der Zeuge im Ermittlungsverfahren bisher vernommen wurde und zu welchen Tatsachen er nach Aktenlage bei seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung Angaben machen sollte (vgl. BGH, Urt. v. 24. Oktober 1972 - 1 StR 277/72; andererseits aber auch BGH bei Dallinger MDR 1966, 199 f).
2. Die Frage nach der Zulässigkeit der Rüge muß hier aber nicht abschließend entschieden werden, denn die Verfahrensrüge ist - ihre Zulässigkeit unterstellt - jedenfalls unbegründet.
Die Hinnahme der Zeugnisverweigerung und die darauf zurückzuführende Nichtvernehmung zur Sache verstieß zwar gegen § 245 Abs. 1 StPO. Es kann aber sicher ausgeschlossen werden, daß das Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht.
Das Reichsgericht hat aus der Tatsache, daß die Vernehmung eines vom Gericht vorgeladenen und erschienenen Zeugen nicht mit der Begründung abgelehnt werden darf, ein erhebliches Ergebnis sei von der Vernehmung nicht zu erwarten, den Schluß gezogen, daß sich das Revisionsgericht bei der Entscheidung über die Beruhensfrage bei § 245 Abs. 1 StPO äußerste Zurückhaltung auferlegen müsse. Die Rückschau (in der Beurteilung der Bedeutung eines Beweismittels) sei kaum minder unsicher als die Voraussicht (RGSt 65, 305, 308). Auch der Bundesgerichtshof hat - vornehmlich in früherer Zeit - die Ansicht vertreten, Sinn und Zweck des § 245 Abs. 1 StPO verbiete es grundsätzlich auch dem Revisionsgericht, seinerseits die Unerheblichkeit des Beweismittels festzustellen; er hat aber Ausnahmen von diesem Grundsatz zugelassen (vgl. Urt. v. 11. Dezember 1974 - 3 StR 323/73). Selbst in Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, die davon ausgingen, daß bei einem Verstoß gegen § 245 Abs. 1 StPO kaum jemals mit Sicherheit auszuschließen sei, daß das Urteil auf der unterlassenen Vernehmung des Zeugen beruhe, wurde die Beruhensfrage konkret geprüft (BGH, Beschl. v. 14. September 1973 - 5 StR 318/73).
Bei der Frage, ob ein Urteil auf einer Gesetzesverletzung beruht, handelt es sich um die Prüfung eines ursächlichen Zusammenhanges, für dessen Bejahung oder Verneinung es keine wissenschaftlichen Erfahrungssätze gibt. Aus diesem Grunde kann die genannte Frage auch nur aufgrund aller im Einzelfall in Betracht kommenden Umstände aus tatsächlichen Gründen beantwortet werden und nicht mit Hilfe einer allgemeinen Rechtsregel (vgl. RGSt 45, 138, 143). Das gilt auch für die Beruhensprüfung bei einer Verletzung des § 245 Abs. 1 StPO. Sowohl der Wortlaut als auch der Sinn und Zweck der Vorschrift lassen keine andere Beurteilung zu. § 337 Abs. 1 StPO gilt uneingeschränkt. Die Gesetzeslage, nach der der Tatrichter die Vernehmung eines präsenten Zeugen nicht mit der Begründung ablehnen darf, der Zeuge werde voraussichtlich nichts bekunden können, was für die Entscheidung bedeutsam werden könne, vermag weder den Rechtssatz zu begründen, daß nach einer fehlerhaften Anwendung von § 245 Abs. 1 StPO eine Beruhensprüfung grundsätzlich zu unterbleiben habe, noch läßt sie den Schluß zu, daß ein Beruhen des Urteils regelmäßig nicht auszuschließen sei. Verfahrensvorschriften über die Beweisaufnahme sind nicht Selbstzweck, sondern dienen der Wahrheitsfindung. Ihre Verletzung führt deshalb nach einer Verfahrensrüge nicht zwangsläufig zur Urteilsaufhebung, sondern nur dann, wenn nicht auszuschließen ist, daß die Wahrheitsfindung beeinträchtigt wurde. So hat der Bundesgerichtshof auch nach einem Verstoß gegen § 245 Abs. 1 StPO wiederholt ein Beruhen des Urteils auf diesem Fehler verneint (vgl. BGH, Beschl. v. 12. Juli 1995 - 5 StR 303/95; Urt. v. 10. August 1990 - 3 StR 475/89 = BGHR StGB § 129 a Abs. 1 - Vereinigung 1; Urt. v. 23. November 1965 - 5 StR 457/65).
Wird ein Zeuge vom Gericht zur Hauptverhandlung geladen, so spricht zunächst eine Vermutung dafür, daß seine Aussage geeignet ist, zur Wahrheitsfindung beizutragen und den Inhalt des Urteils zu beeinflussen. Diese Vermutung kann indessen später widerlegt werden, auch wenn der Zeuge unter Verstoß gegen die Verfahrensvorschrift des § 52 StPO deshalb nicht vernommen wurde, weil das Gericht ihm fehlerhaft ein Zeugnisverweigerungsrecht zugebilligt hat. Dabei kann es für die Beurteilung keinen Unterschied machen, ob der Zeuge vor Gericht erschienen war oder unter Berufung auf sein vermeintliches Zeugnisverweigerungsrecht der Verhandlung mit Zustimmung des Gerichts fernblieb (BGHSt 21, 12, 13; BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Unerreichbarkeit 17). Wird einem vom Gericht geladenen und erschienenen Zeugen zu Unrecht ein Zeugnisverweigerungsrecht zugebilligt, dann unterbleibt seine Vernehmung zur Sache im übrigen weder aufgrund einer gemäß § 245 Abs. 1 StPO unzulässigen Bewertung der Beweistatsache als bedeutungslos, noch lehnt das Gericht die Beweiserhebung aus einem anderen in § 244 Abs. 3 StPO genannten Grunde ab, der bei § 245 Abs. 1 StPO nicht herangezogen werden dürfte. Es besteht deshalb kein Grund, die fehlerhafte Annahme eines Zeugnisverweigerungsrechts bei einem nach § 245 Abs. 1 StPO erschienenen Zeugen anders zu beurteilen als bei einem aufgrund eines Beweisantrags geladenen, aber nicht erschienenen Zeugen.
Erfolgt die Ladung des Zeugen aufgrund eines Beweisantrags, dann kann aufgrund des Antrags regelmäßig ermittelt werden, ob die in das Wissen des Zeugen gestellte Tatsache möglicherweise zu einer anderen Entscheidung des Gerichts geführt hätte. Wurde der Zeuge vom Gericht ohne entsprechenden Beweisantrag geladen, dann muß das "Beweisthema" das der Prüfung der Beruhensfrage zugrunde zu legen ist, auf andere Weise ermittelt werden. Wurde der Zeuge im Ermittlungsverfahren bereits vernommen, dann kann in der Regel davon ausgegangen werden, daß er in der Hauptverhandlung zu denselben Fragen gehört werden sollte, die bereits Gegenstand seiner früheren Vernehmung waren. Auch der Inhalt des Vernehmungsprotokolls im übrigen kann für die Eingrenzung des "Beweisthemas" und für die Beruhensprüfung herangezogen werden.
In Anwendung dieser Grundsätze kommt der Senat zu dem Ergebnis, daß eine Vernehmung der Zeugin G. die tatrichterliche Entscheidung nicht beeinflußt hätte. Die Zeugin war nur eine von mehreren Personen, die im Ermittlungsverfahren zur Person des Angeklagten - nicht zur Tat - befragt worden und zur Hauptverhandlung geladen worden waren. Die Zeugin lebte mit dem Angeklagten nicht zusammen, sondern hatte als seine Cousine nur gelegentlich Kontakte zu ihm. Sie wurde z.B. gefragt, wo seine Geschwister wohnen, welche Freunde und Freundinnen er habe, wie seine finanzielle Situation sei, wo er arbeite und was er für ein "Typ" sei. Auch ob der Angeklagte Reitsport betreibt und Fachkenntnisse im Fertigen von Knoten besitze (das Opfer war gefesselt worden), war Gegenstand der Vernehmung.
Diese Fragen waren - wie die Urteilsgründe zweifelsfrei ergeben - für die Entscheidung des Gerichts ohne Bedeutung. Sie stehen mit dem Schuldspruch in keinem Zusammenhang und konnten die Rechtsfolgenentscheidung nicht beeinflussen. Zudem wurden mehrere andere Personen aus dem Umfeld des Angeklagten zu seiner Persönlichkeit gehört. Das Landgericht hat zudem ausführlich begründet, warum es eine besonders schwere Schuld im Sinne des § 57 a StGB bejaht hat. Dabei hat es zugunsten des Angeklagten berücksichtigt, daß er bisher noch nicht bestraft wurde und seine Persönlichkeitsreifung nicht ganz abgeschlossen ist. Zu Lasten hat es vor allem die besonders brutale Art der Tatausführung gewertet. Der Angeklagte hielt sein Opfer, bevor er es erdrosselte, viereinhalb Stunden lang in seiner Gewalt. Er fuhr mit dem Pkw des Opfers umher, während dieses so gefesselt auf dem Boden vor den Rücksitzen lag, daß es sich bei jeder unvorsichtigen Bewegung selbst strangulieren mußte. Diese und weitere Feststellungen des Landgerichts zum Tatgeschehen belegen eine besonders menschenverachtende und unbarmherzige Gesinnung des strafrechtlich voll verantwortlichen Angeklagten. Es ist auszuschließen, daß Angaben der unter Verstoß gegen § 245 Abs. 1 StPO in der Hauptverhandlung nicht vernommenen Zeugin über frühere Erfahrungen mit der Persönlichkeit des Angeklagten die Bewertung der Schuldschwere hätten beeinflussen können.
Fundstellen
Haufe-Index 2993382 |
NJW 1996, 1685 |
BGHR StPO § 245 Abs. 1 Beruhen 1 |
DRsp IV(460)171-3a |
NStZ 1996, 400 |
MDR 1996, 624 |
VRS 91, 475 |
StV 1997, 170 |