Entscheidungsstichwort (Thema)
Mord
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 6. Juli 1998 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
– Von Rechts wegen –
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Mordes zum Nachteil seiner Großtante freigesprochen. Hiergegen richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft mit der Sachrüge. Die Revision hat Erfolg.
I.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts wurde die wohlhabende 84-jährige Großtante des verschuldeten Angeklagten in den Abendstunden des 25. November 1997 in ihrer Wohnung in Berlin-Spandau durch mehrere Messerstiche in den Oberkörper getötet. Der Täter täuschte nach der Tat einen Raubmord vor, indem er im Wohnzimmer und im Küchenvorraum Schranktüren öffnete, Schubkästen herauszog und deren Inhalt wahllos auf dem Fußboden verstreute, ohne systematisch nach Geld oder Wertsachen zu suchen. Diversen Schmuck und Bargeld in Höhe von über 30.000 DM ließ der Täter in der Wohnung zurück. Das Opfer wurde erst am Abend des 2. Dezember 1997 aufgefunden.
Das Landgericht konnte sich nicht davon überzeugen, daß der – die Tat abstreitende – Angeklagte, der seine Großtante am Tattag nachmittags bis 20.00 Uhr besucht hatte, der Täter war.
2. Das Landgericht ist davon ausgegangen, daß nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten ein ganz erheblicher Tatverdacht bestehe. Das Opfer sei äußerst mißtrauisch und vorsichtig gewesen und habe Fremde nicht in die Wohnung eingelassen, schon gar nicht nach 20.00 Uhr. Das Tatbild belege, daß das Opfer den Täter gekannt und ihn in die Wohnung eingelassen habe. Die aus den Spuren am Tatort abgeleiteten wahrscheinlichen Positionen – ein auf der Couch sitzendes Opfer und ein ihr gegenüber sitzender Täter – hätten der Situation entsprochen, wie sie der Angeklagte über seinen Besuch geschildert habe. Die Vielzahl und rasche zeitliche Abfolge der dem Opfer zugefügten Stiche sprächen für eine in großer Erregung spontan begangene Beziehungstat, bei der im Nachhinein durch das Vortäuschen eines Raubmordes falsche Spuren gelegt worden seien. Der Angeklagte sei innerlich stark erschüttert gewesen und habe am Tag nach der Tat einen ernst gemeinten Suizidversuch unternommen und Abschiedsbriefe verfaßt. Ein nie beim Adressaten angekommener und später nicht mehr aufgefundener Abschiedsbrief sei an die Polizei gerichtet gewesen. Auch spreche ganz erheblich gegen den Angeklagten, daß er in einer polizeilichen Vernehmung sichtlich aufgewühlt unter Tränen die Frage des Vernehmungsbeamten, ob man nach einer anderen Person als Täter suchen müsse, mit einem verneinenden Kopfschütteln beantwortet, sich Gedanken zum Strafmaß gemacht und Suizidgedanken geäußert habe.
Als mögliches Motiv, das der Angeklagte für die Tat gehabt haben könnte, erwägt das Landgericht, die Großtante des Angeklagten könne erfahren haben, daß dieser entgegen seinen früheren Angaben arbeitslos gewesen sei und sie darüber getäuscht habe, so daß sie ihm deswegen Vorwürfe gemacht habe; es könne deshalb zu einem heftigen Streit zwischen beiden gekommen sein, in dessen Verlauf die Großtante getötet worden sei.
3. Letztlich vermochte das Landgericht aber nicht auszuschließen, daß die Großtante am 25. November 1997 nach 20.00 Uhr noch einen anderen ihr bekannten Besucher in ihre Wohnung eingelassen habe und von diesem getötet worden sei. Es fehlten verläßliche Beweise dafür, daß der Angeklagte nach heftigem Streit das Opfer getötet habe. Ein länger schwelender Konflikt zwischen dem Angeklagten und seiner Großtante sei nicht erkennbar. Objektive Spuren wie Blut- oder Faseranhaftungen an der Kleidung des Angeklagten lägen nicht vor. Die Tatwaffe sei nicht gefunden worden. Für den Angeklagten spreche, daß er nicht geflohen sei und trotz seiner finanziell bedrängten Lage sich nicht etwa Geld durch Straftaten verschafft habe.
II.
Die Beweiswürdigung hält rechtlicher Prüfung nicht stand.
1. Allerdings muß das Revisionsgericht grundsätzlich hinnehmen, wenn der Tatrichter den Angeklagten freispricht, weil er Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2; BGH StV 1994, 580).
2. Die Beweiswürdigung des Landgerichts weist indessen Lücken auf, denn die Strafkammer hat sich mit einem wesentlichen, den Angeklagten möglicherweise belastenden Indiz nur unzureichend auseinandergesetzt. Freilich können und müssen die Gründe auch eines freisprechenden Urteils nicht jeden irgendwie beweiserheblichen Umstand ausdrücklich würdigen. Das Maß der gebotenen Darlegung hängt von der jeweiligen Beweislage und insoweit von den Umständen des Einzelfalls ab. Dieser kann so beschaffen sein, daß sich die Erörterung bestimmter einzelner Beweisumstände erübrigt. Um einen solchen Fall handelt es sich hier aber nicht. Das Tatgericht hat vielmehr auf Freispruch erkannt, obwohl nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten – so das Landgericht – weiterhin ein ganz erheblicher Tatverdacht besteht. Bei solcher Sachlage muß es in seine Beweiswürdigung und deren Darlegung alle für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände und Erwägungen einbeziehen. Dem wird das angefochtene Urteil nicht in jeder Hinsicht gerecht:
a) Der Angeklagte hat versucht, bei seiner polizeilichen Vernehmung am 4. Dezember 1997 als Zeuge, zwei Tage nach dem Auffinden der Leiche, sich ein falsches Alibi zu besorgen. Er hat Mutter und Schwester als Zeugen angeboten zum Beweis seiner Behauptung, seine Großtante habe am 26. November 1997 – also einen Tag nach seinem Besuch bei ihr – noch gelebt. Damit wollte er bewirken, als (möglicher) Täter nicht in Betracht gezogen zu werden. Das Landgericht hat den Beweiswert dieser falschen Angaben des Angeklagten relativiert, da auch ein Unschuldiger falsche Angaben machen könne, um einen gegen ihn bestehenden Tatverdacht zu entkräften.
b) Diese Erwägung ist im Ansatz durchaus zutreffend und entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Danach ist die widerlegte Alibibehauptung des Angeklagten für sich allein kein Beweisindiz für dessen Täterschaft. Der widerlegten Alibibehauptung kommt nur ein sehr begrenzter Beweiswert zu. Auch ein nachweisbar erlogenes Alibi läßt sich nur mit Vorsicht als Beweiszeichen für die Schuld eines Angeklagten werten, weil auch ein Unschuldiger Zuflucht zur Lüge nehmen kann. Entsprechendes gilt in Fällen der Lüge des Angeklagten zu anderen beweisrelevanten Umständen, einer Fallgruppe, von der die Konstellation der widerlegten (nicht etwa nur fehlgeschlagenen) Alibibehauptung einen Ausschnitt bildet (vgl. BGHSt 41, 153; BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 30 m.w.N.).
c) Der Tatrichter hat indes nicht erörtert, ob und in welchem Umfang von dem Grundsatz, daß auch Unschuldige Zuflucht zu einer Lüge nehmen können (UA S. 80), Ausnahmen zu machen sind. Treten nämlich besondere Umstände hinzu, so darf – und muß gegebenenfalls – auch der Umstand zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt werden, daß dieser sich wahrheitswidrig auf ein Alibi berufen hat, indem er bewußt unwahre Behauptungen aufgestellt hat. Dabei kann es insbesondere auf die Gründe und die Begleitumstände des Vorbringens der Alibibehauptung ankommen (BGHSt 41, 153; BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 30 m.w.N.). Eine nachweisbar erlogene Alibibehauptung kann vor allem dann ein belastendes Indiz sein, wenn sie im Wege der Vorwegverteidigung darauf gerichtet ist, einen den Ermittlungsbehörden noch nicht bekannten Tatumstand zu entkräften, den nur der Täter wissen kann. Solches Täterwissen könnte den Schluß auf die Täterschaft begründen. In Fällen dieser Art ist der Tatrichter gehalten, die Umstände des Vorbringens der falschen Alibibehauptung zu erörtern. Wenn der Angeklagte ein solches falsches Alibi bei seiner Vernehmung im Ermittlungsverfahren behauptet, sind in der Regel – und so auch hier – besondere Begründungsanforderungen an das Urteil zu stellen. Der Tatrichter ist dann gehalten, sich einerseits mit der Aussageentstehung, der Vernehmungstechnik und der Protokollierung (vgl. Nr. 45 Abs. 2 RiStBV) und andererseits mit dem damaligen – etwa durch Vorhalte zustande gekommenen – Informationsstand des Angeklagten und dessen Verteidigungstrategie auseinanderzusetzen.
d) Hier hatte der Angeklagte in seiner polizeilichen Vernehmung vom 4. Dezember 1997 behauptet, vor Zeugen noch am 26. November 1997 mit seiner Großtante telefoniert zu haben. Wäre diese durch objektive Beweisanzeichen widerlegte und ersichtlich erlogene Behauptung zutreffend gewesen, so hätte der Angeklagte damit belegt, daß er die Tat anläßlich seines Besuches am 25. November nicht begangen haben konnte. Im Urteil ist nicht dargetan, daß den Ermittlungsbehörden der Tag der Tat zum Zeitpunkt der ersten Vernehmung des Angeklagten schon bekannt war und daß gegen diesen ein entsprechender Vorwurf bereits erhoben, ein entsprechender Vorhalt gemacht worden war. Für den Fall, daß die Tatzeit den Ermittlungsbehörden zum Zeitpunkt der ersten Vernehmung nicht bekannt war und diese dem Angeklagten auch nicht einen entsprechenden Vorhalt gemacht haben, hätte dies zu näherer Erörterung gedrängt, ob der Angeklagte sich deswegen vorweg gegen einen Vorwurf der Tötung anläßlich seines Besuches verteidigt hat, weil nur er als Täter wissen konnte, daß seine Großtante an diesem Tag getötet wurde. Daß die Tat – zur Überzeugung des Landgerichts (UA S. 63) – in den Abendstunden des 25. Novembers 1997 begangen wurde, stellte sich erst nach einer umfangreichen Beweisaufnahme heraus. Eine Erwägung, ob sich der Angeklagte möglicherweise mit Täterwissen vorweg verteidigt hat, enthält das angefochtene Urteil nicht. Das Landgericht hat deshalb auch nicht geprüft, ob eine andere – für einen Unschuldigen plausible – Erklärung für die Lüge über das Telefonat am 26. November 1996 denkbar ist. Diese lückenhafte Beweiswürdigung stellt einen Rechtsfehler dar, auf dem das Urteil beruht.
Unterschriften
Harms, Häger, Basdorf, Nack, Gerhardt
Fundstellen
Haufe-Index 541082 |
NJW 1999, 3208 |
NStZ 1999, 423 |