Leitsatz (amtlich)
›Eine weitere - unbefristete - Sicherungsverwahrung darf auch dann angeordnet werden, wenn die erste Sicherungsverwahrung, auf die in einem früheren Verfahren erkannt worden ist, noch nicht vollzogen wurde.‹
Verfahrensgang
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten durch insoweit rechtskräftiges Urteil vom 20. November 1992 wegen Diebstahls in 51 Fällen und versuchten Diebstahls in zwei Fällen unter Einbeziehung von zwei früher verhängten Strafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Ferner hat es die Sicherungsverwahrung des Angeklagten angeordnet. Hinsichtlich dieser Anordnung hat der Senat das Urteil auf die Revision des Angeklagten aufgehoben, weil die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 StGB, auf den die Maßregel gestützt war, nicht vorlagen. Die aufgrund der Zurückverweisung der Sache zuständige Strafkammer hat - nunmehr gestützt auf § 66 Abs. 2 StGB - erneut die Sicherungsverwahrung des Angeklagten angeordnet.
Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts rügt.
Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Näherer Erörterung bedarf nur folgendes:
1. Die verfassungsrechtlichen Bedenken der Revision gegen die unbegrenzte Dauer der zweiten Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 67d Abs. 1 StGB) vermag der Senat nicht zu teilen. Das gilt - entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers - auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafe vom 3. Juni 1992 (BVerfGE 86, 288).
2. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß die gegen den Angeklagten im Jahre 1984 angeordnete Sicherungsverwahrung, deren Vollzug im Jahre 1989 zur Bewährung ausgesetzt wurde, nach dem Widerruf der Aussetzung im Jahre 1991 noch zum Vollzug ansteht.
Nach übereinstimmender Meinung in Rechtsprechung (BGH bei Dallinger MDR 1956, S. 525 f. m.w.N. zu unveröffentlichten Entscheidungen; RGSt 70, 201, 203 f.; OLG Hamm MDR 1966, 166) und Schrifttum (Hanack in LK StGB 11. Aufl. § 66 Rdn. 170, 173; Stree in Schönke/Schröder StGB 24. Aufl. § 66 StGB Rdn. 65; Dreher/Tröndle StGB 47. Aufl. § 66 Rdn. 19) ist, wenn gegen einen Angeklagten bereits rechtskräftig auf Sicherungsverwahrung erkannt, diese aber noch nicht (oder noch nicht vollständig) vollstreckt ist, dies kein Grund, in einem späteren Verfahren von einer erneuten Anordnung abzusehen. Daran ist im Ergebnis festzuhalten.
a) Allerdings vermögen die für diese Auffassung bisher angeführten Gründe nicht zu überzeugen: Kein tragfähiges Argument ist zunächst, daß die frühere rechtskräftige Anordnung der Sicherungsverwahrung wegfallen könne (so aber RGSt 70, 201, 204; OLG Hamm MDR 1966, 166, Hanack und Stree, jeweils aaO.). Soweit rechtskräftige Urteile für Entscheidungen in anderen Verfahren von Bedeutung sein können, ist grundsätzlich von deren Bestand auszugehen. Die zweite Anordnung der Sicherungsverwahrung läßt sich auch nicht damit begründen, daß auf diese Weise auch das zweite Gericht (als Strafvollstreckungsgericht) einen Einfluß auf die Dauer der Sicherungsverwahrung erlange und somit der Verurteilte nur dann aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden könne, wenn beide Strafvollstreckungsgerichte die Entlassung übereinstimmend anordneten (so RGSt 70, 201, 204; BGH bei Dallinger MDR 1956, S. 525; OLG Hamm MDR 1966, 166). Diesen Erwägungen ist schon deswegen die Grundlage entzogen, weil seit den Änderungen des Vollstreckungsrechts durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2. März 1974 (BGBl. I 469) für die Entscheidungen über die Aussetzung der Unterbringung nur noch eine Strafvollstreckungskammer zuständig ist, nämlich die, in deren Bezirk die Strafanstalt liegt, in der die Unterbringung vollzogen wird (§§ 462a, 463 StPO, § 78a GVG). Ob das Argument im übrigen tragfähig wäre, mag daher auf sich beruhen.
b) Für die Zulässigkeit einer erneuten Anordnung der Sicherungsverwahrung bei noch ausstehendem Vollzug einer bereits rechtskräftig angeordneten Unterbringung spricht aber, daß das Gesetz, wie der Umkehrschluß aus § 67f StGB ergibt, grundsätzlich von der Möglichkeit mehrfacher Anordnungen einer Maßregel ausgeht; Gründe, die für die Sicherungsverwahrung eine Ausnahme von diesem Grundsatz verlangten, sind nicht ersichtlich.
Das gilt auch unter Berücksichtigung der Höchstdauer von zehn Jahren, die § 67d Abs. 1 S. 1 StGB für die erste Unterbringung in der Sicherungsverwahrung festlegt. Diese - durch das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 4. Juli 1969 (BGBl. I 717) und damit erst nach den zitierten Entscheidungen eingeführte - Regelung gibt allerdings Anlaß, die Zulässigkeit mehrfacher Anordnungen von Sicherungsverwahrungen zu überprüfen. Sie könnte gegen die Möglichkeit einer erneuten Anordnung vor Vollzug der ersten Sicherungsverwahrung sprechen, wenn ihr Sinn und Zweck nur damit erklärt werden könnte, daß die besonders einschneidende und schwerwiegende unbefristete Sicherungsverwahrung erst dann in Betracht kommen soll, wenn sich gezeigt hat, daß sich der Hangtäter auch durch den Vollzug der ersten, noch befristeten Sicherungsverwahrung, die er bereits in aller Eindringlichkeit kennengelernt hat, nicht hat beeindrucken lassen (vgl. BTDrucks. 7/2222, S. 3). Diese Erklärung würde aber die Bedeutung des § 67d Abs. 1 S. 1 StGB für die Sicherungsverwahrung unnötig beschränken. Sie vernachlässigt die der bloßen Anordnung der ersten befristeten Unterbringung zukommende Warnfunktion: Tatsächlich soll die unbefristete Sicherungsverwahrung erst (aber auch schon) dann angeordnet werden können, wenn dem Verurteilten zuvor durch die Anordnung einer 10jährigen Sicherungsverwahrung eindringlich vor Augen geführt wurde, daß ihm bei weiteren Straftaten die unbefristete Unterbringung droht, und er sich gleichwohl nicht von weiteren Taten hat abhalten lassen. Bei dieser Deutung ergeben sich aus § 67d Abs. 1 S. 1 StGB keine Bedenken gegen die Anordnung einer weiteren Sicherungsverwahrung vor Vollzug der ersten.
Die andere Auslegung hätte im übrigen kaum zu bewältigende Abgrenzungsschwierigkeiten zur Folge: Einleuchtende Kriterien für die Entscheidung, ob die zweite - unbefristete - Sicherungsverwahrung erst nach vollständigem (also zehnjährigem) Vollzug der ersten Sicherungsverwahrung angeordnet werden dürfte oder schon nach einem teilweisen Vollzug - gegebenenfalls nach welcher Dauer -, lassen sich dem Gesetz nicht entnehmen und sind auch sonst nicht ersichtlich.
3. Hinsichtlich der formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB war aufgrund des insoweit rechtskräftigen Urteils vom 20. November 1992 von folgenden Einzelstrafen auszugehen: Der Angeklagte ist in 40 Fällen zu Einzelfreiheitsstrafen von jeweils einem Jahr oder mehr (4 mal 1 Jahr und sechs Monate, 36 mal 1 Jahr) verurteilt worden und in 13 Fällen zu Einzelfreiheitsstrafen von jeweils weniger als einem Jahr; hinzu kommen die zwei einbezogenen Einzelfreiheitsstrafen von ebenfalls jeweils weniger als einem Jahr.
Bei diesem Sachverhalt hat die Strafkammer im Ergebnis zu Recht angenommen, daß der Angeklagte - wie § 66 Abs. 2 StGB es voraussetzt - (erstens) drei vorsätzliche Straftaten begangen hat, durch die er jeweils Freiheitsstrafen von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und daß er (zweitens) wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu zeitiger Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt wird. Hinsichtlich der zweiten dieser Voraussetzungen sind die Ausführungen des angefochtenen Urteils allerdings nicht frei von Rechtsfehlern.
Nach Auffassung der Strafkammer ist bei der Prüfung, ob der Angeklagte "wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu zeitiger Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt (wird)", eine (hypothetische) Gesamtstrafe zu bilden. Ob dabei - wie sie in Erwägung zieht - alle 53 Einzelstrafen wegen der jetzt abgeurteilten Taten zugrunde zu legen seien oder aber nur drei Einzelfreiheitsstrafen von mehr als einem Jahr, läßt die Strafkammer offen: Nach ihrer Bewertung wäre - insbesondere mit Blick auf die angerichteten Schäden und die erheblichen Vorbelastungen des Angeklagten - auch aus nur drei Einzelfreiheitsstrafen von jeweils einem Jahr und sechs Monaten auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als drei Jahren zu erkennen gewesen.
Diese Überlegungen des Landgerichts sind zwar in ihrem Ausgangspunkt zutreffend: Da tatsächlich keine Gesamtstrafe aus den verwirkten "Freiheitsstrafen von mindestens einem Jahr" gebildet worden ist, bedarf es der Bildung einer hypothetischen Gesamtstrafe (vgl. Dreher/Tröndle aaO. § 66 Rdn. 10). Entgegen der Auffassung der Strafkammer sind bei deren Bemessung aber weder alle Strafen (einschließlich solcher von weniger als einem Jahr) noch nur drei Strafen von mehr als einem Jahr zu berücksichtigen. Vielmehr sind - ausgehend von dem Wortlaut des § 66 Abs. 2 wie auch mit Blick auf den Sinn und Zweck der Vorschrift - bei der Bildung der hypothetischen Gesamtstrafe alle gesamtstrafenfähigen Einzelstrafen von einem Jahr oder mehr einzubeziehen, hier also 40 Einzelstrafen. Die Freiheitsstrafen von weniger als einem Jahr haben dagegen außer Betracht zu bleiben.
Auf dem Rechtsfehler beruht das angefochtene Urteil indes nicht. Der Senat kann - aus den vom Landgericht dargelegten Gründen - ausschließen, daß der erste Tatrichter ausgehend von einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten als Einsatzstrafe sowie den weiter verwirkten 39 Einzelfreiheitsstrafen von einem Jahr oder mehr unter Berücksichtigung aller erheblichen Gesichtspunkte auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von weniger als drei Jahren erkannt hätte.
Fundstellen
Haufe-Index 2993354 |
NJW 1995, 3263 |
wistra 1996, 19 |
MDR 1995, 1245 |
StV 1996, 541 |