Rn 16
Nach dem Wortlaut des § 127 Abs. 1 Satz 2 entfällt die Bindungswirkung, soweit sich die Sachlage nach dem Schluss der letzten mündlichen Verhandlung wesentlich geändert hat.
2.6.1 Wesentliche Änderung der Sachlage
2.6.1.1 Änderung der Sachlage
Rn 17
Eine Änderung der Sachlage liegt immer dann vor, wenn neue Tatsachen entstanden sind. Eine Gesetzesänderung oder die Änderung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung genügt für sich genommen nicht. Dass neue Beweismittel zur Verfügung stehen, ist ebenfalls nicht ausreichend. Die Darlegungs- und Beweislast für den Wegfall der Bindungswirkung trägt im Kündigungsschutzprozess der Arbeitnehmer.
2.6.1.2 Wesentlichkeit der Änderung
Rn 18
Wesentlich ist die Änderung, wenn die neu eingetretene Tatsache so gewichtig ist, dass sie im Verfahren nach § 126 eine andere Entscheidung hätte herbeiführen können, wäre sie dort berücksichtigt worden. Zwar wird für die Wesentlichkeit gemeinhin verlangt, dass im Verfahren nach § 126 nicht nur die Entscheidung bezüglich einiger Arbeitnehmer, sondern die Entscheidung insgesamt anders ausgefallen wäre. Dies ist jedoch nicht überzeugend. Denn es ist völlig unklar, nach welchen Maßstäben eine derartige "Gesamtunrichtigkeit" beurteilt werden soll. Eine solche Rechtsunsicherheit ist nicht hinnehmbar. Die Bindungswirkung kommt einer Rechtskraftwirkung gleich, weil die Gerichte im Kündigungsschutzprozess nicht anders entscheiden dürfen als im Verfahren nach § 126. Die Voraussetzungen, unter denen diese Rechtskraftwirkung wieder entfällt, müssen klar umrissen sein. Dies folgt daraus, dass es Aufgabe des Gesetzgebers ist, Umfang und Reichweite der Rechtskraft möglichst präzise zu regeln.
2.6.1.3 Beispiele
Rn 19
In Anlehnung an die Rechtsprechung zu den beinahe wortgleich formulierten § 125 Abs. 1 Satz 2 und § 1 Abs. 5 S. 3 KSchG liegt eine wesentliche Änderung vor, wenn der Insolvenzverwalter einen Beschluss zur Betriebsstillegung, auf den im Verfahren nach § 126 die Betriebsbedingtheit der Kündigung gestützt wurde, widerruft, weil er doch noch einen Betriebserwerber gefunden hat. Ferner kann eine wesentliche Änderung auch dann gegeben sein, wenn sozial schutzwürdigere Arbeitnehmer ihre Arbeitsverhältnisse durch Eigenkündigungen beendet haben und dies Auswirkungen auf die Sozialauswahl hinsichtlich der übrigen Arbeitnehmer hat.
Rn 20
Fraglich ist, was gilt, wenn sich herausstellt, dass weniger Arbeitnehmer als zunächst gedacht entlassen werden müssen. Dass dies immer eine wesentliche Änderung der Sachlage darstelle, kann in dieser Allgemeinheit nicht gesagt werden. Richtig ist vielmehr, dass sich die Sachlage nur dann wesentlich geändert hat, wenn sich die Zahl der zur Kündigung vorgesehenen Arbeitnehmer erheblich, also mehr als nur geringfügig, verringert hat. Wann diese Voraussetzung erfüllt ist, ist eine Frage des Einzelfalls, wobei als Orientierung die Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG herangezogen werden können. So genügt es für die Annahme einer wesentlichen Änderung der Sachlage noch nicht, wenn von 47 Filialen nicht – wie beabsichtigt – 24, sondern lediglich 22 geschlossen werden.
Rn 21
Ebenfalls keine wesentliche Veränderung der Sachlage liegt vor, wenn ein Arbeitsplatz frei geworden ist, auf dem ein zu kündigender Arbeitnehmer beschäftigt werden kann.
2.6.2 Nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung
Rn 22
Die wesentliche Änderung der Sachlage muss nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung eingetreten sein. Mit dem Schluss der mündlichen Verhandlung ist der Anhörungstermin im Verfahren nach § 126 gemeint, in dem letztmalig Tatsachen vorgetragen werden konnten. Hat es im Verfahren nach § 126 nur eine Instanz gegeben, weil das Arbeitsgericht die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen hat oder sie nicht eingelegt worden ist, ist der letzte von dem Arbeitsgericht durchgeführte Anhörungstermin der Schluss der mündlichen Verhandlung. Hat das Arbeitsgericht im Verfahren nach § 126 ohne mündliche Anhörung entschieden, entspricht der Tag, an dem der Vorsitzende und die ehrenamtlichen Richter...