Rn 3

Nach der Wertung des Gesetzgebers kommen die erleichterten Anfechtungsvoraussetzungen des § 131 dann zum Zuge, wenn Insolvenzgläubiger Sicherungen oder Befriedigungen abweichend von der ursprünglichen Vereinbarung oder ohne jede Vereinbarung erlangen. Für die zu treffende Einordnung in § 130 oder § 131 ist daher der Blick zunächst auf den Inhalt des Kausalgeschäfts zu richten.[2] Sollte das Tatbestandsmerkmal der Inkongruenz nicht mit hinreichender Sicherheit nachweisbar sein, kommt eine Anfechtung nach § 130 als Quasi-Auffangtatbestand in Betracht.[3]

 

Rn 4

Für die im Einzelfall zu treffende Entscheidung, ob eine inkongruente Deckung vorliegt, haben sich im Laufe der Rechtsprechung für die Praxis maßgebliche Fallgruppen herausgebildet, die nachfolgend in den Unterarten der Inkongruenz beschrieben werden.

 

Rn 5

Eine exakte Eingrenzung der Inkongruenz außerhalb der – teilweise nunmehr eindeutig geklärten – Fallgruppen, die Frage also, wann eine hinreichende Abweichung der Deckung vom schuldrechtlichen Anspruch vorliegt, lässt sich allgemein nicht formulieren.[4] Ein entscheidendes Kriterium für die Einordnung einer Abweichung als inkongruent ist jedoch im Zweck der erleichterten Anfechtbarkeit zu sehen: Tritt die Gläubigerbenachteiligung deutlich zutage, ist der Gläubiger vermindert schutzbedürftig und seine Begünstigung gegebenenfalls sogar strafbewehrt.[5]

[2] Kübler/Prütting-Paulus, § 131 Rn. 4 der auf den "Pflichtenplan" des Schuldgrundes abstellt.
[3] MünchKomm-Kirchhof, § 130 Rn. 5.
[4] Für die Praxis wenig hilfreich ist die Aussage, dass "geringfügige Abweichungen" zwischen Anspruch und Deckung nicht schaden, so MünchKomm-Kirchhof, § 131 Rn. 11.
[5] Eine Strafbarkeit kommt unter den Voraussetzungen des § 283c StGB (Gläubigerbegünstigung) in Betracht.

1.1 Nicht zu beanspruchende Deckung

 

Rn 6

Eine Deckung ist nicht zu beanspruchen, wenn der Gläubiger überhaupt keinen Anspruch gegen den Insolvenzschuldner auf die von ihm erbrachte Leistung hat. Unterarten der Deckung sind Befriedigung und Sicherung.

1.1.1 Nicht zu beanspruchende Befriedigung

 

Rn 7

Eine Befriedigung, die nicht beansprucht werden kann, liegt dann vor, wenn der Gläubiger keinen durchsetzbaren Anspruch hierauf hat. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Gläubiger zwar eine Forderung gegen den Schuldner hat, Befriedigung aus dieser aber dann nicht hätte erlangen können, wenn der Schuldner ihm zustehende (Gegen-)Rechte (rechtzeitig) geltend gemacht hätte. Darunter fallen alle Forderungen, denen eine dauerhafte Einrede entgegensteht, auf die sich der Schuldner aber nicht beruft.[6]

 

Rn 8

Gleiches gilt, wenn einem Gläubiger Befriedigung gewährt wird, obwohl das zugrunde liegende Rechtsgeschäft zivilrechtlich anfechtbar ist.[7] Konsequenterweise fallen dann auch wegen Formmangels nichtige, aber durch Erfüllung heilbare Rechtsgeschäfte (§ 311b Abs. 1 Satz 2 BGB) hierunter,[8] da der dahinter stehende Rechtsgedanke der gleiche ist: Der Schuldner hätte sich auch hier nicht auf die Erfüllung einlassen müssen; indem er es dennoch tat, ist es zum Rechtsverlust zu Lasten der übrigen Gläubiger gekommen, was die Anwendbarkeit des § 131 rechtfertigt.

[6] Mohrbutter/Mohrbutter-Ernestus, Rn. VII.135 für den Fall der Verjährungseinrede.
[7] Uhlenbruck-Hirte, § 131 Rn. 4.
[8] MünchKomm-Kirchhof, § 131 Rn. 14; HK-Kreft, § 131 Rn. 8; Nerlich/Römermann-Nerlich, § 131 Rn. 16; Kilger/K. Schmidt, KO § 30 Anm. 19a; a.A. Kübler/Prütting-Paulus, § 131 Rn. 6; Häsemeyer, Rn. 21.57; zweifelnd auch Uhlenbruck-Hirte, § 131 Rn. 4.

1.1.1.1 Befriedigung im Wege der Zwangsvollstreckung oder unter Vollstreckungsdruck

 

Rn 9

Einen in der Praxis häufig anzutreffenden Sonderfall der Befriedigung stellt die Erlangung von Zahlungen oder Sicherungen im Wege der Zwangsvollstreckung dar. Hierunter fallen zunächst diejenigen Gläubiger, denen es nach Titulierung ihrer Forderung nach zeitaufwändiger Beschreitung des Klageweges noch gelingt, durch Pfändungsmaßnahmen Sicherungen am Vermögen des Insolvenzschuldners oder gar Zahlungen durch den Schuldner bzw. Drittschuldner zu erlangen. Anfechtungsrelevant sind jedoch vor allem diejenigen Fälle bei denen Gläubiger beteiligt sind, die sich einen Titel selbst schaffen und durch eigene Vollstreckungsbeamte vollstrecken lassen können. Diese Gläubiger – überwiegend die örtlichen Krankenkassen und Finanzämter – haben hier einen Vorsprung im Wettlauf der Zwangsvollstreckung. Dieser Vorrang des schnelleren Gläubigers entspricht der gesetzlichen Wertung in der Zwangsvollstreckung, angeordnet durch § 804 Abs. 2 ZPO. Entsprechend dem Zweck des § 131 sollen im Rahmen des Insolvenzverfahrens das Prioritätsprinzip der Einzelzwangsvollstreckung und die vorgeschilderten Wettbewerbsvorteile Einzelner zugunsten einer Gleichbehandlung der Insolvenzgläubiger kompensiert werden: staatliche Zwangsmittel werden bewusst eingeschränkt.

 

Rn 10

Die Entscheidung des Gesetzgebers für eine solche Einschränkung der Zwangsvollstreckung lässt sich aus § 131 nicht unmittelbar entnehmen, sie ergibt sich jedoch aus § 88. Diese sog. "Rückschlagsperre" soll im Falle der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens die durch Vollstreckungsmaßnahmen im Einmonatsz...

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