Rn 75
(Quasi-)Vertragliche Ansprüche gegen das Leitungsorgan können zugunsten einzelner Gläubiger nach den Grundsätzen des Verschuldens bei Vertragsschluss bzw. Sachwalterhaftung (§§ 280 Abs. 1, 311 Ab. 3 BGB) in Betracht kommen, wenn er nicht über die "Krisensituation" aufklärt. Mitunter hat die Rechtsprechung auch eine Haftung des Leitungsorgans auf einen selbständigen Garantievertrag (§ 311 BGB) gestützt, wenn dieses den Gläubiger durch fehlerhafte kreditrelevante Informationen von der Verfolgung seiner Ansprüche abgehalten bzw. diesen zum Eingehen von geschäftlichen Beziehungen mit der Gesellschaft "verleitet" hat.
Rn 76
Deliktische Ansprüche gegen das Leitungsorgan kommen aus verschiedenen Gesichtspunkten in Betracht. Eine Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB ist etwa gegenüber Sicherungsnehmern der Gesellschaft denkbar, die ihr Recht infolge der Insolvenzverschleppung einbüßen. Das Leitungsorgan kann auch im Falle einer verfrühten Antragstellung gegenüber den Anteilseignern aus § 823 Abs. 1 BGB haften, wenn man die Mitgliedschaft als absolut geschütztes Recht ansieht. § 826 BGB kann unter drei verschiedenen Gesichtspunkten in Betracht kommen: § 826 BGB ist zum einen einschlägig bei Verschleierung der wirtschaftlichen Lage der Gesellschaft gegenüber Gläubigern (Informationspflichtverletzung). Insoweit kann der Anspruch auch konkurrieren mit § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. einem Schutzgesetz (z. B. § 82 Abs. 2 Nr. 2, §§ 263, 265b StGB bzw. §§ 331 HGB ff. oder auch § 15a Abs. 4). Nach § 826 BGB haftet das Leitungsorgan auch, soweit der Gesellschaft vom Gläubiger Vermögenswerte anvertraut wurden und die (unveränderte) Fortführung der Geschäftstätigkeit erkennbar die Interessen dieser Gläubiger stark gefährdet. Ein derartiger Haftungsanspruch aus § 826 BGB kann auch mit § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 266, 14 StGB konkurrieren. Schließlich kommt § 826 BGB auch zugunsten von Geschädigten in Betracht, die vom (persönlichen) Schutzbereich des § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a Abs. 1, 2 nicht erfasst sind (siehe oben Rn. 60). Dies gilt zwar nicht zugunsten der Gesellschafter, da ansonsten die Wertung des § 199 Satz 2 umgangen würde, wohl aber für die Bundesagentur für Arbeit, die infolge von Lohnrückständen Insolvenzgeld an die Arbeitnehmer der insolventen Gesellschaft ausgezahlt hat. Das Leitungsorgan haftet ihr gegenüber nach § 826 BGB, wenn es den als unabwendbar erkannten Todeskampf der Gesellschaft (lange) hinauszögert und dadurch die Schädigung der Arbeitsverwaltung billigend in Kauf nimmt. Ein Verstoß gegen gute Sitten entfällt aber, wenn das Leitungsorgan den Antrag unterlassen hat, weil es die Krise nach den Umständen für überwindbar bzw. die Sanierungsbemühungen als lohnend und berechtigt ansehen durfte. Der Anspruch entfällt mangels Schaden, wenn die Arbeitsverwaltung Insolvenzgeld auch bei rechtzeitiger Insolvenzantragstellung hätte zahlen müssen.
Rn 77
Gesellschaftsrechtliche Haftungsansprüche zu Lasten des Leitungsorgans kommen etwa aus § 64 Satz 1 GmbHG (bzw. § 93 Abs. 3 Nr. 6 i. V. m. § 92 Abs. 2 AktG; § 99 GenG) in Betracht. Die Vorschrift ist teils weiter, teils enger als der Haftungsanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15 a. Weiter ist die Haftung, weil nach § 64 Satz 1 GmbHG (bzw. den vergleichbaren Vorschriften) das Leitungsorgan für Zahlungen auch während der Dreiwochenfrist einzustehen hat, soweit diese nicht dem Maßstab eines ordnungsgemäßen Geschäftsmannes entsprechen. Enger ist die Haftung nach den gesellschaftsrechtlichen Vorschriften insoweit, als diese nur "Zahlungen" erfasst, nicht aber sonstige Quotenschmälerungen, die etwa auf Belastung oder Minderungen der Masse mit Neuverbindlichkeiten, Schwund oder anderen Umständen (z. B. Vollstreckungen seitens der Gläubiger) beruhen. Gegenüber der Gesellschaft kommt – ein Gesellschaftsschaden vorausgesetzt – auch eine Haftung nach § 43 Abs. 2 GmbHG (§ 93 Abs. 2 AktG; § 34 Abs. 2 GenG; Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte bei einer kapitalistischen Personengesellschaft) im Falle einer Insolvenzverschleppung in Betracht. Im Falle einer verfrühten Antragstellung ist ebenso eine Haftung gegenüber der Gesellschaft nach diesen Vorschriften denkbar wie für den Fall, dass das Leitungsorgan geeignete Sanierungsmaßnahmen unterlässt.