Dr. Jürgen Blersch, Prof. Dr. Eberhard von Olshausen
Rn 5
Ein praktisch besonders wichtiger Fall eines Individualschadens, also eines Ersatzanspruchs, der nicht unter § 92 Satz 1 fällt, sondern auch während des Insolvenzverfahrens von dem jeweils betroffenen Gläubiger selbst geltend gemacht werden kann, ergibt sich aus einem Wandel der Rechtsprechung des BGH im Jahr 1994. Nach dieser geänderten Rechtsprechung umfasst der Ersatzanspruch eines sog. Neugläubigers gegen die Geschäftsführer oder Vorstandsmitglieder einer Gesellschaft wegen Insolvenzverschleppung (§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 64 Abs. 1 GmbHG oder mit § 92 Abs. 2 AktG bzw. § 130a Abs. 1, § 177 HGB) den gesamten Schaden, der ihm dadurch entsteht, dass er mit einer insolventen Gesellschaft noch kontrahiert hat, nicht nur den sog. Quotenschaden. Bei dem zu ersetzenden Schaden handelt es sich um einen Individualschaden, weil er nicht durch eine sich für alle Gläubiger oder auch nur für eine Mehrzahl von Gläubigern gleichmäßig auswirkende Masseverkürzung, sondern durch die jeweils individuellen und zu unterschiedlicher Zeit zustande gekommenen Vertragsschlüsse entstanden ist und das zu ersetzende negative Interesse von Gläubiger zu Gläubiger verschieden ist. Auch wenn die erzielbare Quote sich in der Zeit zwischen dem Vertragsschluss und der späteren Stellung des Insolvenzantrags, also infolge fortgesetzter Antragsverschleppung, weiter verschlechtert hat, handelt es sich schon deshalb um einen Individualschaden, weil das Ausmaß der jeweiligen Quotenverringerung vom Zeitpunkt der einzelnen Vertragsschlüsse abhängig ist. Mit Recht haben daher Rechtsprechung und der überwiegende Teil der Literatur die im Schrifttum vereinzelt vertretene Ansicht zurückgewiesen, den Ersatzanspruch oder die Ersatzansprüche der Neugläubiger in einen (vom Verwalter geltend zu machenden) Anspruch auf Ersatz des Quotenschadens und einem (vom Neugläubiger geltend zu machenden) Anspruch auf Ersatz eines darüber hinausgehenden Individualschadens aufzuteilen. Vielmehr kann der gesamte durch den Vertragschluss mit der bereits insolvenzreifen Gesellschaft adäquat verursachte Schaden, also auch der durch Quotenverringerung nach Vertragsschluss entstandene weitere Schaden, (nur) vom Gläubiger selbst geltend gemacht werden.
Der Schaden eines jeden Neugläubigers vermindert sich freilich um die auf seine Insolvenzforderung entfallende Quote. Daraus folgt aber nicht, dass er erst nach Ermittlung dieser Quote, also am Ende des Insolvenzverfahrens, die Differenz zwischen seiner (unvergoltenen) Leistung und der Quote gegen den Organwalter als Schaden geltend machen könnte. Vielmehr kann er sogleich unverkürzten Ersatz seines negativen Interesses verlangen, dies aber analog § 255 BGB nur Zug um Zug gegen Abtretung seiner gegen die Masse gerichteten Insolvenzforderung.
Streitig ist, ob die Insolvenzverschleppungshaftung (§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. z.B. § 64 Abs. 1 GmbHG) auch deliktische Neugläubiger schützt. Die wohl h.M. verneint dies. Dieser Meinung ist zuzustimmen, soweit es um die Gefahr geht, Opfer des Delikts einer insolvenzreifen Gesellschaft zu werden. Schutz vor einer solchen Gefahr ist schwerlich der mit der Schaffung der Insolvenzantragspflicht verfolgte Zweck. Dagegen verdienen auch die deliktischen Neugläubiger – nicht anders als die deliktischen Altgläubiger – Schutz vor einem Quotenschaden, wobei hier aber nicht die seit Beginn der Insolvenzverschleppung, sondern nur die seit Entstehung des Ersatzanspruchs eingetretene Quotenverringerung berücksichtigt wird.